Nadine Dziabel: Reziprozität, Behinderung und Gerechtigkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 19.03.2018
Nadine Dziabel: Reziprozität, Behinderung und Gerechtigkeit. Eine grundlagentheoretische Studie. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2017. 240 Seiten. ISBN 978-3-7815-2173-5. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR.
Thema
„Um Hilfe zu verweigern, ist Gewalt nötig
Um Hilfe zu erlangen, ist auch Gewalt nötig.
Solange Gewalt herrscht, kann
Hilfe verweigert werden
Wenn keine Gewalt mehr herrscht, ist
Keine Hilfe mehr nötig.
Also sollt ihr nicht Hilfe verlangen
Sondern die Gewalt abschaffen.
Hilfe und Gewalt geben ein ganzes
Und das Ganze muss veränderte werden“
(Bertold Brecht, zitiert nach Horst Frehe 2005).
Wollen Leser eine verallgemeinerte Orientierung darüber gewinnen, was sie mit der vorliegenden grundlagentheoretischen Studie um den „gerechtigkeitstheoretischen Diskurs um Menschen mit Behinderung“ (S. 209) erwartet, so sollten sie zunächst den hinteren Klappentext zur Kenntnis nehmen.
„Das Buch analysiert Reziprozität als gerechtigkeitstheoretischen Schlüsselbegriff und setzt sich kritisch mit ausgewählten Gerechtigkeitstheorien auseinander. Seit nämlich im heilpädagogischen Diskurs mit Verabschiedung der UN-BRK vermehrt wieder gerechtigkeitsethische Probleme fokussiert werden, stellen sich u.a. Fragen nach Verpflichtungen Menschen mit Behinderungen gegenüber. Die vertragstheoretische Tradition begründet Verpflichtungen mit Reziprozität im Sinne eines ausgewogenen Ausgleichs zwischen Geben und Nehmen und im Sinne einer Umkehrbarkeit von Rollen und Positionen. Da behinderten Menschen gemeinhin die Fähigkeit zur Reziprozität abgesprochen wird, lassen sich gerechtigkeitsethische Verpflichtungen ihnen gegenüber zumindest vonseiten der Vertragstheorie ohne Hinzufügung ergänzender Kriterien nicht begründen. Sie werden dort lediglich aus Solidarität, Wohltätigkeit und gar Mitleid -nicht aus Gründen gerechtigkeitsgeschuldeter Ansprüche- berücksichtigt. Dies steht im krassen Gegensatz zum Paradigmenwechsel in der Heilpädagogik und Behindertenpolitik, wo seither u.a. sozialrechtliche Richtlinien unter der Fürsorge- Kategorie kritisiert werden. Vor diesem Hintergrund skizziert das Buch Problemfelder der Reziprozität, an denen sich eine inklusive Gerechtigkeitstheorie zu bewähren hätte, und leitet daraus notwendige Elemente für eine inklusive Gerechtigkeitstheorie ab“.
Die schillernde Ambivalenz oder Widersprüchlichkeit des Begriffes von Wechsel- oder Gegenseitigkeit (Reziprozität), die die Autorin in einem Arbeitsbegriff als „internalisierte und bleibende (Erwartungs-) Erwartung, dass auf eine (Eröffnungs-) Gabe und deren Annahme eine Gegengabe erfolgt“ (S. 51) fasst, mache Reziprozität zur einer „durch Sanktionen und das Interesse an Kooperation gesteuerten Norm“ (ebenda), die Menschen, die dieser Norm zu entsprechen vermögen (ein-) und die ihr (vermeintlich) nicht entsprechen können, zwangläufig ausschließt.
Die Symmetrie der Reziprozität im Verhältnis zu Behinderung und Gerechtigkeit reiche also nicht aus und müsse um asymmetrische, präskriptive Betrachtungen im (inklusionsbezogenen) Gerechtigkeitsdiskurs erweitert und in einem unabgeschlossenen Prozess von Bewusstseinsbildung und praktischer Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse implementiert werden.
Aufbau und Inhalt
Die Studie hebt an mit einem Problemaufriss zur Reziprozität als eines „vernachlässigten gerechtigkeitstheoretischen Schlüsselbegriffs“. Aus diesem Problemaufriss gehen drei auseinander hervorgehende Fragen hervor: „(1) Welchen normativen Stellenwert hat Reziprozität in Gerechtigkeitstheorien diverser Orientierung? (2) Welche Problemfelder eröffnen sich bei einem Fehlen, bzw. einer Entbehrlichkeit von Reziprozität als elementarer Gerechtigkeitsnorm im Kontext von Behinderung? (3) Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der Darstellung der problematischen Implikationen von Reziprozität als Basiselement von Gerechtigkeit in Bezug auf Menschen mit Behinderungen für den heilpädagogischen Gerechtigkeitsdiskurs?“ (S. 14/15).
Zunächst werden den Lesern Zugänge zum Reziprozitätsbegriff (ethnologisch- anthropologisch, soziologisch/(sozial-) psychologisch, alltagstheoretisch, moralphilosophisch und politisch) eröffnet. Die darauf folgenden Kapitel 3- 5 fokussieren Reziprozität als „wirksame soziale Norm“, setzen Behinderung in deren Kontext und diskutieren Reziprozität, Behinderung und Gerechtigkeit als Spannungsverhältnis.
Eine besondere, kritisch-konstruktive, Würdigung erhält dabei das auf die US- amerikanische Philosophin Eva Feder Kittay zurückgeführte Fürsorge- oder Care-Verständnis, das „Reziprozität in Beziehungen zu Menschen mit Behinderung nicht voraussetzt“ (S. 80), sondern als „Bestandteil der sogenannten Supererogation, die nicht pflichtgeschuldetes, sondern nur geratenes, verdienstliches Handeln betrifft“ (S. 82) ansieht.
Dabei könne es auch geschehen, dass Sorgearrangements, die im Rahmen von derartigen Gerechtigkeitsüberlegungen konzipiert werden, „dazu führen, dass die vom Standpunkt eines verallgemeinerten Anderen aus konzipierte Sorge partikulare, einzigartige Bedürfnisse von konkreten Anderen leicht aus den Augen verliert“ (S. 83). Doch, wie dem auch sei- die Care- Perspektive, wie sie Kittay als mittelbar Betroffene (selbst Mutter einer Tochter mit Behinderung) versteht, bietet ein neues Verständnis von Verbundenheit an. Jeder Mensch sei das Kind einer Mutter und habe damit auch die Erfahrung fundamentaler, existenzieller Abhängigkeit gemacht. Sorge um ihrer selbst willen sei ein Wert, der ungeachtet des (verdienstlichen) Autonomiestrebens nicht hoch genug eingeschätzt werde müsse und damit die Tür für ein erweitertes Reziprozitätsverständnis öffne.
In Kapitel 7 entfaltet die Autorin Reziprozität als gerechtigkeitstheoretischen Schlüsselbegriff und diskutiert ihn entlang der bedeutenden Gerechtigkeitsmodelle von John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit; Martha C. Nussbaum: Die Grenzen der Gerechtigkeit; Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit; Eva Feder Kittay: Love´s Labor sowie Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht.
So entwickelte etwa Martha Nussbaum mit ihrem Capabilities Approach (Fähigkeiten- Ansatz) eine universale und zugleich offene Konzeption des Guten, die als Zielorientierung von Gerechtigkeitsauffassungen dienen kann und verweist damit auf einen politischen (menschenrechtlichen) Anspruch von Grundfähigkeiten, die jedes Individuum (zur Gewährleistung eines guten Lebens) geltend machen kann und zwar unabhängig davon, ob dieses die ermöglichten Capabilities auch tatsächlich einlösen oder nutzen möchte oder nicht. Es handelt sich bei der Nussbaum´schen Theorie offensichtlich um eine Theorie des „basic social minimum“, das im Prinzip jedem Menschen gewährt werden müsse.
In einem Interview der Philosophie- Zeitschrift HOHE LUFT (2015, S. 48) antwortet sie auf die Frage, inwieweit Ihr Ansatz ein Versuch sei, die Menschenrechte auszubuchstabieren:
„Ja, es ist eine Art Menschenrechtsansatz. Allerdings gibt es zwei Dinge, die ich vermeiden will. Einige Menschenrechtansätze halten Rechte nur für Barrieren gegen den Staat. Ich sehe das anders. Fähigkeiten erfordern staatliche Maßnahmen, um sie für Menschen zu verwirklichen. Zweitens machen viele Absätze eine scharfe Trennung zwischen politischen Rechten einerseits und ökonomischen und sozialen Rechten andererseits. Ich halte das für irreführend, weil es nahelegt, dass politische Freiheit und freie Meinungsäußerung keine staatlichen Maßnahmen und Mittel erfordern, aber das ist falsch. Um etwa die freie Meinungsäußerung aufrechtzuerhalten, braucht es eine Menge staatlicher Maßnahmen- zum Beispiel Gerichte. Es geht also auch um soziale und ökonomische Rechte“.
Emmanuel Levinas hingegen plädiere für eine „Ethik vom Anderen“ her und gehe von der Verletzbarkeit (Vulnerabilität) eines jeden Menschen (vgl. S. 122 f.) aus. Allein dadurch, dass der Andere mir gegenüber mit seinem Antlitz erscheint, macht er einen Anspruch an mich geltend. Dieser Anspruch sei unabhängig von dem, was er mir gibt. Der eine Antwort erfordernde Anspruch des Anderen sei unbedingt und unabweisbar und dies ungeachtet der Antwort, die gegeben wird. Aus dem Antlitz des Anderen, der Konfrontation mit der Verletzbarkeit des Anderen (seiner radikalen Andersheit) speist sich eine normative Verantwortung, der ich als Mensch gerecht werden muss. Wie immer die (meine) Antwort aussieht, sie bleibe unvollständig und mit Gewalt behaftet (vgl. dazu das in der Ein- und Hinführung angeführte Brechtzitat). Mit den je Anderen in größerer Zahl stelle sich auch hier die Frage nach deren (individuell- gerechten) Berücksichtigung und damit der Reziprozität. Reziprozität erscheint damit jedoch inkludiert und gesellschaftlich kontextualisiert im asymmetrischen Verhältnis der Verletzbarkeit eines jeden und damit der Hoffnung, dem Vertrauen auf Abhilfe (vgl. im Brechtzitat: „…das Ganze muss verändert werden“). Vielleicht liegt diese Abhilfe ja darin, vom Tausch, d.h. dem macht- und gewaltdurchdrungenen Geben (Potlatsch) – Almosen spenden und sozialrechtlich verpflichtendem Helfen zum gerechten Teilen (des gemeinsamen Gutes – vgl. dazu die Schriften Karl Polanyis) zu kommen. Mit anderen Worten: Vom Grundsatz „Jeder nach seinen Fähigkeiten- jedem nach seiner Leistung“ wäre überzugehen zu: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Marx 1972, S. 17).
Das Kapitel 8 schließlich reflektiert Behinderung auf dem Hintergrund problematischer gesellschaftlicher und kultureller Reprozitätsverständnisse (S. 129 f.). Zu diesen zählen:
- „Status als moralisches Subjekt“;
- „Gleichheit und Ungleichheit“;
- „Machtverhältnisse und Hierarchien“;
- „Solidarität und Bindung“;
- „Selbstwertgefühl und Identität“;
- „Autonomie und Abhängigkeit“;
- „Anerkennungsverhältnisse“;
- „Rechte und Pflichten“ und
- „Wertschätzung von Leistung“.
Gerade der Status als Subjekt ist es, der in moralphilosophischer Hinsicht vielfältige Fragen aufwirft. Niemand kommt dabei jedoch um die grundsätzliche Frage und Entscheidung hinsichtlich der allgemeinmenschlichen Entwicklung von Personalität oder Subjektivität herum: Entwickelt sich das je konkrete menschliche Individuum zum Menschen oder als Mensch?
Die Diskussion von Reziprozität in Relation zu Inklusion und Verletzbarkeit verdichtet die Autorin schlussendlich in Vorschlägen, „Elementen einer inklusiven Gerechtigkeitstheorie“ (Kapitel 11), mit denen sie in thesenhafter Form die Erkenntnis ihres theoriebasierten Forschungsprozesse resümiert..
Zielgruppen
Da die Studie mit der Diskussion von Reziprozität in Bezug auf Behinderung und Gerechtigkeit vorwiegend grundlagentheoretische Fragen aufwirft, empfiehlt sie sich insbesondere Student/-innen der Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften bei der Behandlung aktueller moralphilosophischer Probleme, aber auch für „gestandene“ Inklusionsforscher/-innen, Lehrende und Praktiker/-innen der Behindertenhilfe, Sozialen Arbeit und Sonderpädagogik könnte sie als „methodologische Klärungshilfe“ von Nutzen sein..
Fazit
Eine überaus anspruchsvolle, begrifflich klar und im einem anregenden akademischen Duktus formulierte Grundlagenstudie.
Literatur
- Frehe Horst (2005): Die Helferrolle als Herrschaftsinteresse nichtbehinderter „Behinderten – (Be)- Arbeiter“. URL: www.bidok.uibk.ac.at/lebrary/mabuse_frehe-helfer.html (Stand: 07.03.2018)
- Marx, Karl (1972): Kritik des Gothaer Programms. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden (Bd. 2). Dietz, Berlin (DDR)
- Nussbaum, Martha: Im Interview. HOHE LUFT kompakt 1/2015, S. 43- 49. www.hoheluft-magazin.de
- Polanyi, Karl (1979): Ökonomie und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 19.03.2018 zu:
Nadine Dziabel: Reziprozität, Behinderung und Gerechtigkeit. Eine grundlagentheoretische Studie. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2017.
ISBN 978-3-7815-2173-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22882.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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