Anke Groß-Kunkel: Kultur, Literacy und Behinderung
Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 23.08.2017

Anke Groß-Kunkel: Kultur, Literacy und Behinderung. Teilhabe verstehen und verwirklichen mit den LEA Leseklubs. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2017. 154 Seiten. ISBN 978-3-7815-2174-2. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Thema
Anke Groß-Kunkel hat die Idee der Leseklubs für intellektuell behinderte Menschen aus den USA für Deutschland adaptiert (LEA-Leseklubs des Vereins KuBus). Das vorliegende Buch ist ihre Dissertation, in der sie die theoretischen Grundlagen dazu aus Sicht der Pädagogik bzw. Kulturanthropologie erörtert, sowie eine Untersuchung, welche die Reaktionen der Zielgruppe auf die Leseklubs bezüglich deren Funktion für sie präsentiert.
Aufbau und Inhalt
Nach der Einleitung folgen im Teil I („Vorüberlegungen“) als Kapitel 1 „Erste Explorationen“ zu den Themen „geistige Behinderung“ („ein problematischer, aber unverzichtbarer Begriff“), „Kultur und Behinderung“, „Freizeitpädagogik und Erwachsenenbildung“, „Lesen und Literatur im Alltag von Menschen mit geistiger Behinderung“. Groß-Kunkel beschreibt „Kultur“ recht traditionell mit „Kunst und Literatur, Musik und Theater, Tanz und Oper, aber auch Kino, Musicals und Fernsehen“ (S. 9). Sie begründet das damit, dass sie sonst nicht gut über die Teilhabe intellektuell behinderter Menschen an Kultur schreiben könne, etwa, wenn alles als „Kultur“ angesehen werde (S. 20). Für die einzelnen Bereiche werden Forschungsstand und -desiderate kurz beschrieben.
In Kapitel 2 entwickelt die Autorin nach einer Einführung in verschiedene Formen der Hermeneutik die Praxeologische Hermeneutik als ihre Dilthey folgende Methodik, die zugleich auch als eine „anthropologisch akzentuierte Erkenntnistheorie“ (S. 83) verwendet werden soll: „Praxeologische Hermeneutik .. geht von der Grundannahme aus, dass Menschen mit Behinderung wie jeder andere Mensch auch die sinnlichen Eindrücke, die sie empfangen, weiterverarbeiten, indem sie diese intuitiv und unmittelbar in Bezug zu ihren Bedürfnissen setzen und ihnen somit Bedeutung verleihen. Das, was Menschen mit Behinderung erleben und sinnlich erfahren, .., wird von ihnen .. in ständigen und intuitiven Akten der Sinngebung bewertet – und es sind diese Akte der Sinngebung, die ihr Handeln bestimmen: Menschen mit Behinderung handeln, weil sie einer Sache Sinn als für sie Bedürfnisrelevantem verliehen haben.“ (S. 42). Die Praxeologische Hermeneutik ist die methodische Grundlage der vorliegenden Arbeit. Die Autorin stellt klar, dass es ihr vorrangig um die „originäre Sinnhaftigkeit der sozialen und kulturellen Praktiken“ geht, „die Menschen mit Behinderung ausüben“ und weniger um das „Text-Verstehen“, das im Leseklub ja ebenfalls eine wichtige Rolle spielt: „Praxeologische Hermeneutik bringt demnach eine spezifische erkenntnistheoretische Perspektive mit sich, … Sie ist eine Hermeneutik, deren eigentliches Erkenntnisinteresse nicht auf das Sinn-Verstehen von Aussagen abzielt, sondern auf das Verstehen der Sinn-Handlungen von Menschen mit Behinderung (obgleich dieses Verstehen nicht ohne das Verstehen von Sinn-Aussagen möglich ist, denn das Material der behinderungspädagogischen Forschung sind in der Regel Texte: Interviews, Beobachtungsprotokolle, Notizen usw.)“ (S. 42f). Auf S. 47 findet sich ein Schema zur Methodik der Arbeit, die auch kontrollierte Auswertungsschritte für die Daten nach Barton & Hamilton enthält. Im Anschluss werden noch die teilnehmende Beobachtung und die Interviewmethode beschrieben.
Teil II („Vorverständnisse“) beschreibt die Praxis des „New Chapter Book Club“ in den USA (Kapitel 3) und den Transfer von dessen Konzept nach Deutschland (Kapitel 4). Die Ziele der Initiative in den USA waren gesellschaftliche Inklusion und die Aktivierung der behinderten Menschen, indem man ihnen – den Ansätzen von „Empowerment“ folgend – Lern- und Kommunikationsmöglichkeiten anhand des gemeinschaftlichen Lesens verschaffte. Die Autorin gibt einen Einblick in Geschichte und verschiedene Perspektiven der Empowerment-Bewegung. Bezüglich der Praxis des New Chapter Book Club kritisiert sie, dass diese „teilweise auf normativen, missionierenden Vorstellungen basiert, indem sie Menschen mit Behinderung aus ihrer sozialen oder gesellschaftlichen Situation heraus als defizitäre ‚Mängelwesen‘ definiert, die es zu empowern gilt. So werden genau jene Machtbeziehungen wieder hergestellt, die die New Chapter Book Clubs an sich gerade überwinden wollte.“ (S. 73)
In Kapitel 4 werden die Entstehungsgeschichte der LEA Klubs sowie die im Transfer von den USA aufgetretenen Unterschiede und die sich daraus ergebenden Veränderungen bzw. Entwicklungen beschrieben: Einerseits war es in Deutschland viel schwieriger, ehrenamtliche Moderator_innen zu finden, andererseits wurden die zuerst eingesetzten Lesetexte als nicht erwachsenengerecht kritisiert. Im Gegensatz zu den „verschulten“ Klubs in den USA wurden die deutschen Leseklubs als „inklusives Freizeit- und Bildungsangebot“ bzw. als „Haus der Teilhabe“ definiert, in dem die Teilnehmer_innen z.B. auch eine Schreibwerkstatt angeboten bekommen. Trotz des Erfolgs der LEA Leseklubs, die nun etwa 10 Jahre bestehen, äußert die Autorin Kritik: „Kritisch anzumerken ist hier allerdings, dass weder die beiden verwendeten Bildungs- und Kulturbegriffe für die LEA Leseklubs theoretisch reflektiert wurden, noch gründete ihre Verwendung auf entsprechenden Befragungen von Menschen mit Behinderung. Vielmehr wurden beide Begriffe vor allem aus den gängigen behindertenpolitischen Leitvorstellungen und Teilhabeansprüchen der Sozialgesetzbücher und der UN-Behindertenrechtskonvention hergeleitet, sowohl eine metatheoretische Auseinandersetzung mit diesen Begrifflichkeiten als auch eine Begriffsentwicklung 'vom Menschen aus' blieb dabei aber aus.“ (S. 83)
Dieses Defizit will die Autorin mit Teil III („Vertiefungen“) beseitigen. Hier interpretiert sie das „Lesen im LEA Leseklub“ kulturanthropologisch (Kapitel 5), indem sie Cassirers kulturphilosophischen Ansatz auf die „Potentiale für die Behindertenpädagogik“ anwendet und schließlich „Lesen als sinnstiftende Handlung“ sieht: „Entgegen weitverbreiteter Annahmen können wir deshalb bei Menschen mit geistiger Behinderung sehr wohl ein grundlegendes kulturelles Lese- und Literaturbedürfnis beobachten, das sich aus dem übergeordneten Symbolisierungsbedürfnis ableitet ..“ (S. 93) Dieses Bedürfnis findet die Autorin in entsprechenden Zitaten aus den Interviews bestätigt.
Kapitel 6 („Lesen in soziokultureller Perspektive: Der LEA Leseklub als Literacy-Ereignis“) deutet „Literacy“ umfassend und beschreibt die „Theorie einer sozialen Literacy“: „Literacy als Gefüge von sozialen Praktiken“ (S. 118). Auch diese Sicht belegt Groß-Kunkel mit Interviewäußerungen („Literacy als soziale Beziehung“, „als soziokulturelle Teilhabe“). Anhand eines Zitats von Barton & Hamilton wird auch die Frage der Macht in sozialen Literacy-Beziehungen angesprochen: „Literacy practices are patterned by social institutions and power relationships, and some literacies are more dominant, visible and influenced than others.“ (S. 129, gefolgt von entsprechenden Äußerungen der interviewten Leseklubteilnehmer). Als Fazit folgt „Der soziale Sinn des LEA Leseklubs“, das ist die Herstellung verschiedener sozialer Beziehungen durch die Leseklubs.
Teil IV („Folgerungen“) enthält Kapitel 7 („Schluss“) als Zusammenfassung. Dem folgen ein Literatur- und Abbildungsverzeichnis.
Diskussion
Das Thema und die der Untersuchung zugrundeliegende Praxis sind äußerst wichtig, weil es hier um die Schaffung von Zugang zu schriftlichen Texten für eine besonders benachteiligte Gruppe von Menschen geht. Die Autorin weist mehrfach darauf hin, dass auch intellektuell behinderte Menschen so funktionieren wie andere Menschen. Dieser Hinweis ist vielleicht tatsächlich nötig, um die Aktivitäten der Autorin vor einer Gesellschaft zu rechtfertigen, in der diese Menschen oft abgewertet werden.
Die Methode der Untersuchung ist gut durchdacht und angemessen. Kritisch sehe ich die der Theorie der Autorin zugrundeliegenden Ansätze und die Verwendung des Begriffs der „geistigen Behinderung“.
Zur Beibehaltung des Begriffs der „geistigen Behinderung“, der einmal veraltete Begriffe wie „Idiotie“ und „Schwachsinn“ ersetzte und nun selbst etwas veraltet wirkt, zitiere ich einen meines Erachtens begründeten Alternativvorschlag: „Die Einschränkungen in diesem Personenkreis, wie beispielsweise bei Menschen mit Down-Syndrom, kennzeichnen sich insbesondere durch Einschränkungen in Bereichen, wie dem abstrakt-logischen Denken, den analytischen Fähigkeiten, dem numerischen Umgang im höheren Zahlenbereich, dem Generalisierungsvermögen und beispielsweise der Strategieentwicklung, d.h. in intellektuell-kognitiven Bereichen, .. In vielen anderen ‚geistigen‘ Bereichen, zeigen diese Personen Fähigkeiten, die, wenn adäquat gefördert, zu bewährten Kompetenzen heranwachsen, wie etwa soziale und berufliche Kompetenzen. Weiter ist bekannt, dass viele dieser Personen differenzierte geistige Interessen zeigen, die die Grundlage für ein aktives und gleichberechtigtes Leben in unserer Gesellschaft darstellen. Mit der Bezeichnung intellektuelle Behinderung oder intellektuell-kognitive Beeinträchtigung werden die zentralen Einschränkungen hervorgehoben, ohne dass dabei sämtliche ‚geistige‘ Bereiche die menschliches Leben kennzeichnen, als behindert bezeichnet werden. Zugleich aber muss bei Behinderungen, insbesondere bei schweren Formen von Behinderung, ein besonders hohes Maß der Assistenz beibehalten und sogar verstärkt werden, ..“ (www.ots.at)
Die Praxeologische Hermeneutik der Autorin hat mit dem „practice turn“ in den Sozialwissenschaften zu tun (vgl. Schatzki, Knorr Cetina, von Savigny (eds.): The practice turn in contemporary theory. London/New York 2001) – einem neben anderen „turns“, nämlich dem „cultural“, dem „linguistic“ und dem „narrative turn“. Diese müssten alle kritisch, gerade bezüglich der Handlungsgrundlagen der sie betreibenden Wissenschaftsgruppen hinterfragt werden. Im „practice turn“ werden vor allem Alltagshandlungen – inklusive wissenschaftlicher – nach den ihnen zugrundeliegenden kognitiven Schemata befragt, die z.T. auch an den Körper gebunden sind („embodiment“). Gerade mit diesem Herangehen wäre aber auch eine eher kritische Haltung zu den vielen Begriffen, Konzeptionen und Modellen, welche die Autorin vorstellt bzw. zitiert, zu erwarten. Das ist leider nicht der Fall. Vielmehr werden Dilthey und Cassirer ohne jede Distanz herangezogen (zu Dilthey vgl. etwa Prange: Schlüsselwerke der Pädagogik, Band 2. Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 112-115), während z.B. keine Bezüge zu Kognitionswissenschaften, jüngerer Sprachphilosophie oder Zeichentheorie hergestellt werden. Eine einschlägige Wissensbereiche so eingeschränkt nutzende Pädagogik erscheint damit auch heute immer noch – entgegen den vielen zitierten Arbeiten aus jüngster Zeit – wie eine etwas abgehobene und verspätete Philosophie der Praxis von Bildung und Erziehung. Ohne eine schon länger notwendige kritische sprachphilosophisch-linguistische Haltung zu Sprache übernommen zu haben, ist sie – eigentlich auch gegen Cassirers Ansatz – noch immer bemüht, alles und jedes mit einer Definition zu versehen. Ein Beispiel dafür sind die Diskussionen zu den Begriffen „Kultur“ (Abschnitt 1.2.1), „Bildung“ (Abschnitt 1.3.3) bzw. zu „Literacy“ (Kap. 6). Die unhinterfragte, praktisch absolut gesetzte Orientierung des Ansatzes an den „Bedürfnissen“ der Zielgruppe gehört ebenfalls hierher. Nicht ausführlich angesprochen wird die Ethik der Behinderteninklusion, welche sicher kein praxeologisch unwichtiger Faktor ist (anders ausgedrückt: Paulo Freire hat keine so umfangreichen kulturanthropologischen Überlegungen für seine Bildungsarbeit gebraucht). Hätte Anke Groß-Kunkel den Ansatz Cassirers ernstgenommen, hätte sie außerdem die über intellektuell behinderte Menschen verbreiteten „Mythen“ kritisch behandeln müssen. Es entsteht ein unauflöslicher Widerspruch zwischen den eigentlichen Anforderungen der praxeologischen Hermeneutik nach der Rekonstruktion wissenschaftlicher Handlungsmuster und dem ahistorischen Festhalten an kontextuell ungedeuteten Ansätzen von Dilthey und Cassirer.
Problematisch sehe ich auch den immer extensiveren Gebrauch des Wortes „Literacy“, dem die Autorin folgt. Mit dem – der Literatur entnommenen, unkritischen – Gebrauch, den die Autorin von ihm macht, ersetzt er als Begriff sowohl jede Art von „Kompetenz“, als auch gleichzeitig das erworbene Wissen und die Bildung eines Menschen. Damit kann er ohne erklärende Zusätze nicht mehr differenzierend eingesetzt werden. Das ist speziell bei der Formulierung pädagogischer Ziele fatal.
Schließlich ist die Überschrift zu Abschnitt 3.2 „Empowerment – ein normativer Ansatz“ irreführend: Dass die Autorin dem New Chapter Book Club vorwirft, teilweise normativ zu arbeiten, kann nicht der gesamten Empowerment-Bewegung vorgeworfen werden.
Fazit
Die Leistung der Autorin, die LEA Leseklubs eingeführt zu haben, ist sehr hoch einzuschätzen, auch, dass sie die Thematik in die wissenschaftliche Diskussion bringt. Die Untersuchung mit den Teilnehmer_innen der Leseklubs ist deshalb interessant und wichtig, weil die positive Funktion der Leseklubs an sozial orientierten Texten gezeigt wird und weil die Interviewten dort auch metakommunikative Überlegungen präsentieren können. Die theoretische Grundlegung durch Dilthey und Cassirer erscheint dagegen zweifelhaft, ebenso die Verwendung des Begriffs „Literacy“, welche der gerade herrschenden Mode der Sprachverwendung folgt. Für die Praxis und die – unausgesprochene – Ethik der Inklusion ist das Buch aber jedenfalls lesenswert.
Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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