Raphael Zahnd: Behinderung und sozialer Wandel
Rezensiert von Prof. Dr. Marion Möhle, 12.11.2018
Raphael Zahnd: Behinderung und sozialer Wandel. Eine Fallstudie am Beispiel der Weltbank. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2017. 263 Seiten. ISBN 978-3-7815-2163-6. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR.
Thema
Der Zusammenhang von Behinderung und sozialer Wandel ist in den Sozialwissenschaften schon oft thematisiert worden, allerdings noch selten im globalen Kontext. Nicht nur dieses Unterfangen ist innovativ, sondern auch die Herangehensweise dieser Studie, die die Konstruktion von Behinderung aus weltgesellschaftlicher Perspektive in den Blick nimmt.
Autor
Raphael Zahnd ist seit 2018 Professor für Inklusive Didaktik und Heterogenität an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Entstehungshintergrund
Das Werk ist vom Autor im Jahr 2016 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Fach Sonderpädagogik vorgelegt worden.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Das erste Kapitel bildet zugleich die Einleitung und beginnt mit der vermeintlich einfachen Frage „Wissen Sie, was eine Behinderung ist?“. Ausgehend von dieser Frage löst der Autor gleich Ernüchterung bei den LeserInnen aus, indem er verdeutlicht, dass das Buch diese Frage nicht beantworten wird. Ausgehend von der Überlegung, dass Behinderung immer wieder neu diskursiv konstruiert wird, will der Autor empirisch untersuchen, wie diese diskursiven Konstruktionen entstehen und sich wandeln. Als Untersuchungsgegenstand wählt er die Weltbank, die für ihn als Chiffre für die Weltgesellschaft steht. Methodisch soll der Wandel des Behinderungsbegriffes in globaler Perspektive auf der Basis einer Dokumentenanalyse geleistet werden, wobei diese mit einem Verfahren aus den Digital Humanities, dem sog. Topic Modeling, geleistet werden soll. Die empirische Analyse soll drei Forschungsfragen beantworten (S. 20):
- Wie wird Behinderung innerhalb der Dokumente der Weltbank konstruiert?
- In welchen Kontexten ist die Entstehung neuer Perspektiven zu verorten?
- Welcher Möglichkeitsraum eröffnet sich dabei für Menschen mit Behinderung?
Das zweite Kapitel bezeichnet der Autor selbst als Theorieteil. Hier wird zunächst die Forschungsperspektive erläutert, die für die Studie zugrunde gelegt wird. Dabei ist bedeutsam, dass der Ansatz von Raphael Zahnd bewusst nicht normativ ist, sondern eine diskursanalytische Perspektive i.S. Foucaults einnimmt. Dies erlaubt es dem Autor, keine(s) der bereits existierenden Modelle oder Theorien zu Behinderung zu bewerten. Im weiteren Verlauf dieses zweiten Kapitels werden drei für die Dissertation bedeutsamen Elemente, nämlich Behinderung, sozialer Wandel und die Weltbank erläutert und aufeinander bezogen. Für das Thema Behinderung werden die wichtigsten Modelle der Behinderung (Individuelles, Soziales und Relationales Modell) vorgestellt sowie der Wandel des Behinderungsverständnisses im Zeitverlauf diskutiert. Daran im Anschluss werden aus einer globalen Perspektive weltregionale Differenzen des Behinderungsverständnisses in den Fokus genommen. Dabei geht es vornehmlich um die Unterschiede einer westlichen vs. einer nicht-westlichen Perspektive, wobei auch auf innereuropäische Differenzen eingegangen wird. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels begründet der Autor, warum er sich für die Weltbank als Untersuchungsgegenstand entschieden hat. Dass die Weltbank die wichtigste Entwicklungsorganisation im globalen Kontext darstellt, stellt für ihn einen hinreichenden Grund dar – und natürlich die Tatsache, dass das Dokumentenarchiv der Weltbank eine breite Basis für die empirische Untersuchung darstellt. Dabei geht es nicht um die Untersuchung der Weltbank als Organisation und ihre Einstellung zu Behinderung, sondern um die Dokumente im Archiv der Weltbank als Repräsentanten eines globalen Diskurses. Dies erlaubt es aus der Sicht des Autors, Behinderung in weltgesellschaftlicher Perspektive zu erfassen.
Im dritten Kapitel wird die Forschungsmethodik erläutert, die auf einer Dokumentenanalyse beruht. Dabei stellt Raphael Zahnd zunächst die Datenbasis seiner Studie vor, die auf Dokumenten des im Internet öffentlich zugänglichen Archivs der Weltbank beruht. Die dort auffindbaren Dokumente hat der Autor für die empirische Auswertung mittels eines nach verschiedenen Kriterien zusammengestellten Korpus ermittelt. Dabei ist dieser Korpus nach drei Elementen erschlossen worden. Zunächst wurde ein Subkorpus Diversity gebildet, in dem die Dokumente nach zeitgenössischen Begriffen zum Thema Behinderung durchsucht wurden. Ein zweiter Subkorpus hat dies mit historischen, d.h. heute nicht mehr verwendeten Begrifflichkeiten, unternommen, während mit dem dritten Subkorpus nach medizinischen Kategorien vorgegangen wurde. Damit hat sich der Autor letztlich einen Datenbasis von rund 5000 Dokumenten geschaffen, die er mit einem in den Digital Humanities entwickelten Analyseverfahren ausgewertet hat. Dieses Verfahren, das Topic Modeling mit dem Ansatz des sog. Latent Dirichlet Allocation-Verfahrens. Dieses Verfahren erlaubt es, auf der Basis von spezifischen Algorithmen, Wortverteilungen in einer großen Anzahl von Texten zu ermitteln. Neben diesem Verfahren hat der Autor noch Verfahren des Text Minings sowie in exemplarischer Weise die qualitative Dokumentenanalyse zum Einsatz gebracht.
Das vierte Kapitel erläutert auf nahezu 130 Seiten die empirischen Ergebnisse und liest sich stellenweise recht mühsam. Dies war dem Autor wohl selber bewusst, weswegen er schon eingangs anmerkt, dass zum Verständnis der Studie die Lektüre des theoretischen Kapitels sowie des Schlusskapitels ausreicht, in dem alle Ergebnisse zusammenfassend dargestellt werden.
Dieses fünfte Kapitel ist dann auch tatsächlich so gestaltet, dass die zentralen Erkenntnisse der Studie knapp und gut lesbar knapp zusammengefasst werden. Die Präsentation der Ergebnisse erfolgt strukturiert entlang der drei eingangs formulierten Forschungsfragen. Dabei zeigt Raphael Zahnd auf, wie sich der noch in den 70er Jahren extrem negative Blick auf Behinderung innerhalb der Weltbank gewandelt hat. Diese Sichtweise beschreibt der Autor sehr drastisch: „Behinderung (wird) aus einer ökonomischen Perspektive höchstens der gleiche Wert wie dem Tod zugeschrieben, denn Menschen mit Behinderung gelten nicht nur als unproduktiv, sondern verursachen zusätzlich Kosten.“ (S. 228) Diese Sichtweise ändert sich zögerlich in den darauffolgenden Jahrzehnten, bis es dann in den 2000er Jahren zu einer „ganzheitlichen Neupositionierung zum Thema Behinderung“ (S. 231) kommt und Inklusion mit der ökonomischen Denkweise der Weltbank in Einklang gebracht wird. Als höchst problematisch erachtet der Autor, dass die Weltbank unhinterfragt westliche Konzepte von Behinderung übernimmt, ohne deren hegemoniale Rolle zu hinterfragen. Daraus leitet Raphael Zahnd die Forderung an die internationale Sonderpädagogik ab, die globale Vielfalt der Konzepte von „Behinderung“ systematisch zu beforschen und so ein Gegengewicht zur westlichen Perspektive zu entwickeln.
Diskussion
Das Thema des Buches – Behinderung und Sozialer Wandel – ist auf den ersten Blick ein wohlvertrauter Topos. Aber dies in einen globalen Kontext zu stellen, ist ein Unterfangen, das sehr ambitioniert und auch höchst bedeutsam ist. Allerdings erscheint es doch gewagt, die Weltbank als Repräsentantin der Weltgesellschaft zu postulieren, insofern hier ja nur ein sehr begrenzter gesellschaftlicher Ausschnitt vertreten ist. Dies ist eine der Hauptkritiken an diesem Buch. Abgesehen davon handelt es sich um ein spannendes Thema, das mit einer innovativen Methode beforscht wird, die der Autor gut darstellt.
Fazit
Das Buch ist aus zweierlei Perspektiven zu beleuchten: zum einen ist es als klassische Dissertation eine Forschungsarbeit, die sich durch beeindruckenden Detailreichtum und eine komplexe Methodik auszeichnet und so sehr positiv zu bewerten ist. Die Herangehensweise und daraus gewonnenen Erkenntnisse sind für die Sonderpädagogik und die Disability Studies höchst relevant. Auf der anderen Seite ist es gerade die Komplexität der empirischen Methode, die die Lektüre des Buches erschwert. Und sicherlich lässt sich auch darüber diskutieren, inwieweit das Dokumentenarchiv der Weltbank repräsentativ für die Weltgesellschaft steht.
Rezension von
Prof. Dr. Marion Möhle
Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
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Zitiervorschlag
Marion Möhle. Rezension vom 12.11.2018 zu:
Raphael Zahnd: Behinderung und sozialer Wandel. Eine Fallstudie am Beispiel der Weltbank. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2017.
ISBN 978-3-7815-2163-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22888.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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