Dieter Kreft, Ingrid Mielenz (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 26.03.2018

Dieter Kreft, Ingrid Mielenz (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 8., überarbeitete Auflage. 1192 Seiten. ISBN 978-3-7799-3163-8. 68,00 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-3869-9 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Hat ein Wörterbuch – über die Verständigung zum Gegenstand hinaus – einen eigenen thematischen Rahmen, außer einen Katalog von Begrifflichkeiten darzustellen, dem zum (Selbst-) Verständnis und dem Verstehen einer Profession oder Disziplin erforderlich ist? 1979 schrieben Ingrid Mielenz und Dieter Kreft dazu im Vorwort zur ersten Auflage des Wörterbuchs, materielle und immaterielle (gesellschaftliche) Selektionsmechanismen (z.B. Arbeitslosigkeit, Leistungs- und Konkurrenzdruck) erzeugten „Probleme, die für Sozialarbeit/Sozialpädagogik unmittelbar spürbar werden. In dieser Situation darf sich Sozialarbeit/Sozialpädagogik nicht auf Defizitausgleich und Hilfen im Einzelfall beschränken“. Ihre Aufgabe sei es also, „unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen sozialer Ungleichheit Partei (zu) ergreifen und über traditionelle Arbeitsgelder hinauswirken, um zur Verbesserung von Sozialisations- und Lebensbedingungen beizutragen“. Schon damals stand ein auf Integration abzielender Aspekt für die Stichwortsammlung leitend im Vordergrund. Von „einem offensiven Anspruch und Selbstverständnis abgeleitet“ und von der Erkenntnis getragen, dass „eine auf sich bezogene, sich mit sich selbst beschäftigende Sozialarbeit/Sozialpädagogik kaum wirksame Hilfe zu leisten vermag“, gehe es nicht um Abgrenzung, „sondern Integration pädagogischer sozialer Arbeit in Aufgabenbereiche wie z.B. Gesundheitswesen, Arbeit und berufliche Bildung, Schule u.a. m.“ In diesem „gesellschafts- und fachpolitischen Bezugsrahmen“ wollte das Wörterbuch also immer schon einen Beitrag leisten und „in kritischer Auseinandersetzung mit den historischen Entwicklungen, theoretischen, methodischen und rechtlichen Grundlagen, den Zielen, Aufgaben und Perspektiven Studenten und Praktiker informieren und anregen.“
Das Wörterbuch steht damit seit 1980, als es erstmals erschien, für eine offensive, einmischungsorientierte Sozialarbeit und Sozialpädagogik, die sich schließlich im Begriff von der „Sozialen Arbeit“ zusammenfindet. Erstmals wird dies in der vorliegenden achten Auflage auch mit einem Etikett ausgestattet: „Nürnberger Schule“ heißt das entsprechende Stichwort (S. 685f), und die Nürnberger Schule sei es, die „im Kern … eine pragmatische, theoriezugewandte, sozialadministrative und rechtliche Vorgaben akzeptierende Konzeptualisierung der Praxis Sozialer Arbeit (favorisiert)“ und als deren „wesentliche ProtagonistInnen“ die Herausgeberin und der Herausgeber des Wörterbuchs selbst anzusehen sind: Ingrid Mielenz und Dieter Kreft.
Herausgeberin und Herausgeber
Dieter Kreft ist Dipl.-Pädagoge und war von 1971 bis 1981 Senatsdirektor (Staatssekretär) beim Senator für Familie, Jugend und Sport in Berlin und anschließend Leiter bzw. Geschäftsführer des SPI (Berlin), der ISKA gGmbH (Nürnberg) und des ISS e.V. (Frankfurt/Main); er ist Honorarprofessor an der Leuphana-Universität Lüneburg.
Ingrid Mielenz ist Dipl.-Soziologin; von 1987 bis 2004 war sie berufsmäßige Stadträtin für Jugend, Familie und Soziales in Nürnberg, gehörte 15 Jahre dem Vorstand der AGJ und dem Kuratorium des DJI an. Bis 2005 war sie Vorsitzende des Bundesjugendkuratoriums.
Vorauflagen und andere Nachschlagewerke
Das auf Ausbildung und Praxis gleichermaßen bezogene Werk verspricht mit den Worten des Verlags, als Nachschlagewerk und zugleich als eine Einführung zuverlässig Auskunft über Ziele, Aufgaben, Arbeitsfelder und Methoden der Sozialen Arbeit zu geben.
Frühere Auflagen haben Peter Bünder:
- Rezension zur 5. Auflage; www.socialnet.de/rezensionen/3291.php;
- Rezension zur 7. Auflage www.socialnet.de/rezensionen/13087.php und
und Ulrike Urban-Stahl
- Rezension zur 6. Auflage www.socialnet.de/rezensionen/6604.php
besprochen. Eine vergleichende Schau von der ersten bis zur siebten Auflage hat Alfons Limbrunner vorgelegt:
Überwiegend in der Rezeption als „Standardwerk“ gekennzeichnet, wird das Wörterbuch zur „Trias der Wörterbücher der Sozialen Arbeit“ gezählt, gemeinsam mit dem vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge in 8. Auflage herausgebrachten „Fachlexikon der Sozialen Arbeit“ (www.socialnet.de/rezensionen/21717.php und www.socialnet.de/rezensionen/22501.php) und dem von Hans-Uwe Otto und Hans Thiersch in 6. Auflage 2018 herausgegebenen „Handbuch Soziale Arbeit“ (www.socialnet.de/rezensionen/23789.php).
Änderungen der Neuauflage
Seit der 7. Auflage, schreiben Ingrid Mielenz und Dieter Kreft im Vorwort, „haben sich weitere (nicht unbedingt ganz neue) Differenzierungen in der fachlichen Entwicklung der Sozialen Arbeit ergeben“, zum Beispiel im Kinderschutz mit den frühen Hilfen, der frühkindlichen Bildung der Thematisierung von Bildung, Integration und Inklusion als Zielsetzungen in (fast) allen Aufgabenfeldern oder der Neudefinition des Pflegebegriffs in der Altenhilfe (S. 9).
Die Übersicht der 180 Stichwort-Verfasser*innen (Seite 1161-1178) verdeutlicht, dass auch an der achten Auflage des Wörterbuchs nicht nur eine große Zahl an Autor*innen mitgewirkt hat, die in der Sozialen Arbeit „Rang und Namen“ haben, darunter auch zahlreiche sozialpolitische und akademische Akteure aus der Stadt Nürnberg, deren Kommunalverwaltung, Hochschulen und Umfeld. Sie macht auch deutlich, dass der Kreis an Autor*innen auch diese Differenzierungen in der fachlichen Entwicklung Sozialer Arbeit abbildet.
Die ursprüngliche Grundidee, dass Soziale Arbeit von ihrer Funktion und Aufgabe als Querschnittsaufgabe zu denken ist, wurde dabei auch in der achten Ausgabe konsequent beibehalten. Daher werden nicht nur die „klassischen“ Gegenstände, Aufgaben und Problemstellungen der Sozialen Arbeit behandelt, sondern auch Bezug genommen auf die Referenzdisziplinen wie Soziologie, Erziehungs- und Politikwissenschaft, Psychologie, Recht, Kommunikations-, Gesundheits- und Wirtschaftswissenschaften. Damit liegen auf 1.191 Seiten (die 7. Auflage war 1.085 Seiten umfangreich) 299 Beiträge mit einem Manuskriptstand November 2016 vor (wobei die Literaturlage ganz überwiegend bis 2015 abgebildet ist).
Die angedeuteten Differenzierungen in der fachlichen Entwicklung bilden sich auch in den erkennbaren Aktualisierungen des Wörterbuchs am. So wurden z.B. die (noch in der 7. Auflage behandelten) Stichworte „Curriculum (Entwicklung)“, „Erholungsmaßnahmen“ und „Sonderpädagogik“ gestrichen. Andere Stichworte sind zwar verschwunden, finden sich aber an anderer Stelle integriert, so „Dritter Sektor“ (nun unter dem Stichwort „Wohlfahrtsverbände“ behandelt), „Koedukation“ und „kompensatorische Erziehung“ (beide nun unter „Erziehung“ erfasst), „Mütterzentren“ (Familienselbsthilfe), „Nichteheliche Lebensgemeinschaft“ (nun sowohl unter „Familie“, „Familienpolitik“ und „Familienrecht“ wie unter „Soziale Arbeit in Österreich“ zu finden) und „Sozialtherapie“ (Sozialmedizin).
Der Verzicht auf eine Darstellung zum (fachlich als überholt anzusehenden) Konzept der kompensatorischen Erziehung macht zugleich auch deutlich, dass das Wörterbuch vor der Verabschiedung alter Modebegriffe nicht Halt macht.
Neu in das Wörterbuch eingefügte Begriffe sind
- „Alkoholismus“ (Wolfgang Heckmann, S. 58-62),
- „Inklusion“ von Bernd Ahrbeck und Ulrike Fickler-Stang (S. 486-489),
- „Nürnberger Schule“ (Yippo F. P. Eloht, S. 685f) und
- „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ von Klaus Schäfer (S. 1045-1047)
Andere Begriffe wurden modifiziert, so z.B.
- „Ausländer- und Asylrecht“ von Stephanie Schäfer (S. 142-151, ein Beitrag, der – bemerkenswert – sogar schon Literatur aus dem [frühen] Jahr 2017 ausweist) und
- „Beratung für Bildung, Beruf und Beschäftigung (BIBB-Beratung)“ von Karen Schober (S. 180-187).
Einige Beispiele erlauben einen Einblick in den Aktualisierungsgrad des Wörterbuches:
- Das Stichwort „Kinder- und Jugendhilfe“ (Verfasser ist Erwin Jordan) wurde teilweise aktualisiert, der Abschnitt „Begriff und Gegenstand“ erweitert und der Abschnitt „Ausblicke“ ergänzt, ansonsten ist der Beitrag gegenüber der siebten Auflage weitgehend identisch; die aktualisierte Literaturübersicht endet 2015.
- Das von Heiner Keupp verfasste Stichwort „Empowerment“ ist nahezu vollständig identisch mit dem Text der siebten Auflage; die Literatur wurde auf den Stand des Jahres 2016 gebracht.
- Ingrid Mielenz und Werner Wüstendörfer haben das Stichwort „Armut“ insbesondere durch die Integration aktueller Daten zur Armutssituation auf den neuesten Stand gebracht und ihren Text um Ausführungen zur Armutsberichterstattung und zum 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erweitert, während die Ausführungen zur Geschichte der Armut weitgehend identisch geblieben sind; der Literaturstand endet 2015.
- Das von Rudolph Bauer abgefasste Stichwort „Wohlfahrtsverbände“ weist lediglich kleinere textliche Anpassungen auf; die im Text genannten Daten zur Beschäftigungssituation und den Einrichtungen der Wohlfahrtspflege wurde aktualisiert, der ergänzte Literaturstand schließt 2015 ab.
- Die beiden von Dieter Maly verfassten Stichworte „Obdachlosenhilfe“ (S. 685-689) und „Wohnungslosenhilfe“ (S. 1102-1105) haben nur kleinere Änderungen erfahren; während der Beitrag zur Obdachlosenhilfe um eine Passage zur Flüchtlingszuwanderung erweitert wurde, weist der Beitrag zur Wohnungslosenhilfe vor allem Aktualisierungen der Daten zur Betroffenheit durch Wohnungslosigkeit auf. Der Literaturstand zur Obdachlosenhilfe ist unverändert geblieben, der zur Wohnungslosenhilfe um zwei Beiträge aus 2012 und 2016 ergänzt worden.
Zielgruppen
Ganz unzweifelhaft ist das vorliegende Wörterbuch in erster Linie eine wichtige Quelle fachlicher Information für in der beruflichen Praxis tätige Fachkräfte der Sozialen Arbeit und Student*innen der relevanten Disziplinen.
Diskussion
Im Lichte der genannten Aufgaben- und Zielstellung ergeben sich eine Reihe begrifflicher Fragen an die aktuelle Ausgabe des Wörterbuchs:
- Fraglich bleibt z.B., warum Resilienz noch immer nur unter dem Stichwort „Empowerment“ und Salutogenese unter „Gesundheitshilfe“ behandelt wird, während Ökonomisierung dem Stichwort „Sozialwirtschaft“ zugeordnet bleibt. Auch der für weite Teile der Sozialen Arbeit schwingend relevante Begriff der „Aktivierung“ wird lediglich als Aktivierender Sozialstaat unter dem Stichwort „Sozialstaat“ behandelt und das für die Soziale Arbeit wachsend relevante Konzept des capability approach taucht nicht als eigenes Stichwort auf, sondern es wird lediglich unter den Stichworten „Empowerment“ und „Geriatrie“ (sic!) miterfasst.
- Kritisch zu diskutieren wäre zum Beispiel, ob die lediglich bescheiden ergänzten und im Literaturstand erweiterten Begriffe „Obdachlosenhilfe“ und „Wohnungslosenhilfe“ in einer neunten Auflage sinnvollerweise zusammengeführt werden könnten.
- Noch fehlen so mächtige und für die Entwicklung der Sozialen Arbeit relevante Begriffe wie „Digitalisierung“ und „Virtualisierung“ nahezu vollkommen; als eigenständige Stichworte wären sie jedenfalls künftig zwingend zu behandeln.
Hier stellt sich also schon jetzt Klärungsbedarf für die Begriffsliste einer neunten Auflage dar, auch dann, wenn kritisch angefragt werden darf, inwieweit ein Lexikon dieser Art und solchen Umfangs auch künftig noch als Printexemplar daherkommen muss und ob nicht längst die technischen Möglichkeiten für ein virtuelles Lexikon sprechen.
Fazit
Ingrid Mielenz und Dieter Kreft sind überzeugt, dass sie mit dieser Auflage „ein Wörterbuch der Sozialen Arbeit vor(legen), das in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts den aktuellen Stand rund um die Soziale Arbeit in Deutschland präsentiert, aber auch Einblicke in das entsprechende Geschehen in Österreich und der Schweiz bereitstellt und viele europäische Konnotationen behandelt“; die neue Auflage werde „einige Jahre“ helfen, den „Arbeitsalltag im Studium und in der Praxis zu unterstützen“ (S. 9). Daran besteht kein Zweifel.
Das Wörterbuch besticht durch vorzügliche Anlagen in Form von Kurzcharakteristiken, Adresslisten und Link-Verweisen (S. 1114-1158) zu den Organisationen und Institutionen der Alten-, Gesundheits-, Jugend- und Sozialhilfe in der Bundesrepublik (S. 1116-1140), Zeitschriften der Sozialen Arbeit (S. 1141-1149) Materialien der Sozialen Arbeit, d.h. Berichten, statistischem Material und sonstigen Quellen (S. 1150-1155) und der Sozialen Arbeit im Internet (S. 1156-1158), wobei der Abschnitt zur Sozialen Arbeit im Internet grundsätzlich noch weiter ausgebaut werden kann, handelt es sich doch hier um einen sich dynamisch entwickelten „Markt“ spezieller Websites (auch wenn diese nur schwer „einzufangen“ und jeweils aktuell abzubilden sind).
Das Wörterbuch stellt in seiner begrifflichen Vielfalt und Tiefe eine unverzichtbare Grundlage für die Praxis und die akademische Lehre der Sozialen Arbeit dar, das in jeder Fachbibliothek von Hochschulen unverzichtbar ist und auch im Fachbuchbestand der Träger der Sozialen Arbeit nicht fehlen darf. Der Preis von 68,00 Euro für die gewichtige Printausgabe wirkt auf den ersten Blick „teuer“, „rechnet“ sich aber mit nahezu jedem Stichwort.
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
Website
Mailformular
Es gibt 118 Rezensionen von Peter-Ulrich Wendt.