Matthias Rau: Lebenslinien und Netzwerke junger Migranten nach Jugendstrafe
Rezensiert von Dipl.-Soz. Anabel Taefi, 21.09.2017
Matthias Rau: Lebenslinien und Netzwerke junger Migranten nach Jugendstrafe. Ein Beitrag zur Desistance-Forschung in Deutschland.
Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2017.
ISBN 978-3-643-13604-6.
Kriminalwissenschaftliche Schriften, Band 52.
Thema
Im vorliegenden Buch widmet sich der Autor einer aktuellen kriminologischen Forschungsperspektive, nämlich der Desistance-Forschung, die den Ausstieg aus strafbaren Verhaltensweisen untersucht. Betrachtet wird die biografische Entwicklung junger Männer mit Migrationshintergrund nach ihrer ersten unbedingten Jugendstrafe. Retrospektiv werden die Biografien von 15 jungen Männern mit zweiter Inhaftierung mit denen von 14 entsprechenden Personen ohne weitere Inhaftierung verglichen – dabei kommen unterschiedliche quantitative wie qualitative Methoden zum Einsatz: Die Methodik der Angewandten Kriminologie sowie der egozentrierten Netzwerkanalyse.
Autor
Dr. Matthias Rau forscht und lehrt in den Bereichen Kriminologie, Desistance, Migration und Netzwerkanalyse. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kriminologischen Zentralstelle e.V. (KrimZ) in Wiesbaden sowie Lehrbeauftragter der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung.
Entstehungshintergrund
Die Publikation ist im Rahmen der Studie „Der Einfluss von Netzwerken auf Prozesse der Exklusion und Inklusion bei Strafgefangenen mit Migrationshintergrund“ des Forschungsclusters der Universitäten Trier und Mainz entstanden und im November 2015 als Dissertation an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereicht worden.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel grenzt der Autor das Thema seiner Forschung ein, erörtert die zu untersuchende Problematik und formuliert seine Forschungsfrage. Dabei werden die kriminal- und strafvollzugsstatistischen Besonderheiten von Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert und (theoretische) Erklärungsansätze dafür vorgestellt. Eine kurze Darstellung der Desistance-Forschung leitet zur grundlegenden Fragestellung der Arbeit über: „Welchen Einfluss haben soziale Kontakte von ehemaligen Jugendstrafgefangenen mit Migrationshintergrund auf Prozesse von Inklusion und erneuter Exklusion nach Entlassung aus einer Erstinhaftierung im Verhältnis zu weiteren Faktoren“ (S. 29). Die hinter dieser Fragestellung liegende These konstatiert, dass Netzwerke einen Einfluss auf das erneute begehen von Straftaten nach einer Inhaftierung haben (vgl. S. 29).
In den folgenden Kapiteln 2 und 3 stellt Rau die seiner Arbeit zugrunde liegenden theoretischen Begriffe bzw. Ansätze vor, dabei sind insbesondere Sozialkapital und die Theorie der altersabhängigen Sozialkontrolle (Sampson und Laub), sowie die Soziale Netzwerkanalyse und kriminologische Forschungen und Theorien mit netzwerkanalytischen Bezügen zu nennen.
Da sich die Studie mit den Desistance-Prozessen junger Migranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetrepublik, der Türkei und den Maghreb-Staaten befasst, werden im vierten Kapitel wichtige Informationen über die Geschichte und die Besonderheiten ihrer Migrationsgeschichte nach Deutschland sowie der Wissenstand über ihre Lebenswelten aufbereitet. Einen besonderen Fokus legt der Autor gemäß seiner Forschungsfrage auf die sozialen Netzwerke und das soziale Kapitel der drei beschriebenen Gruppen.
Das Untersuchungsdesign und die in der Studie angewandten Methoden werden im 5. und 6. Kapitel vorgestellt. 29 ehemalige Jugendstrafgefangene (mit Migrationshintergrund) werden in einem Vergleichsgruppendesign betrachtet: 15 junge Männer mit mehrfacher Hafterfahrung (Exklusionsgruppe) und 14, die nach der ersten Inhaftierung bereits mind. drei Jahre in Freiheit verbracht haben (Inklusionsgruppe), alle wurden bis zu drei Mal in den Jahren zwischen 2009 und 2012 interviewt. Die Interviews erfolgten zu den unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten mit verschiedenen Schwerpunkten (biografische Exploration für die kriminologische Beurteilung mittels der Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA), Netzwerkinterview und schließlich als vertiefendes Interview zur Netzwerkdichte und sonstigen offenen Fragen). Der methodische Teil der Arbeit schließt mit einer umfangreichen Vorstellung der MIVEA.
Drei Kapitel (7-9) umfassen die zahlreichen Teilergebnisse der verschiedenen angewandten Methoden. Zunächst wird für alle Teilnehmer der Studie ein MIVEA-Gutachten erstellt (Kapitel 7), welches insbesondere (aber nicht nur) die Delinquenz und Maßnahmen während der Haftstrafe sowie den Übergang in die Freiheit analytisch aufarbeitet. Darauf folgt die Darstellung von Aufbereitung und Auswertung der Netzwerkdaten (Kapitel 8), wobei eine Core-Peripherie-Unterscheidung handlungsrelevante und für die Fragestellung nicht handlungsrelevante Netzwerkkontakte zu unterscheiden vermag. Vertiefende Fragestellungen runden im neunten Kapitel die Ergebnisdarstellungen ab. Anhand der Darstellungen der Ergebnisse auf standardisierten Netzwerkkarten lassen sich Fälle anschaulich analysieren und vergleichen. Auch wird ein neu erarbeitetes Schema zur Bewertung der potenziellen kriminellen Gefährdung einer Beziehung vorgestellt, mit dem zwischen kriminalitätsgefährdendem und kriminalitätshemmendem Sozialkapital unterschieden werden kann.
Als letzter Schritt in der Analyse widmet sich Rau im zehnten Kapitel noch einmal explizit dem Desistance-Prozess der Studienteilnehmer und betrachtet die Relevanz und das Zusammenspiel interner wie externer Desistance-Mechanismen für den Abbruch einer „kriminellen Karriere“.
Die Studie schließt mit einer pointierten Zusammenfassung der zahlreichen Ergebnisse (Kapitel 11) sowie Folgerungen (Kapitel 12) für die Weiterentwicklung kriminologischer Theorien, für die Angewandte Kriminologie sowie die Praxis der Strafrechtspflege und die Kriminalpolitik. Ein letzter selbstkritischer Blick auf die erfolgten Arbeitsschritte und Erkenntnisse liefert Hinweise für künftige Forschungsvorhaben.
Fazit
Mit der vorliegenden Publikation stellt der Autor einen innovativen Beitrag zur Desistance-Forschung vor, der die Abbruchsprozesse delinquenter Handlungen junger Migranten mittels der Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) und Sozialer Netzwerkanalyse nachzeichnet, interpretiert und analysiert. Die große Stärke der Arbeit – die Verknüpfung unterschiedlicher methodischer Ansätze im Forschungsdesign – führt zu einer Vielzahl an Arbeitsschritten und Einzelergebnissen, die für den Laien der Netzwerkanalyse oder der MIVEA sicherlich eine Herausforderung sein kann. Das umfangreiche Werk bietet dadurch aber gleichzeitig die Chance, sich anhand einer anschaulich beschriebenen und spannenden Studie diesen Methoden sowie dem Forschungsfeld und den Theorien der entwicklungskriminologischen Perspektive zu nähern. Den roten Faden verliert der Autor trotz der Detailtiefe des Werks dabei nie aus den Augen. Die Studie stellt somit einen wichtigen Beitrag für die recht junge Desistance-Forschung dar und leitet aus den Ergebnissen wichtige Folgerungen für die Strafrechtspflege und die kriminalpolitische Praxis ab.
Rezension von
Dipl.-Soz. Anabel Taefi
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Zitiervorschlag
Anabel Taefi. Rezension vom 21.09.2017 zu:
Matthias Rau: Lebenslinien und Netzwerke junger Migranten nach Jugendstrafe. Ein Beitrag zur Desistance-Forschung in Deutschland. Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2017.
ISBN 978-3-643-13604-6.
Kriminalwissenschaftliche Schriften, Band 52.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22916.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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