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Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus

Rezensiert von Dr. Maurice Schulze, 15.02.2018

Cover Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus ISBN 978-3-518-12705-6

Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2016. 158 Seiten. ISBN 978-3-518-12705-6. D: 14,00 EUR, A: 14,40 EUR, CH: 20,90 sFr.

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Thema

Karl Marx war besonders an dem Verhältnis von Arbeit und Kapital interessiert. Thomas Piketty hingegen widmete sich besonders der Disparität von Eigentum. Gernot Böhme richtet seinen Fokus auf den Wandel von Bedürfnissen hin zu Begehrnissen.

Aufbau und Inhalt

Im Englischen finden sich die passenderen Bezeichnungen von ‚needs‘ und ‚desires‘. Während Bedürfnisse befriedigt werden, wenn man sie stillt, so stellt Böhme fest, steigern sich die Begehrnisse, kommt man ihnen nach. Nicht der Konsum selbst, also der Verbrauch, steht mehr im Mittelpunkt. Das Begehren nach den aktuellen, angesagten, modischen Dingen lässt den Kunden unbefriedigt. Um diese Anreize stets neu zu entfachen, bedient sich der Kapitalismus der Ästhetik. Der Selbstinszenierung sind keine Grenzen gesetzt. Die sogenannten sozialen Netzwerke dienen dafür als perfekte Plattform. Sie bieten die Bühne, auf der sich die ästhetische Oberflächlichkeit ideeller Obsoleszenz permanent reproduzieren lässt.

Zum bekannten Tausch- und Gebrauchswert kommt der Inszenierungswert hinzu. Dingen wird dadurch ein Nutzen in Form von Statussymbolen zueigen. Ein Auto dient nicht mehr nur dem Transport oder der Mobilität. Es ist gleichzeitig und in unterschiedlichem Maße ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Status. Waren werden auf diese Ansprüche hin hergerichtet. „Man gibt ihnen ein bestimmtes Aussehen, sie werden ästhetisiert, und sie werden in der Tauschsphäre inszeniert.“ (S. 27, Hervorhebung im Original). Wirtschaft lässt sich nach Böhme daher als ästhetische Ökonomie verstehen, die Kritik der Warenästhetik als „eine Kritik der Ästhetisierung der Warenwelt“ (S. 33). Konsum schafft auf der Basis ästhetischer Werte Ungleichheiten im Geschmack. Grundvoraussetzungen dafür ist es, dass sich Konsumenten in einer Überflussgesellschaft anhand der von ihnen konsumierten Güter differenzieren. Die ästhetische Ökonomie fußt auf Begehrnissen, „die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt, sondern gesteigert werden“ (S. 45).

Böhme verweist nun auf die Grenzen exponentiellen Wachstums im Zusammenhang mit dem Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“, die fossile Brennstoffe, mineralische Rohstoffe, den Anstieg der Weltbevölkerung etc. problematisieren. Um Katastrophen zu verhindern, muss ein grundlegender Wandel in Wirtschaft, Konsum, Energieverbrauch etc. vollzogen werden, der nach Böhme nur durch eine nichtkapitalistische Wirtschaftsform realisiert werden kann, da dem kapitalistischen Wirtschaften der Zwang zum Wirtschaftswachstum eingeschrieben ist.

Tritt der Kapitalismus in diese ästhetisierte Phase ein, spricht Böhme von der ästhetischen Ökonomie: „Der Kapitalismus qua ästhetische Ökonomie ist dafür verantwortlich, dass der Mensch auch im Überfluss nie zufrieden ist und sein gesamtes Dasein unter dem Gesichtspunkt von Leistung sieht“ (S. 73). Der Mensch der Überflussgesellschaft ist „im Knappheitsdenken gefangen“ (S. 75). Denn die Inszenierung des eigenen Lebens lebt vom Inszenierungswert der Waren und der Inszenierung sind keine Grenzen gesetzt. Ähnlich argumentiert Hartmut Rosa in seiner Beschleunigungstheorie, wenn er von der Angst des Abgehängtseins spricht, die den Akteur dazu antreibt, up-do-date zu bleiben, da er sonst ins Hintertreffen gerät. Keine Sphäre des Lebens ist von der Inszenierung ausgenommen. Die damit einhergehende Kapitalisierung durchdringt daher die Alltagsrealität in Gänze.

Im zweiten Teil des Buches widmet sich Böhme der Differenzierung des Geschmackbegriffs. Ausgehend von Kants Kritik der Urteilskraft und Bourdieus Die feinen Unterschiede kommt er zu Adornos Unterscheidung von Kultur und Massenkultur. Die Ästhetik wandelte sich derart, dass sie nicht mehr zur Festigung der Zugehörigkeit eines sozialen Ranges dient. Die Warenästhetik erfasst die Person und die Frage der Identität wird beantwortet mit Performance und Inszenierung von Äußerlichkeit. Die Entscheidung für eine Marke wird darüber nachgerade zur Entscheidung für eine darin transportierte Lebensführung. „Das Überflüssige ist nützlich, es dient der Inszenierung von Leben. Kauft es!“ (S. 116) bringt Böhme es auf den Punkt.

Letztlich stellt er auf die Entwicklungen der modernen Architektur seit den 70er Jahren ab und zeigt auf, dass die Bedeutung der Außenfassade eben jener Logik der Inszenierung folgt, über die ein Gebäude und damit das darin ansässige Unternehmen imaginiert wird.

Fazit

Böhmes Beitrag zum Verständnis moderner Konsum- und Wirtschaftsanalyse konzentriert sich im ersten Teil auf die Praxis der Selbstinszenierung. Verständlich und nachvollziehbar liefert er damit einen Beitrag zur kritischen Modernediskussion und bieten sowohl soziologische als auch philosophische Anknüpfungspunkte. Die darauf folgenden architektonischen Beispiele untermauern auf diesem Terrain seine Thesen. Die praxistheoretische Diskussion ästhetischer Lebensführung bietet sich darüber hinaus im Hinblick auf die von Andreas Reckwitz geführten Ansätze deutlich an.

Rezension von
Dr. Maurice Schulze
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Es gibt 15 Rezensionen von Maurice Schulze.

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ISSN 2190-9245