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Marius Raab, Claus-Christian Carbon u.a.: Am Anfang war die Verschwörungs­theorie

Rezensiert von Arnold Schmieder, 07.08.2017

Cover Marius Raab, Claus-Christian Carbon u.a.: Am Anfang war die Verschwörungs­theorie ISBN 978-3-662-53882-1

Marius Raab, Claus-Christian Carbon, Claudia Muth: Am Anfang war die Verschwörungstheorie. Springer (Berlin) 2017. ISBN 978-3-662-53882-1. D: 19,99 EUR, A: 20,55 EUR, CH: 21,50 sFr.

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Thema

Den Titel ihres Buches meinen die AutorInnen ernst: „Verschwörungstheorien sind alt. Verschwörungstheorien sind universal.“ Zwar war sicherlich am Anfang ‚das Wort‘, eine Voraussetzung, dass sie „eine sehr erfolgreiche Erzählform“ bis in unsere Tage werden konnten. (S. 255) Ihren Ursprung haben sie höchstwahrscheinlich in der neolithischen Revolution im Sinne von Abgrenzungen von Natur und der Sesshaften gegenüber den Nomadisierenden. Deutlich dann wird das laut den AutorInnen an der Kultur der Sumerer, wo „der Götterkampf gleichzeitig eine Verschwörungstheorie ist: Der Zustand der Welt wird mit der verborgenen Verabredung mächtiger Wesen erklärt“, was hier schon erkennen lässt, „warum Geschichte immer eine Geschichte von Verschwörungen ist; warum jedes Nachdenken über den Zustand der Welt immer auch Verschwörungstheorien umfassen wird.“ (S. 8 f.) Darin kommt ihre These zum Ausdruck, dass immer, „wenn Menschen eine Erklärung für ein wichtiges Ereignis oder Geschehen aufstellen, in dem die geheime Verabredung von mindestens zwei Menschen als wesentlicher Bestandteil enthalten ist, dann sehen wir darin eine Verschwörungstheorie.“ (S. X) Diese Sicht wird von den AutorInnen mit Theorien und Ergebnissen der Psychologie und Wahrnehmungsforschung (und auch interdisziplinären Anleihen) in Bezug auf eine breite Spannbreite von Verschwörungs-Phänomenen elaboriert – und vor allem durchgehalten.

Eine „geheime Verabredung“ als „wesentlicher Bestandteil“ macht allein keine Theorie aus, mittels derer eine Verschwörungstheorie als solche zu konturieren wäre; deswegen betonen die AutorInnen, dass es die Verschwörungstheorie nicht gibt, worauf gleich im Klappentext aufmerksam gemacht wird. So können und werden dann auf der Folie (vor allem) psychologischer Grundmechanismen historisch sehr alte bis moderne digitale Kommunikationsinhalte auch im Sinne von Narrativen in den Blick genommen, um ihre Funktionen zu erklären. Ob solche Verschwörungstheorien einen diskriminierenden oder aufwiegelnden Tenor anschlagen oder Gefahren für den Fortbestand sozialen Friedens und demokratischer Ordnung beschwören, immer bieten sie Erklärungsmuster von mehr oder minder hoher Plausibilität, was ihre Attraktion ausmacht. Unterschlagen werden darf dabei nicht, dass „Verschwörungstheoretikerinnen und -theoretiker“ wie „die Alarmanlagen einer Demokratie“ sein können: „Sie suchen nach finsteren Machenschaften und machen sie dann für den Rest der Gesellschaft sichtbar.“ (S. 86) Damit man nicht auf in der Regel interessierten Deutungen hereinfällt, geben die VerfasserInnen gegen Ende ihres Buches eine Reihe von Handreichungen, wie man Verschwörungstheorien der verschiedensten Couleur auf Sinn oder Unsinn ihrer Gehalte überprüfen kann. – Am Ende der Kapitel sind in einem Kasten die Kerninhalte zusammengefasst. Am Anfang sind jeweils ironisierend feinsinnige bis humorige Zeichnungen der Illustratorin Pia Deininger vorangestellt.

Aufbau und Inhalt

„Psychologische Grundmechanismen“, heißt es zu Beginn in der Zusammenfassung, „wie das Vergnügen an guten Geschichten, am Rätsellösen und der Wunsch nach Selbsterkenntnis spielen eine Rolle.“ (S. XIX) Doch ist auch das Bedürfnis nach Abgrenzung nicht zu vernachlässigen, wie Mythologien zu entnehmen, wo der „Götterkampf gleichzeitig eine Verschwörungstheorie ist“ und der „Zustand der Welt (…) mit der verborgenen Verabredung mächtiger Wesen erklärt“ wird. (S. 8) Insofern sind Verschwörungstheorien gleich von Anfang der uns bekannten Geschichte an ein „Grundnarrativ“ hinsichtlich oft insgeheim geplanter Veränderungen. (S. 11) Mit Popper wird argumentiert, dass solche Grundmuster aus religiöser Provenienz säkularisiert werden und sich unter Beibehaltung ihrer Erklärungsmuster ggf. in einer Person verdichten. Ausgedünnte Nachwehen lassen sich bis ins heutige „postfaktische Zeitalter“ ausmachen, „in dem gefühlte Wahrheiten wichtiger sind als Tatsachen“ (S. 19), was die AutorInnen als Frage aufwerfen, und wo sie dann über u.a. Lyotard, Baudrillard, Crouch, Keyes und nicht zuletzt Asimov den Problemen nachspüren, die sich daraus ergeben, dass es laut Verschwörungstheorien die „wirklich Mächtigen“ wenig kümmert, „was das Volk denkt“ (S. 26) und der „Kult des Unwissens“ (S. 29) anzuprangern ist und daher nach einer Trennlinie „zwischen kritisch-vernünftigem Denken und abstrusem Verschwörungsglauben“ gesucht werden muss. (S. 31)

Diese Suche wird auch da weiterverfolgt, wo Dystopien und Verschwörungstheorien bis zu jener Fragestellung zugespitzt werden, ob das, was wir für Realität halten, nur ein Trugbild ist, dass wir also sozusagen „in einer Simulation leben“ (S. 53), was Fragen nach der Realität und danach aufwirft, „welche Überzeugungen vernünftig sind“. (S. 63) Dazu wird weniger der Altmeister Kant als der Philosoph Illies unter dem Problemhorizont von Vernunft als evolutionärem Konzept zu Rate gezogen, von wo aus zu „grundlegende(n) Mechanismen des menschlichen Wahrnehmens und Denkens“ übergeleitet wird, „die einerseits den Drang nach Ordnung spiegeln, andererseits aber auch die Magie der Komplexität“ (S. 92), wobei u.a. betont wird, dass ohne „Neugierde (…) keine Weiterentwicklung und auch keine Anpassung möglich“ ist, was wie das „Vergnügen an (un-)sinnigen Zusammenhängen“ von Belang für die Aufnahme verschwörungstheoretischer Inhalte ist (S. 106 f.), und zwar auch unter der Perspektive, ob nicht mehr hinter einem Phänomen steckt und vor allem was. Das kündet auch davon, dass wir lieber „Lösungen“ selbst generieren als sie „vorgekaut zu bekommen“. (S. 117)

Im Folgenden klären die VerfasserInnen darüber auf, „dass wir Faustregeln (sogenannte Heuristiken) verwenden, um Ereignisse zu interpretieren, sei es im Rahmen eines Wahrnehmungseindrucks oder bei Denkurteilen“ (S. 127), wobei das alltägliche Wahrnehmen und Denken doch im Kontrast zum wissenschaftlichen steht. Um Wissen und Wahrheit geht es, um Erfahrung und Theorie, auch um Wahrscheinlichkeit, wobei die VerfasserInnen an den Scholastiker Wilhelm von Ockham erinnern und die als ‚Ockhams Rasiermesser‘ bekannte Anforderung an Theorie: „Je weniger Annahmen eine Theorie macht, desto weniger kann daran falsch sein“ (was später für Einschätzungen von Verschwörungstheorien belangvoll wird). (S. 160)

Unter dem Strich bleibt: „Wissenschaft kann keine Wahrheiten verkaufen, nähert sich eher langfristig der Wahrheit an.“ (S. 173) Abgründe des Verschwörungsglaubens und die Funktion von Stereotypenbildungen werden am Judenhass exemplifiziert und an dem (alten) Phänomen ‚wir und die anderen‘. Unerwähnt bleiben auch nicht Big-Data-Algorithmen in ihrer verschwörungstheoretischen Relevanz. Über die bisherigen Erörterungen kommen die AutorInnen zu (zentralen und verallgemeinerungsfähigen) Bausteinen von Verschwörungstheorien, die es der Leserin und dem Leser ermöglichen, solche Theorien auf den Prüfstand zu stellen, u.a. mit dem Hinweis im ersten Schritt: „Bringen Sie die Theorie auf einen zentralen Satz (oder einige wenige Sätze)“ (S. 242) – was daran erinnert, ‚Ockhams Rasiermesser‘ anzusetzen. Grundsätzlich jedoch gilt: „Hetzerische Theorien (etwa gegen ‚die Juden‘ oder ‚die Moslems‘), also zynische Theorien, können Sie ohne weitere Prüfung ablehnen.“ (S. 254) Bevor die Leserin und der Leser zur ‚Flexibilität‘ aufgerufen wird, werden einige (kuriose) Verschwörungstheorien vorgestellt. Zu dieser ‚Flexibilität‘ gehört, „Nein“ zu sagen, und zwar im Hinblick auf Verschwörungstheorien nicht dagegen, dass es sich um eine „narrative Form“ handelt, sondern dagegen, dass „Unzulänglichkeiten und Schlechtigkeiten der Welt“ einer „irgendwie gearteten Gruppe“ ohne genau Überprüfung angelastet werden. (S. 271) Und da Menschen ihre Welt „immer auf der Grundlage ihrer bisherigen Erfahrungen“ deuten, gilt es, sich vor Augen zu führen, „dass wir unsere Urteile eben manchmal auch ändern müssen: Fanatismus beginnt, wenn Offenheit für Alternativen ausbleibt.“ (S. 274 f.)

Diskussion

Wo die VerfasserInnen weit zurück in die Geschichte nach Verschwörungstheorien Ausschau halten und den Bogen zu neueren schlagen, merken sie an, dass Leserin und Leser vielleicht „gerade eine Unzufriedenheit mit dem Begriff der Verschwörungstheorie“ verspüren, und sie werfen – stellvertretend – die Frage auf: „Wie kann die offizielle Theorie gleichzeitig eine Verschwörungstheorie sein?“ (S. 17) Man möchte erweitern: Ist denn alles zwischen sumerischen und babylonischen Weltentstehungsmythen und kursierenden, modernen Geheimbündelei-Verdächtigungen im Netz unter das Rubrum Verschwörungstheorie zu packen? Solche Fragestellung bleibt bei der Lektüre des gesamten Buches erhalten und es liegt ggf. an der Unschärfe des Begriffs, was ihn kennzeichnet. Ob das Element des Fabulierens bis knapp hinter die Grenze des Phantastischen ein Unterscheidungsmerkmal zu Ideologien und Rechtfertigungsnarrativen oder gar Religionen sein könnte, muss dahingestellt bleiben. Dass die VerfasserInnen anmerken, sich bewusst nicht auf die Diskussion von Wissenschaftlern „der Philosophie und Religionswissenschaft“ eingelassen zu haben, die darüber „streiten (…), ob man jede Religion als Verschwörungstheorie auffassen könne“, was auch bei einer Betonung von „Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten“ nicht weiterhelfe und schlussendlich nur „den Fokus“ verlagere (S. 60, Anm. 3), trägt auch nicht zu einer trennscharfen Definition von Verschwörungstheorien bei, so dass im Grunde nur der Topos der „geheimen Verabredung“ (s.o.) bleibt.

In Bezug auf die „Verschwörung der Massenmedien“ meint Seidler in seinem Buch „Die Verschwörung der Massenmedien“, die „zeitgenössische Popularität und Verbreitung von Verschwörungstheorien“ sei „nicht zu verstehen, wenn man Verschwörungstheorien ausschließlich als Ideologien und Propaganda wahrnimmt, sondern nur dann, wenn man auch das Spiel mit den Zeichen als lustvolle Aneignung von Medieninhalten in Rechnung stellt.“ Die AutorInnen dürften dem zustimmen, wobei sie nicht auf Medieninhalte beschränken. Seidler schreibt weiter, das „mittels paranoischer Decodierung hergestellte Wissen überzeugt, weil es ein selbst erzeugtes Wissen ist.“ Auch da würden die VerfasserInnen wohl nicht widersprechen. Doch fragt sich angesichts zunehmender verschwörungstheoretischer Erklärungsmuster hier wie da, was solche ‚paranoische Decodierung‘ abnötigt. Selbst wo das Postfaktische den Zeitgeist durchseucht, ist die vernünftige Reflexion nicht gänzlich von der Bildfläche verschwunden und auch nicht nur Relikt alltäglicher Denkfiguren. Wider den Verstand, was Paranoia wörtlich meint, kann sich im Verständnis einer psychischen Störung in Wahnvorstellungen äußern, in Verfolgungsängsten bis in die Überzeugung einer Verschwörung Dritter gegen die eigene Person. Angesichts weiter Verbreitung zurzeit aktueller Verschwörungstheorien könnte man mutmaßen, dass solche ‚paranoische Decodierung‘ mit psychopathologischen Zügen, verschwistert mit postfaktischen Einstellungsmustern, in den psychologischen Normalbereich eingesickert ist. So weit gehen die VerfasserInnen nicht, zumal sie, hört man bei Verschwörungstheorien genau hin und lässt sich nicht dumm machen, darin einen eben nur narrativ verkleideten Kern ausmachen, der ein tatsächliches Problem beinhaltet, das über vernünftige Aufnahme von allgemeiner Relevanz sein kann – was zur sachlichen und vernünftigen Prüfung anheimgestellt wird.

VerschwörungstheoretikerInnen identifizieren „Macht“ und „Geld“ als prominente Antriebe und ebenso „das Vorkommen von geheimen und üblen Machenschaften als Konstanten unserer gesellschaftlichen Realität“ – was man tagtäglichen, massenmedialen Informationen entnehmen kann. Wie Freud thematisieren sie „Lust, Begierde und Tod“, ein „Unten“, was bekanntlich auch Thema von PsychoanalytikerInnen und PsychologInnen ist. VerschwörungstheoretikerInnen richten ihr Augenmerk auf die „Welt der Begierden, Machtspiele, Unwahrheiten, Lügen und Gemeinheiten“ (S. 70 f.), eine Tastatur von scheint´s hohem Unterhaltungswert, welche die Yellow-Press anschlägt und was auch in den Sozialen Netzwerken ausgewalzt wird. Wahrheit ist so nicht zu haben. Ist es doch eigentlich die Vernunft, die „einzige Fähigkeit, mit der wir Menschen auf der Suche nach Wahrheit ausgestattet sind“ (S. 71), die uns auf die Sprünge hilft und was kein Privileg der Wissenschaft ist. Da ist an Freud und sein Wort zu erinnern, die Stimme der Vernunft sei leise, aber sie ruhe nicht, ehe sie sich Gehör verschafft habe. Man dürfe „für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein“, so Freud.

Dazu, um solchen Optimismus zu nähren, bedarf es der Aufklärung, was die VerfasserInnen in Bezug auf ihren Gegenstand leisten. Mit ihren psychologischen Erklärungen zur Attraktivität von Verschwörungstheorien resp. einer Bereitschaft zur Rezeption, dispensieren sie tendenziell – was als psychologische Erklärung richtig bleibt – alltägliche Abschattung von durch Vernunft gesättigte Aufklärung. Da kommt Kant in den Sinn und dessen Vernunftbegriff. Der Philosoph setzte auf Aufklärung und war insoweit kritisch, als er zu seiner Zeit monierte, man lebe in einem Zeitalter der Aufklärung, nicht aber in einem aufgeklärten Zeitalter – was bis auf den heutigen Tag gilt. Mit Kant, merken die VerfasserInnen an, „betrachten wir die bewusste Entscheidung eines vernunftbegabten Individuums.“ Sie wollen jedoch mit Christian Illies an der „Beobachterperspektive“ festhalten, um so zu sehen, „dass Moral und Biologie beide unter dem Prinzip der langfristigen Stabilität einer Population beschrieben werden können.“ (S. 79, Anm. 1) Evolutionstheoretische Erklärungsansätze gar des Sozialen mögen in der Anthropologischen Philosophie zwar ihren (nicht unumstrittenen) Stellenwert haben, doch wo Erklärung vorgegeben wird, handelt es sich eher um Beschreibung dessen, was zu erklären wäre und – im Sinne von Vernunft und Aufklärung – zu kritisieren.

Dem nähern sich die VerfasserInnen an, wo sie betonen, dass „hinter Verschwörungstheorien (…) auch ein berechtigtes Unbehagen stehen kann angesichts konkreter gesellschaftlicher Ereignisse und Probleme“ und sie so „dem Unbehagen eine greifbare Form und vielleicht sogar ein Gefühl von Kontrolle“ geben. (S. 269 f.) Da liegt das Problem, weil die „greifbare Form“ gegen die zugrundeliegende Ursache blendet und vorgebliche Aufklärung gerade im „Gefühl von Kontrolle“ zur Systemintegration verkommt, womit Freuds Optimismus und Kants Begriff der Aufklärung „als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ erst einmal im Zitatenschatzkästlein verbleiben.

Mit einer kritischen Gesellschaftstheorie ist daran zu erinnern: „Für die Kommensurabilität der Erkenntnis mit dem Erfahrbaren wird durch die Insuffizienz der Erkenntnis bezahlt. Darin nähert sich der spleen der kleinbürgerlichen Sekte, die das Unheil der Welt der Verschwörung von Mächten zuschreibt, während er freilich den Widersinn dessen, worauf er sich kapriziert, selber einbekennt“, schreibt Adorno in „Prismen“ zu „Veblens Angriff auf die Kultur“. Und an anderer Stelle heißt es (in „Aberglaube aus zweiter Hand“ in den „Soziologischen Schriften“), dass die „Einsicht in die steigende Abhängigkeit (…) ungemildert nur schwer ertragen (wird). Gäben die Menschen sie offen zu, so könnten sie einen Zustand kaum länger aushalten, den zu ändern sie doch weder die objektive Möglichkeit sehen noch die psychische Kraft in sich fühlen. Darum projizieren sie auf etwas, das von Verantwortung dispensiert: seien es die Sterne, sei´s die Verschwörung der internationalen Bankiers.“ Und Seidlers Begriff „paranoischer Decodierung“ (s.o.) im Zusammenhang von Verschwörungstheorien ist auf dem Hintergrund dessen zu reflektieren, was Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ schreiben: „Die paranoiden Bewußtseinsformen streben zur Bildung von Bünden, Fronden und Rackets. Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmacherei.“ Und Adorno und Horkheimer fahren fort (worin das allseitige Ausspähen von Verschwörung seitens der VerfasserInnen eine Bestätigung finden könnte), dies kennzeichne auch „große Reiche“ und gar die „organisierte Menschheit als ganze“, um zu dem Schluss zu kommen: „Das normale Mitglied aber löst seine Paranoia durch die Teilnahme an der kollektiven ab und klammert leidenschaftlich sich an die objektivierten, kollektiven, bestätigten Formen des Wahns.“ So gesehen kommt in Verschwörungstheorien eine gesellschaftliche Normalität zum Ausdruck, die es als Ursache zu kritisieren gilt und die kein Produkt aus ‚Verschwörung‘ ist.

Fazit

Der fast verschwörungstheoretisch anmutende Titel des Buches, „Am Anfang war die Verschwörungstheorie“, hält mehr als er verspricht, insofern der Inhalt in hohem Maße informativ ist, wiewohl die AutorInnen einschränken, das Buch sei „kein Almanach der Verschwörungstheorien“. (S. IX) In der Tat ist es dank der vorgetragenen Erklärungsansätze in der Hauptsache psychologischer und sozialpsychologischer Provenienz als Ansatz zur Erklärung von Entstehung und Funktion von Verschwörungstheorien weit mehr, nämlich eine ernsthafte und diskussionswürdige Vorlage, das Phänomen zu erhellen. Dankenswerterweise ist es gut verständlich geschrieben und zugleich unterhaltsam, dies ohne nach Effekten zu haschen oder ein Sensationsbedürfnis zu befriedigen. Wenn man will, wappnen die AutorInnen dagegen, von Verschwörungstheorien in den Bann gezogen zu werden. Insoweit ist das Buch nicht nur PsychologInnen zu empfehlen, sondern allen an diesem Phänomen interessierten LeserInnen.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 07.08.2017 zu: Marius Raab, Claus-Christian Carbon, Claudia Muth: Am Anfang war die Verschwörungstheorie. Springer (Berlin) 2017. ISBN 978-3-662-53882-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22945.php, Datum des Zugriffs 08.06.2023.


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