Marika Hammerer, Erika Kanelutti-Chilas et al. (Hrsg.): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung IV
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 12.09.2017
Marika Hammerer, Erika Kanelutti-Chilas, Gerhard Krötzl, Ingeborg Melter (Hrsg.): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung IV. Schwierige Zeiten - Positionierungen und Perspektiven. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2017. 228 Seiten. ISBN 978-3-7639-5773-6. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Das Wissen über Beratung hat sich in den vergangenen Jahren erheblich differenziert – dank einer intensivierten Forschung und entsprechender Publikationen. Gesellschaftliche Themen schwappen in die Beratung hinein, die sich darauf einstellen muss, inhaltlich ebenso wie im Vorgehen.
Entstehungshintergrund
Das Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (bifeb) in St. Wolfgang, Österreich bietet als Einrichtung des Bundesministeriums für Bildung (BMB) einen einjährigen Diplom-Lehrgang zur Beratung für Bildungs-, Berufs- und Laufbahnberatung an. In diesem Kontext fanden vier Fachtagungen im Abstand von jeweils zwei Jahren statt. Der Sammelband dokumentiert die Beiträge der vierten Fachtagung von 2016.
Herausgeber*innen
- Die Herausgeberinnen Marika Hammerer und Erika Kanelutti-Chilas sind in leitender Funktion in einem Institut oder Verein tätig und aufs engste mit Beratung verbunden.
- Ingeborg Melter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des bifeb.
- Der Herausgeber Gerhard Krötzl leitet im BMB Wien die Abteilung Schulpsychologie/Bildungsberatung, Gesundheitsförderung.
Autor*innen
Alle Autor*innen weisen einen wissenschaftlichen oder praktischen Bezug zur Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung auf.
Aufbau und Vorwort
Der Sammelband beinhaltet 15 Beiträge, die folgenden Abschnitten zugeordnet sind:
- „1. Womit sind wir konfrontiert und wie gehen wir damit um?“ mit drei Beiträgen (S. 17-56)
- „2. Herausforderung Migration und multikulturelle Gesellschaften“ mit fünf Beiträgen (S. 59-116)
- „3. Differenzierungen und Neubewertungen in der Bildungs- und Berufsberatung“ mit drei Beiträgen (S. 119-177)
- „4. Potenziale und Ressourcen erkennen und entwickeln: Zugänge und Modelle“ mit vier Beiträgen (S. 181-223)
Christian Kloyber, Direktor des bifeb, nimmt im „Vorwort“ (S. 7-8) Bezug auf die Herausforderungen, denen Berufs- und Bildungsberatung aktuell ausgesetzt ist. Der Diplomkurs zur Qualifizierung und Fortbildung der Berater*innen greift diese auf. Die „Einleitung“ (S. 9-13) des Herausgeberteams knüpft an das Thema an. Neben aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Beratungswissenschaft werden theoretische Ansätze, praxisorientierte Beiträge und solche, die sich der migrationsbedingten Aufgaben von Bildungs- und Berufsberatung annehmen, behandelt. Ferner bringen sie eine kurze Zusammenfassung aller Aufsätze. Am Schluss des Sammelbandes werden die „Autorinnen und Autoren“ (S. 225-228) vorgestellt.
Zu 1: Womit sind wir konfrontiert und wie gehen wir damit um?
Der Sammelband beginnt mit einem programmatischen Aufsatz von Ronald G. Sultana, Professor an der Universität Malta, mit dem Titel „Laufbahnberatung und der Gesellschaftsvertrag in einer flüchtigen Welt“ (S. 17-30). Sultanas Ziel ist es, die Position einer „emanzipatorischen Laufbahnberatung“ (S. 17) darzulegen und Berater*innen mitzuteilen, dass sie eine normative Position einnehmen (müssen), wenn sie ihre Profession ausüben. Im Rückgriff auf Habermas (1971) unterscheidet der Autor drei Diskurse zur Laufbahnberatung: 1) den „Soziale-Effizienz-Ansatz“, 2) den entwicklungsorientierten und 3) den emanzipatorischen Ansatz (vgl. S. 18-19). Er skizziert, wie es zunächst zur Ausbildung und danach zum Ausverkauf wohlfahrtsstaatlicher Strukturen kam, die – hier schließt er sich dem Soziologen Zygmunt Baumann an – mit dem Übergang von der „solid“ zur „liquid modernity“ (S. 21) begründet sind. „Was ist zu tun?“ (S. 25) beantwortet er mit einem Appell an die Laufbahnberater*innen, basierend auf Iris M. Youngs (2005) „fünf Gesichtern von Unterdrückung“ (Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Normalisierung und Gewalt), sich jeweils kritisch u.a. mit der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsstruktur, der Integrationspolitik und deren Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen von Beratung zu positionieren, auf Missstände hinzuweisen und sich als Professionelle nicht instrumentalisieren zu lassen.
Wolfgang Bliem, Projektleiter am Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw) zeigt Veränderungsfaktoren von Arbeits- und Berufswelt auf und wie diese „new skills“ in der Qualifikation fordern (S. 31-48). Das ibw hat die fünf „Einflussfaktoren von Veränderungen“ (S. 35) identifiziert: Technologisierung (u.a. Digitalisierung), Tertiärisierung, Internationalisierung, Ökologisierung sowie Spezialisierung und Generalisierung, welche die Fachkenntnisse und „social skills“ der Beschäftigten und damit den Qualifikationsbedarf bestimmen werden. An Beispielen verdeutlicht Bliem, wie wenige Berufe (z.B. Korbflechter) aus dem Lehrberufeverzeichnis verschwunden sind, andere sich durch Automatisierung/ Technisierung / Digitalisierung stark verändern (z.B. der Kartograph, der heute ein Geoinformationstechniker ist) und neue Jobs (Tätigkeitsbündel) entstehen oder Tätigkeitsspezialisierungen durch den Zusatz „manager“ aufgewertet werden. Neue Berufe entwickeln sich im IT- und Technik-Bereich, alte Berufe halten sich, wenn sie lokal agieren, etwas Exklusives bedienen und Tradition pflegen (z.B. Kaffeeröster). Die Bildungs- und Berufsberatung wird Bliem zufolge ebenso mit der Digitalisierung in Form von „self-guidance“, „Online-Beratung“ und „Simulationen“ (vgl. S. 42) konfrontiert werden und „Realbegegnungen“ zurückdrängen. Die Befähigung, virtuelle Angebote für sich nutzen zu können, wird zu einem Entwicklungsfeld der Beratung werden. Die Zielgruppen der gering Qualifizierten, der Älteren, der Wiederein- oder Umsteiger*innen sieht er als Kernkundschaft in Kombination mit Beratungskompetenz für Durchlässigkeit, Übergänge und Spezialisierungen. Ob die Berater*innen auch weiterhin real sind, steht für Bliem in Frage, sie könnten auch kommunizierende Avatare sein.
Wolfgang Schüers, Psychotherapeut und Supervisor, macht mit seinem Beitrag (S. 49-56) bewusst, wie wichtig es für die Berater*innen ist, Selbstsorge zu betreiben, im Beruf „selbstachtsam“ (S. 49) zu sein. Angesichts zunehmenden Dokumentationsaufwandes, steigender Fallzahlen bei fragmentierten Beratungsangelegenheiten, auf Kompetenzerwerb zielende Bildungs- und Laufbahnberatung komme es individuell zu unaufmerksamem Berater*innenverhalten. Schüers empfiehlt zur Stressreduktion die Integration von achtsamkeitsbasierten Verfahren in den Beratungsalltag, was individuell zwar helfe, die Struktur aber nicht verbessere.
Zu 2: Herausforderung Migration und multikulturelle Gesellschaften
Ronald G. Sultana geht in seinem zweiten Aufsatz auf „Aha-Erlebnisse“ und „Fallstricke“ von „Laufbahnberatung in multikulturellen Gesellschaften“ (S. 59-77) ein. Von einer noch „jungen Profession“ (S. 63) erwartet der Autor, dass sie „multikultureller Kritik“ (S. 63) positiv gegenüberstehe, insbesondere auch, weil es seines Erachtens unmöglich sei, „naiv“ oder „vortheoretisch“ (S. 63) zu leben. Deshalb seien „Selbstreflexivität“, das Sich-Besinnen auf das „Weiß-Sein“ im übertragenen Sinne, die „Bewusstwerdung“ der Lebenssituation und die jeweils dahinter stehenden Konzepte für eine „Laufbahnberatung in Kontexten von Diversität“ (S. 67) unbedingt erforderlich, um eine gerechtere, eine sensible, kulturell angemessene, kritische Beratungspraxis etablieren zu können. Ausführlich erläutert Sultana fünf Fallstricke, auf die es zu achten gilt: 1) „beginnender Rassismus/Monokulturalismus“ (S. 67), der u.a. aus Ängsten geschürt sein kann, einer Minoritätskultur zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, 2) „die Romantisierung von Kultur“ (S. 69), die zu unreflektiertem Verständnis führen kann, 3) „ein eingeschränktes Gleichheitsbewusstsein“ (S. 70), 4) „Kultur als ‚Exotik‘“ statt ein intersektionales Verständnis kulturell bedingter Dynamiken zu entwickeln und 5) „kultureller Essentalismus und Reduktionismus“ (S. 72), die verkennen, dass sich die Identität der Menschen nicht auf eine Dimension reduzieren lassen. Sultana betont in seinem Schlusskapitel, dass er mit seinen Ausführungen das „Was“ und „Warum“ einer kultursensiblen Laufbahnberatung fokussiert habe, das „Wie“ noch auszuarbeiten sei (vgl. S. 73).
Christina Altenstraßer und Gergana Mineva, Mitarbeiterinnen der Organisation „das kollektiv. kritische bildungs-, beratungs- und kulturarbeit von und für migrant*innen“ in Linz, zeigen auf (S. 79-89), welche strukturellen Verhältnisse, welche Verhaltensweisen der beratenden Personen, welche institutionellen und persönlichen Gegebenheiten die Beratung von Menschen, die als Geflüchtete oder Migrierte im hiesigen Beratungssystem „landen“, beeinflussen und deren Subjektwerdung formen. Anhand eines Gesprächsausschnittes fundieren sie ihre kritische Sicht auf eine eigenkulturell geleitete Beraterin. Die Autorinnen berichten über das Projekt „FAMME: Berufsbilder_Konstruktion und Dekonstruktion. Erstellung von Instrumenten für eine queer-feministische Bildungs- und Berufsorientierung“ (S. 82), bei dem sie mit ratsuchenden Frauen 106 Berufskarten gestaltet und den Such- und Findungsprozess kritisch beleuchtet haben. Im Anschluss legen Altenstraßer und Mineva die Ansprüche an ihre „professionelle Beratung für Migrant_innen“ (S. 85) offen: Reflexivität (im Tun und im Wissen über die Anderen) und „sich gegen diskriminierende Strukturen engagieren“ (S. 86), sich als politische Berufsvertreterin zu definieren, die Betroffenen durch Erzählungen in den Prozess zu involvieren, schütze vor einer anpassenden und die Chancen von Irritationen versäumenden Praxis.
Norbert Bichl, Mitarbeiter im Beratungszentrum für Migrant*innen in Wien, gibt Einblick in die „aktuelle österreichische Anerkennungslandschaft“ (S. 91-98). Statistisch lässt sich nachweisen, dass in Österreich „aus dem Ausland zugewanderte Personen in einem höheren Ausmaß dequalifiziert beschäftigt sind“ (S. 91). Auf der Suche nach Gründen für dieses Faktum stellt er das Geflecht an Regelungen und involvierten Bundes- und Länderbehörden vor, die für eine Anerkennung zuständig sind. Auf Betreiben der Europäischen Kommission und der OECD wurden in Österreich im Nationalen Aktionsplan für Integration unter Beteiligung verschiedener Ministerien ab 2013 Anlaufstellen (AST) zur Beratung und Bewertung von im Ausland erworbenen Qualifikation in den Großstädten sowie weitere arbeitsmarktpolitisch betreute Ausbildungsprogramme etabliert. 2016 passierte ein eigenes „Anerkennungs- und Bewertungsgesetz – AuBG)“ (S. 96) das Parlament. Die rechtliche Regelung sei zwar geschaffen, in der Umsetzung gäbe es Bichl zufolge nach wie vor Hürden zu überwinden, die u.a. auch bei den Arbeitgebern liegen.
Solche Hürden eruieren Martin Weichbold und Wolfgang Aschauer, Professoren an der Universität Salzburg, in ihrer Studie (S. 99-108). Um die heterogene Zuwandererpopulation beforschbar zu machen, differenzierten sie folgende Gruppen: 1) eine progressiv-aufstiegsorientierte Generation, 2) auf dem segmentierten Arbeitsmarkt ethnisch Abgeschottete, 3) integrierte Migrant*innen der ersten Einwanderungswelle und 4) defensiv-angepasste, ältere Migrant*innen (vgl. S. 100), untersuchten diese nach soziodemografischen Variablen und zogen 2014 daraus eine Stichprobe für qualitative Interviews mit den Betroffenen zu Migrationsursachen und den Ressourcen, der soziokulturellen Einbindung in das Aufnahmeland, institutionellen Regelungen der Aufnahme, Konsequenzen aus Anerkennungsverfahren z.B. erlernte Hilflosigkeit oder Selbstwirksamkeit und Inklusions- oder Exklusionsempfindungen (vgl. 101-104). Ihre Erkenntnisse fassten Weichbold und Aschauer in einem „Treppenmodell“ (S. 105) der Anerkennungsverläufe zusammen, die sowohl förderliche wie hinderliche Faktoren ausweisen, Abwärts- wie Aufwärtsverlaufspfade mit Umstiegsoptionen nachvollziehbar machen. Aufschlussreiche Erkenntnisse, wie z.B. dass Migrant*innen aus unterschiedlichen Gründen ihre Ressourcen nicht ausreichend einbringen und auf Anerkennungsverfahren verzichten, wie wichtig ethnische Netzwerke sind, „interethnisches Sozialkapital“ aber integrationsrelevanter ist und der Anerkennungsprozess wie das -ergebnis als intransparent wahrgenommen werden, enthalten wertvolle Hinweise für einen Inklusionsprozess.
Die Abteilungsleiterin des Kompetenzzentrums „migrare“ und Projektleiterin einer AST Nermina Imamović stellt die Beratungsstellenarbeit insbesondere mit Bezug zur erhöhten Arbeitslosigkeit und der Dequalifizierung von Migrant*innen vor (S. 109-116). Dazu gehören die Unterstützung im Anerkennungsverfahren, die Bildungsberatung, Berufsinformation für Schüler*innen und ihre Eltern, die Kompetenzprofilerstellung, Beratung bei der Arbeitssuche vor Ort, Bildungsfrühstücke und andere Projekte, die auf situative Bedarfe reagieren. Imamović betont, dass die Beratungsarbeit angesichts der stetigen rechtlich-institutionellen Veränderungen und der heterogenen Zielgruppen bei den Berater*innen hohe Flexibilität voraussetzen. Die Transparenz und Vereinheitlichung des Anerkennungsverfahrens sei ein wichtiger Schritt für eine raschere Integration in den Arbeitsmarkt, er muss jedoch weiterhin flankiert werden von zielgruppen- und bedarfsgerechten Maßnahmen, die einfache Schritte (Praktika, Sprachkurse) ebenso umfassen wie Möglichkeiten des lebensbegleitenden Lernens.
Zu 3: Differenzierungen und Neubewertungen in der Bildungs- und Berufsberatung
Wie die Europäischen Kompetenzstandards (EKS) für Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung entstanden sind und was sie bezwecken und bewirken wollen, stellt Peter C. Weber, Professor an der Hochschule der Bundesagentur (HdBA) kenntnisreich dar (S. 119-153). Die über 40 Hochschulen aus 30 europäischen Ländern, die im Network for Innovation in Career Guidance & Counselling in Europe (NICE) organisiert sind, haben sich in einem langen Abstimmungsprozess auf Standards für die wissenschaftliche Aus- und Weiterbildung einigen können, nach denen sich bestehende Studienprogramme ausrichten oder neue aufgebaut werden können. Zugrunde liegen die Annahmen, dass Beratung eine Kompetenz ist, die in einer bestimmten Handlungssituation die Aktivierung von Fähigkeiten und Kenntnissen sowie Ressourcen der Person erfordert, dass Beratung erlernt und gelehrt werden kann. Fünf Berufsrollen (Arbeitsweltliche Beraterin, Trainer für arbeitsweltliche Kompetenzentwicklung, Expertin für arbeitsweltliche Informationen und Assessment, Beeinflusser und Entwickler von sozialen Systemen und Programm- und Angebotsmanager) werden idealtypisch für die Aufgaben einer professionellen Beratungsfachkraft im EKS definiert (vgl. S. 132). Drei Kompetenzabstufungen sind für die Rollen jeweils zu identifizieren: Begleiterin (Beratung kann in der Schule oder am Arbeitsplatz auch von einer anderen Profession übernommen werden), Berater*in (explizite Beratungssettings) und Spezialist*in (z.B. für Angebotsentwicklung, die Leitung). Für die Ausbildung wurde die Ausrichtung an den Stufen des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) festgelegt.
Clinton Enoch, Professor an der HdBA, justiert das Verhältnis von Fach- und Prozessberatung in seinem Beitrag (S. 155-162) neu. Bildungsberatung als Form einer Fachberatung wird und wurde, wie andere Fachinformationen ebenso, eher als der „unwesentliche“ Teil von Beratung angesehen, während sich der andere Teil der Beratung auf die Entwicklung, Emotionen, den nicht-direktiven Prozess konzentriert und als die „eigentliche“ Beratung betrachtet werde. Diese Trennung und benannte Wertung überwindet Enoch mit überzeugenden Argumenten: Präsentation von Information im Beratungsprozess, soziales Eingebettetsein von Beratung und der Aufbau von Wissen während der Beratung verknüpfen die beiden Anteile und lassen eine „Neubewertung“ als integrative, gekoppelte Dimensionen von Fach- und Prozessberatung passender erscheinen als eine antagonistische Gegenüberstellung.
Ursel Sickendiek, Leiterin der Zentralen Studienberatung (ZSB) an der Universität Bielefeld und Frank Nestmann, bis 2014 Professor für Beratung an der Technischen Universität in Dresden, weiten den Blick von der unmittelbaren Beratung der oder des Ratsuchenden auf die „sozialen Beziehungen“ und fragen zu Recht „Wer berät mit?“ (S. 163-177). Damit richten sie die Aufmerksamkeit auf ein bisher vernachlässigtes Forschungsfeld, insbesondere in der Laufbahnberatung und dies, obwohl in den „theoretisch-konzeptionellen Entwicklungen der Laufbahnpsychologie und -beratung (…) ein Abrücken von einem einseitigen ‚western middle-class focus‘“ (S. 165) bereits angemahnt wurde. Sickendiek und Nestmann präsentieren Resultate verschiedener Studien, die beweisen, auf wie vielfältige Weise soziale Einflüsse die Beratungsqualität bedingen und solche Faktoren auch für die Beratung genutzt werden können. Am Beispiel der Zielgruppen von Mädchen und Frauen und geflüchteten Klient*innen verdeutlichen sie, welche Relevanz der „sozialen Bezogenheit“ (S. 170) in der Laufbahnberatung attestiert werden kann und welche Chancen offene Beratungssettings dabei bieten.
Zu 4: Potenziale und Ressourcen erkennen und entwickeln: Zugänge und Modelle
Hanni Bütler stellt das theoretische Konzept des „Zürcher Ressourcenmodell ZRM“ (S. 181) vor (S. 181-191) und gibt Einblick, wie sie im Laufbahnzentrum der Stadt Zürich berät. Basierend auf dem sog. Rubikon-Prozess von Maja Storch und Frank Krause, der den Reifungsprozess vom Bedürfnis zur Handlung in fünf Phasen unterteilt, werden mit der ZRM-Bildkartei im Laufbahnberatungsprozess Ressourcen der Ratsuchenden ausfindig gemacht und mit sog. „somatischen Markern“ (S. 184) verbunden, um entweder überhaupt ein erstrebenswertes Ziel zu finden oder die fünf Schritte zu festigen, mit positiven Bildern zu besetzen und den Prozess in Gang zu halten. Für die auf 6 Stunden und maximal auf 10 Stunden erweiterbare Beratung scheint die Vorgehensweise nach Auffassung der Verfasserin sehr praktikabel zu sein.
„Traumatisierung“ sei in der Beratung seit der verstärkten Zuwanderung ein Top-Thema, so Doris Deixler, in eigener Praxis traumatherapeutisch tätig (S. 193-202), sei jedoch im therapeutischen Behandlungsprozess stets vorhanden. In ihrem Beitrag fokussiert sie sich darauf, Indikatoren für Traumatisierung zu erkennen und die therapeutische Beziehungsgestaltung danach auszurichten. Wann immer ein Trauma in der Therapie auch auftauche, ob bewusst angesprochen oder während der Behandlung erscheinend, verleihe die reflektierte therapeutische Haltung als Basis für eine stabile Beziehung Sicherheit für das Klientel. Deixler betont die beraterischen und therapeutischen Möglichkeiten, Traumata behandeln und Menschen zu einer Bewältigungskompetenz verhelfen zu können.
„Der Studien-Navi. Ein innovatives Studienberatungstool im 18plus-Projekt“ (S. 203-215) wird von Georg Gittler, Professor an der Universität Wien, vorgestellt. Die Studienberatung sehe sich mit einer zunehmenden Anzahl an Studiengängen und als Folge mit verschiedenen Online-Self-Assessment (OSA) Tools konfrontiert, deren Qualität in der Fachwelt bezweifelt wird. In Österreich hat sich – getragen von den Bundesministerien für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) und für Bildung (BMB) – das Projekt 18plus Berufs- und Studienchecker etabliert, das kostenfrei allen Schulen mit Maturaklassen zur Verfügung steht. In dieses Projekt wurde 2014/2015 erstmals der Studienberatungstest Studien-Navi integriert. Er basiert auf einem Vier-Phasen-Modell zur Entwicklung des Studieninteresses. 120 Fragen hat Gittler dafür entwickelt, als Online-Test hat ihn die Firma Test 4 U GmbH bedienungsfreundlich und einfach umgesetzt. Alle Teilnehmer*innen erhalten eine Auswertung. Die Kritik an der Berufs-und Studieninteressentheorie von John Holland (1997) aufgreifend, verdoppelte Gittler die bis dahin 6 relevanten Dimensionen auf 12 und verfeinerte so die Daten. Zusätzlich wurden aus den Studienangeboten 125 Studiencluster gebildet. Sie sind die Grundlage für den Abgleich mit den individuellen Studieninteressen. 28.000 Testdurchführungen konnten 2016 registriert werden: Die Schüler*innen erhalten nach der Testung einen auf ihr Ergebnis abgestimmten Studienrichtungsvorschlag, den sie danach in verpflichtenden Kleingruppen mit den Bildungsberater*innen besprechen. Angesichts dieses Matchings ist die „vollständig evidenzbasierte Zuordnung von individuellen Interessen zu Studienrichtungen“ (S. 209) gewährleistet und ist gegenüber dem bisherigen „expert/innenbasierte[n] Beratungsansatz“ (S. 209) ein Novum, so der Verfasser.
Der Psychologe Martin Busch und die Sozialwissenschaftlerin Laura Soroldoni stellen den 18plus-Wegweiser vor, der für allgemein- und berufsbildende höhere Schulen entwickelt wurde und dazu dient, dass sich junge Menschen mit ihrer Berufs- und Studienwahl auseinander setzen. Anders als klassische Verfahren stützt sich der Fragebogen nicht darauf, kognitive Leistungsfähigkeit oder berufsbezogene Interessen abzufragen. Er distanziert sich von den klassischen Berufswahltheorien (z.B. nach John Holland und Donald Super) und setzt auf die „Career Construction Theory“ von Savickas (2012). Zentrale Annahme ist die „Laufbahnadaptabilität“ (S. 218). Sie besagt, dass aus dem Zusammenwirken der vier Kompetenzen Zukunftsorientierung, Entscheidungs- und Verantwortungsübernahme, Informationen und Wissen über die Arbeitswelt und Vertrauen in sich selbst, die Bereitschaft entsteht, eine berufliche Identität ausbilden zu wollen und sich der Arbeitswelt anzupassen. Zur Erhebung dieser Dimensionen wurde die sog. Career Adapt-Abilities Scale konstruiert, die in der deutschen Fassung im 18plus Wegweiser verwendet wird. Die Schüler*innen erhalten als Antwort auf das Testergebnis Hinweise, wie sie mit den Resultaten umgehen können.
Diskussion und Fazit
Mit diesem Sammelband wird die lohnende Tradition der Niederschriften zu den Fachtagungen des bifeb von 2016 mit dem Akzent auf die Herausforderung der Laufbahnberatung durch „Migration und multikulturelle Gesellschaften“ (S. 57) fortgesetzt. Es kann als ein großes Verdienst des Tagungsteams betrachtet werden, sich der Thematiken anzunehmen, die durch Diversität entstehen, unabhängig davon, ob sie durch Flucht, Vertreibung oder Migration entstanden ist. So wie sich gerade eine theoretische und gesellschaftliche Reflexion über Integration zu etablieren beginnt, muss sie auch auf die Beratung übergreifen und die Beratungsfachkräfte rollenübergreifend sensibilisieren. Selbst wenn das „Wie“ noch nicht ausreichend elaboriert ist, zeigen einzelne Praxisbeispiele im Band bereits erfolgreich, was schon jetzt höchst wirkungsvoll getan werden kann – ohne dabei eine monokulturelle Dominanz auszuüben.
Neben der Darstellung von interessanten Studienergebnissen gewinnt der Band seine Qualität insbesondere an den Stellen, an denen kritisch hinterfragt wird, woran der Beratungserfolg oft gemessen wird, wofür beraten wird, worauf verzichtet wird bei der Beratung und wozu das Beratungssystem dient. Bei aller Effektivität, die Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung auf der individuellen, auf der organisationellen und der System-Ebene erreichen kann, muss die Ausübung der Tätigkeit immer wieder auf mögliche Störquellen (wie z.B. die Vernachlässigung der sozialen Beziehungen) hinterfragt werden. Der vage Untertitel des Bandes „schwierige Zeiten“ verweist auf nicht genau bestimmbare Anforderungen an Beratung aus ganz unterschiedlichen Richtungen, wie z.B. die Heterogenität der Problemlagen aufgrund von Migration, aber auch auf Veränderungen im Beratungsprozess selbst, wie z.B. die Beratung am Übergang von Schule und Studium oder die Veränderungen der Beratungsmedien.
Eines verdeutlicht der Band insbesondere, dass Beratung in unterschiedlichen Intensitätsstufen stattfinden kann und in jedem Fall auf Kompetenz fußt, die – in verschiedenen Studiengängen zwar – aber ausgebildet und sich stets reflexiv erneuern muss. Dies gilt sowohl für den Beratungsinhalt als auch für den -prozess. Für Lehrende in beratungsaffinen Studiengängen ist der Band (wie die Vorgängerbände der Reihe) eine Fundgrube, um sich selbst mit Wissen anzureichern, aber auch um Beiträge für die studentische Lektüre zu empfehlen. Für Beratungspraktiker*innen und auch für Studienprogrammverantwortliche, die sich um den Zuschnitt von Studiengängen Gedanken machen, enthält der Band sehr viel Lesenswertes.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 79 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.
Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 12.09.2017 zu:
Marika Hammerer, Erika Kanelutti-Chilas, Gerhard Krötzl, Ingeborg Melter (Hrsg.): Zukunftsfeld Bildungs- und Berufsberatung IV. Schwierige Zeiten - Positionierungen und Perspektiven. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2017.
ISBN 978-3-7639-5773-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22949.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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