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David Studer: Kriminalitätsfurcht und Viktimisierung im Alter

Rezensiert von Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger, 26.01.2018

Cover David Studer: Kriminalitätsfurcht und Viktimisierung im Alter ISBN 978-3-7083-0980-4

David Studer: Kriminalitätsfurcht und Viktimisierung im Alter. Ergebnisse einer nationalen Opferwerdungsbefragung unter österreichischen Seniorinnen und Senioren. Neuer Wissenschaftlicher Verlag NWV (Wien) 2014. 252 Seiten. ISBN 978-3-7083-0980-4. CH: 68,00 sFr.
Schriftenreihe zur Kriminologie und Kriminalprävention, Bd. 1.

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Autor und Entstehungshintergrund

Die quantitative empirische Forschung zum Opferwerdungs-Risiko sowie zu den Kriminalitätserfahrungen älterer Menschen befindet sich derzeit noch in ihren Anfängen. In diesem Buch, welches als Dissertation des Autors an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich eingereicht wurde, werden Ergebnisse einer nationalen Opferwerdungsbefragung unter österreichischen Seniorinnen und Senioren dargestellt. Mit der Studie sollten gezielt quantitative Daten gewonnen werden, „anhand derer sich die Verbreitung von Kriminalitätsfurcht und Opferwerdung bezüglich verschiedener Deliktskategorien einer gesellschaftlichen Gruppe beurteilen ließ, die in den letzten Jahrzehnten zusehends auch in das Blickfeld der Öffentlichkeit und sozialwissenschaftlichen Forschung gerückt ist“ (S. 11).

Die Beschäftigung mit diesen Fragen hat ganz praktische Implikationen, nämlich inwiefern es Sinn macht schon bestehende kriminalpräventive Kampagnen auszubauen, in denen (österreichische) Seniorinnen und Senioren für zielgruppenspezifische Themen wie Trickbetrug oder Gewalt in der Pflege sensibilisiert werden.

Aufbau und Inhalte

Im Buch werden zwei große Themenbereiche behandelt.

  1. Die leitende Fragestellung für die Analysen der Kriminalitätsfurcht ist: „Wie verbreitet ist die Furcht vor Kriminalität unter österreichischen Senioren und wie handlungs- und alltagsrelevant ist sie“ (S. 45)?
  2. Die leitenden Fragestellungen für die Analysen der Opferwerdung sind: „Von welchen Delikten und in welchen Deliktsbereichen (klassische strafrechtliche Delikte, Altersdiskriminierung, Missbrauch und Vernachlässigung) werden ältere Senioren – im Vergleich zu (jüngeren) Senioren – häufig Opfer?“ Weiterhin: „Welche altersspezifischen Merkmalsausprägungen sind empirisch mit einer höheren bzw. geringeren Kriminalitätsgefährdung verknüpft (Auffinden von Risikofaktoren)“ (S. 45)?

Das Buch gliedert sich in sechs aufeinander aufbauende Kapitel, die im Folgenden zusammengefasst werden.

Im zweiten Kapitel (Demographischer Wandel) wird auf Ursachen und Auswirkungen der „Überalterung“ im Hinblick auf die demographischen Prozesse Österreichs eingegangen. Hier wird eine kurze Einführung in die Lebenslagen österreichischer Seniorinnen und Senioren gegeben. Für Österreich sei, wie für die anderen europäischen Länder auch, eine aufgrund der beiden Baby-Boom-Generationen Überalterung der Gesellschaft als Ganzes sowie die überproportionale Zunahme der Anzahl an Hochaltrigen zu erwarten (S. 16). Als ursächlich für diesen sog. Demographischen Wandel wird in sehr kurzen Abschnitten auf die Dimensionen Fertilität, Mortalität und Migration eingegangen.

Das Kapitel drei (Probleme älterer Menschen) beleuchtet allgemein die Problemlagen der österreichischen Seniorinnen und Senioren. Um konkrete Schwierigkeiten und latente Ängste dieser Zielgruppe direkt in Erfahrung zu bringen, sei es notwendig diese in Form von qualitativen und quantitativen Befragungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Problembereiche, so der Autor, ließen sich in sog. Sorgenbarometer (für Österreich: Präventionsmonitor; für die Schweiz: CS-Sorgenbarometer; für Deutschland: stern-Sorgenbarometer) erheben; diese erfassen, wie sich bestimmte Sorgen und Probleme der Bevölkerung im Zeitverlauf entwickeln (z.B. Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung) (S. 29). In der eigenen Studie des Autors bewegen sich persönliche Befürchtungen von Seniorinnen und Senioren in folgender Rangreihe (größte Befürchtung zuerst): Vereinsamung, Abhängigkeit von anderen, gesundheitliche Schmerzen, Tod von Freunden, finanzielle Sorgen und Verarmung, Kriminalitätsopfer zu werden (S. 41-42). Obwohl die Kriminalität kein vorrangiges Problem darstellt, sondern eher im hinteren Mittel- bis Schlussfeld rangiert, sei „die Erfassung der gegen Senioren gerichteten Kriminalität und derer subjektiven Seite, der Kriminalitätsfurcht, (…) jedoch trotzdem wichtig“, so Studer (S. 42).

In Kapitel vier (Methodik) diskutiert der Autor die wesentlichen methodischen Eckpunkte und geht im Speziellen auf mögliche methodische Probleme, nicht nur von Seniorinnen- und Seniorenbefragungen, ein. Hierzu zählen: sozial erwünschtes Antwortverhalten, Kommunikationsprobleme, Verweigerung. Die Ziehung der mehrfach geschichteten Zufallsstichprobe sowie die Feldphase wurde vom Institut für empirische Sozialforschung GmbH (IFES) durchgeführt. Aufgrund methodologischer Abwägungen wie auch gerontologischer Befunde wurde eine standardisierte persönliche Befragung mittels Interviewern realisiert (S. 53-57). Die Hauptbefragung fand in ganz Österreich zwischen Januar und März 2012 statt. Der der Hauptbefragung vorgeschaltete Pretest wird auf den S. 57-60 beschrieben. Als Erhebungsinstrument diente ein standardisierter Fragebogen, welcher ca. 200 Fragen, die sich zu neun Frageblöcken zusammenfassen ließen, enthielt (S. 64-65). Die Altersverteilung der erzielten Stichprobe von N=2.069 Befragten ist im Vergleich zur Wohnbevölkerung der Tendenz nach in der unteren Altersgruppe etwas über-, in der oberen Altersgruppe etwas untervertreten (S. 66-67). Von besonderem Interesse in diesem methodischen Kapitel ist das Unterkapitel zur Validität der Auskünfte von Seniorinnen und Senioren, welches sich in zwei Abschnitte zur sozialen Erwünschtheit (S. 69-75) sowie zur kognitiven Beschränkung (S. 75-81) aufteilt.

In Kapitel fünf (Kriminalitätsfurcht) wird das subjektive Erleben von Kriminalität thematisiert. Neben deskriptiven Aussagen sollen auch mögliche die Furcht generierende Faktoren identifiziert werden. Zunächst wird in diesem Kapitel erläutert, was unter dem Begriff der „Kriminalitätsfurcht“ verstanden wird, bevor die Operationalisierung von Kriminalitätsfurcht in der vorliegenden wie auch in anderen Studien vorgenommen wird. Kriminalitätsfurcht sei grundlegend von einer theoretischen Unschärfe besetzt, so Studer. Dies zeige sich vor allem darin, dass unterschiedliche Begrifflichkeiten nahezu synonym verwendet würden, z.B. Angst vor Kriminalität oder Verbrechensfurcht (S. 91). Die Diskussion darüber, ob eine multidimensionale oder unidimensionale Operationalisierung dieses komplexen Konstrukts notwendig ist, vermeidet der Autor, indem Kriminalitätsfurcht auf unterschiedliche Arten operationalisiert wurde: mittels Standardindikator (S. 94-99) und dem Drei-Komponenten-Modell (S. 99-103). Zusammenfassend nennt Studer (S. 162-166) Variablen, die in vielen Modellen statistisch überzufällig mit Kriminalitätsfurcht assoziiert waren. Die bisher bekannte Annahme, dass ein hohes Alter mit einer zunehmenden Kriminalitätsfurcht in Verbindung gebracht wurde muss relativiert werden, da dieser Effekt bei Kontrolle von Drittvariablen (Vulnerabilität, Geschlecht) verschwindet. Auch der Effekt des Geschlechts (bisher galt, dass Frauen mehr Kriminalitätsfurcht zeigen) gilt nicht uneingeschränkt und zeigt sich nur bei gewissen Delikten. Insgesamt seien die Ergebnisse der Studie größtenteils mit der bestehenden Forschungsliteratur übereinstimmend, so Studer (S. 170). Dies gilt für die Viktimisierungsperspektive, die besagt, dass Personen mit direkten oder indirekten Opfererfahrungen eine höhere Kriminalitätsfurcht ausbilden; dies gilt nicht für die Soziale-Problem-Perspektive, die besagt, dass der Medienkonsum spezieller Genres (Kriminalfilme) die Kriminalitätsfurcht erhöht; dies gilt für die Vulnerabilitätsperspektive, die besagt, dass sich verletzliche Opfer aufgrund ihrer psychischen und physischen Konstitution für Tatgeneigte ein leichteres Ziel darstellen; dies gilt für die Social-Disorder bzw. Broken-Windows-Modelle, in denen Anzeichen sozialen Zerfalls in der Wohnumgebung (Incivilities) furchteinflößende Wirkung zugeschrieben wird (S. 167-171).

In Kapitel sechs (Viktimisierung) werden Opferwerdungserfahrungen von Seniorinnen und Senioren beschrieben und Risikofaktoren („Multiviktimisierung“) aufgezeigt. In dieser Studie wurde versucht Viktimisierung thematisch relativ umfassend zu erheben. Neben den relevanten klassischen strafrechtlichen Delikten wie Körperverletzung und Diebstahl wurden auch verschiedene Formen von Diskriminierung aufgrund des Alters (Ageismus) und Vernachlässigung und Missbrauch abgefragt (S. 173). Zunächst wird der internationale Forschungsstand über das Risiko von Seniorinnen und Senioren, Opfer zu werden, kurz dargelegt. Aus diesem Überblick ergibt sich ein insgesamt wenig besorgniserregendes Gesamtbild, so der Autor (S. 178). Je nach Deliktart weisen Seniorinnen und Senioren eine höhere Belastung auf, dennoch wäre es gemäß Studer falsch „aus dieser unspektakulären Bedrohungslage in der Lebensphase Alter zu schließen, dass kein Handlungsbedarf bestehe“ (S. 178). Im Bereich der Altersdiskriminierung sind die Prävalenzraten insgesamt als relativ hoch anzusehen. Als Risikofaktoren der Altersdiskriminierung zeigten sich der selbst eingeschätzte allgemeine Gesundheitszustand sowie einzelne körperliche Einschränkungen im Gehen und Sehen. Bezüglich der Opferwerdung im Bereich des Missbrauchs und der Vernachlässigung berichteten die Befragten von nur sehr wenigen Fällen, was einer Prävalenz von deutlich unter einem Prozent entspricht. Risikofaktoren zu ermitteln sei aufgrund der geringen Fallzahl an Opfern schwierig, dennoch gebe es Hinweise darauf, dass eine eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit, einen Risikofaktor darstellt (S. 225-226). Bezüglich strafrechtlicher Delikte erwies sich die Kategorie sonstiger Diebstahl aber auch der Warenbetrug als relativ verbreitet (Prävalenzrate von 3.8 % und über 2 %). Als Risikofaktoren kristallisierten sich das Alter, das Geschlecht sowie die Wohnregion heraus (S. 226). Für die Viktimisierungsformen Ageismus, Elder abuse und Strafrechtsdelikte gilt, „dass Opferwerdung bezüglich eines Delikts mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Opferwerdung bzgl. anderer Delikte einhergeht“ (S. 226).

Schließlich bilanziert der Autor in Kapitel sieben die Ergebnisse der vorausgehenden Kapitel und schließt Überlegungen zu kriminalpolitischen Maßnahmen an. Bezüglich der Kriminalitätsfurcht hat sich gezeigt, dass sich die befragten österreichischen Seniorinnen und Senioren im Alter keineswegs stärker fürchten als jüngere Befragte, sodass das „stereotype Bild des sich irrational fürchtenden Alten“ aufgrund der Ergebnisse nicht aufrechterhalten werden kann (S. 231). Bezüglich der Viktimisierung lässt sich aus dieser Studie der Schluss ziehen, „dass ältere Menschen bezüglich klassischer strafrechtlicher Delikte eine wenig belastete Gruppe sind“ (S. 233). Ob Präventions- oder Interventionsmaßnahmen ergriffen werden, hängt laut Studer „häufig von normativen Wertungen ab, die den Ergebnissen selbst nicht zu entnehmen sind“ (S. 234). So sieht der Autor diese Entscheidung eher als Aufgabe der Rechtspolitik, als die der Sozialwissenschaft. Trotzdem werden kurz Maßnahmen diskutiert, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen: Maßnahmen, die a posteriori (d.h. nach einer Viktimisierung) ergriffen werden, sowie Maßnahmen, die bereits a priori verhindern sollen, dass es zu einer Viktimisierung kommt. Zu den verbreitetsten Maßnahmen, deren Wirksamkeit aber empirisch schwer nachzuweisen ist, gehören Präventionskampagnen, mit denen Polizei oder Organisationen Seniorinnen und Senioren über kriminelle Machenschaften aufklären und zur Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung beitragen wollen (S. 235). Ebenso wertvoll könnte es sein, verstärkt sog. guardians (nicht nur Ärzte und medizinisches Personal, sondern auch Personen, die im Alltag ihre Augen offenhalten) im Erkennen von Indizien, die auf Misshandlung hindeuten, zu sensibilisieren. Ebenso könnten städteplanerische Maßnahmen dort ansetzen, wo hohe Kriminalitätsfurchtwerte identifiziert wurden, und die Incivilities reduzieren.

Diskussion

Das Ziel der vorliegenden Studie, nämlich eine aussagekräftige, quantitative Datenlage zu gewinnen, mit derer sich die Verbreitung von Kriminalitätsfurcht und Opferwerdung von Seniorinnen und Senioren abbilden lässt, kann als erfüllt gelten. Die Arbeit Studers kennzeichnet sich dadurch, dass zentrale Begriffe (z.B. Viktimisierung) trennscharf definiert werden; besonders das methodische Vorgehen kann als gründlich beschrieben werden, ist nachvollziehbar und wird an vielen Stellen kritisch reflektiert (z.B. Forschung im Dunkelfeld, Auswahlbias, Erfassungsehrlichkeit und Mitteilungsbereitschaft, Erinnerungsfehler, Non-recall, Telescoping-Effekte, S. 179-186). An manchen Stellen weisen die verwendeten Graphiken eine schlechte Qualität auf und Tabellen sind schwer lesbar. Für den Lesefluss wären mehr Zwischenzusammenfassungen in den Kapiteln angebracht. Der Fragebogen im Original im Anhang wäre ebenso hilfreich. Auf Kapitel zwei (Demographischer Wandel) hätte in dieser Kürze verzichtet werden können. Ebenso hätte das Schlusskapitel, besonders vor den zentralen Ergebnissen der Studie, die klassischen Altersstereotypen im Bereich Kriminalität widersprechen, vertiefter hinsichtlich einem Für und Wider von Präventions- und Interventionsmaßnahmen diskutiert werden können.

Fazit

Die vorliegende quantitative Studie ist ein gelungener Beitrag, der die Themenbereiche Kriminalitätsfurcht und Viktimisierung bei österreichischen Seniorinnen und Senioren genauer unter die Lupe nimmt. Das Buch ist durchaus lesenswert für diejenigen, die sich mit Kriminalitätsfurcht und Opferwerdung von Seniorinnen und Senioren beschäftigen und eine fundierte Datengrundlage suchen. Ebenso bietet das Buch viele Anregungen, wie eine quantitative Umfrage in einer speziellen Thematik mit einer speziellen Zielgruppe zu gestalten ist.

Rezension von
Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger
Dozentin und Projektleiterin Institut für Sozialmanagement, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
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Es gibt 11 Rezensionen von Sigrid Haunberger.

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ISSN 2190-9245