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Lothar Böhnisch: Abweichendes Verhalten

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 06.11.2017

Cover Lothar Böhnisch: Abweichendes Verhalten ISBN 978-3-7799-2187-5

Lothar Böhnisch: Abweichendes Verhalten. Eine pädagogisch-soziologische Einführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 5., überarbeitete Auflage. 276 Seiten. ISBN 978-3-7799-2187-5. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.

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Thema

Der Einführungsband, erschienen in der Reihe Grundlagentexte Pädagogik im Beltz-Juventa Verlag, erschließt einen sozialwissenschaftlichen Zugang zu den Bedingungsfaktoren, Hintergründen und Ausdrucksformen abweichenden Verhaltens. Vor dem Hintergrund einer auf Sozialisations- und Erziehungsfaktoren beruhenden Perspektive werden kriminologische Devianztheorien auf die pädagogische Bewältigungsthematik bezogen und zu einem interdisziplinären Modell integriert und in konkrete Handlungszusammenhänge der Pädagogik und Sozialen Arbeit gestellt.

Autor

Lothar Böhnisch (*1944) ist emeritierter Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter der TU Dresden. Seit 2008 lehrt er an der Freien Universität Bozen/Standort Brixen an der Fakultät für Bildungswissenschaften. Als Fachautor hat er zahlreiche Schriften, u.a. zur Sozialpädagogik der Lebensalter, zum Lebensbewältigungskonzept oder zur männlichen Sozialisation publiziert.

Aufbau und Inhalt

Das inhaltlich nicht weiter gegliederte Werk umfasst 25 Kapitel, deren Abfolge eine inhaltliche Unterteilung ermöglichen: Kapitel eins bis drei thematisieren einleitend Grundbegriffe und übergeordnete Aspekte des Phänomens „Abweichendes Verhalten“, in den folgenden 16 Kapiteln werden relevante Theorien und Faktoren (Anomietheorie, Etikettierung, Geschlecht, Jugendkriminalität etc.) aufgegriffen. Abschließend formuliert der Autor darauf aufbauend Ansätze für die pädagogische Praxis und streift dabei Prävention, Intervention und Strafaspekte.

Einleitung

Unter der Überschrift „Was gilt als normal und was als abweichend?“ formuliert Böhnisch zunächst seine Annäherung an das Thema, definiert zentrale Begriffe zwischen Norm und Abweichung und benennt, dass Abweichung ein Konstrukt aus Verhalten und Zuschreibung darstellt, das nicht eindimensional betrachtet werden kann. Der Prozess der Normanpassung und Abweichung weist dabei eine entwicklungspsychologische Komponente auf, wobei Devianz als Bewältigungsversuch (bezogen auf Entwicklungsaufgaben, Umgebungsfaktoren) gesehen werden kann. Devianz erscheint hier als -abgespaltener- Versuch die Hilf- und Machtlosigkeit von Individuen als „Handlungsfähigkeit um jeden Preis“ (19) zu bewältigen und ist damit eine Botschaft der Betroffenen, die auf „Hilflosigkeit … in kritischen Lebenskonstellationen“ (ebd.) hinweist, wobei diese Konstellationen als psychosoziales Ungleichgewicht beschrieben werden, in denen Selbstwert, soziale Anerkennung und Selbstwirksamkeit(serleben) gestört sind „und die bislang verfügbaren … Ressourcen der Bewältigung nicht mehr ausreichen“ (21). Damit steht das „bedrohte Selbst“ (23) im Mittelpunkt von Böhnischs Devianzbegriff, wobei Devianz als Ausdrucksform der Abspaltung der eigenen Hilflosigkeit aufgefasst wird.

Devianzfaktoren und -theorien

Geschlechtszugehörigkeit, soziale Herkunft, ethnischer Hintergrund, Wohnumwelt, gesellschaftliche Veränderungsprozesse und der mit diesen Aspekten assoziierte Kontrollverlust, auch das Empfinden von Regellosigkeit in der Gesellschaft werden in den folgenden Kapiteln beschrieben, die dazu verfügbaren Theorien und Erklärungsansätze erschlossen und erklärt. Ein besonderes Augenmerk richtet Böhnisch hier auf die Anomietheorie (und deren Zusammenhang zu gesellschaftlichen Krisen und auf den Etikettierungsansatz, deren Entstehungsgeschichte und aktuelle Bedeutung dargestellt werden). Devianz wird hier, konsequent in Fortführung der eingangs formulierten Überlegungen als wechselseitiger Prozess beschrieben, bei dem Zuschreibungen auf bestimmte Personen oder Gruppen erfolgen und Devianz als Übernahme von solchen Zuschreibungen im Rahmen einer devianten Sozialisation erfolgen.

Weitere Kapitel beschäftigen sich mit dem Zusammenhang sozialkultureller Konflikte und subkulturellen Dynamiken und den Phänomen Gruppenzugehörigkeit und Gruppenzwang. Bezugspunkte sind hier die Subkulturtheorie der 1930er Jahre in den USA („Chicago-Schule“), die Statussuche marginalisierter Bevölkerungsgruppen in der Subkultur, die Theorie der „differentiellen Gelegenheiten“ (63) als spezifischer, fortdauernder Lernprozess der zum Erwerb antisozialer Dispositionen führt und Ansätze zur Bedeutung von Gruppen, z.B. zum Aspekt Macht der Gruppe, der Bedeutung von Gruppendynamik und insbesondere die Bedeutung von Gleichaltrigengruppen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben.

Auf die besondere Bedeutung der Devianzentwicklung in der Kindheit (mit fortgesetzter Devianz im Erwachsenenalter) geht Böhnisch in zwei Kapiteln ein. Einmal beleuchtet er spezifische Familienverhältnisse (Überforderung der Eltern, Vernachlässigung, Gewalttätigkeit) und deren psychosoziale Konsequenzen, im Weiteren geht er auf psychodynamische Aspekte des Kindes ein, dessen Bedürfnisstruktur in Abhängigkeit zu einem wahrnehmenden und fördernden Umfeld beschrieben wird. Bezugspunkte sind hier die psychoanalytische Kindheitsforschung, Überlegungen zur neurotischen Struktur kindlicher Aggressivität und (sehr begrenzt) bindungstheoretische Aspekte.

Daran anknüpfend erfolgt die Darstellung zum Zusammenhang Jugend und Devianz. Jugend wird hier, mit Bezugnahme auf die Überlegungen von Eisenstadt („Jugend als Lebensphase potentieller Devianz“) der Übergang ins Erwachsenenalter als fragile Entwicklungsphase dargestellt, in der die spezifischen Entwicklungsaufgaben (Lösung von der Familie, Entwicklung von Autonomie) als Hintergrund für Abweichung in verschiedensten Lebensbereichen erscheinen. Schwerpunkte setzt Böhnisch hier in den Bereichen Risikoverhalten, Suchtmittelkonsum und kriminelles Verhalten und verweist auf ausgewählte Referenzliteratur.

Weitere Abschnitte gehen auf den Zusammenhang von Medienkonsum und Devianz, soziale Ausgrenzungsprozesse, selbstschädigendes Verhalten, Aggressivität (im Kontext sozialer Positionierung und Selbstwirksamkeitserleben) und sexuelle Gewalt ein. Die Schwerpunkte liegen hier auf den Merkmalen der jeweiligen Störungsgruppe, bzw. des -feldes. Deutlich wird auch in diesen Darstellungen zu spezifischen Devianzformen, dass abweichendes Verhalten, auch in seinen Extremformen wie z.B. sexualisierter Gewalt als Bewältigungsversuch (164) für erlebte Spannungszustände aufgefasst werden kann, bzw. werden muss.

Die Darstellungen zu einzelnen Devianzfaktoren enden mit Kapiteln zu Devianz im Kontext der  Jugendhilfe und dem spezifischen Umfeld Schule – Schulstruktur und abweichendes Verhalten. Vor allem in dem sehr umfangreichen Kapitel zur Schulstruktur beschreibt Böhnisch, inwiefern kulturelle und formale Rahmenbedingungen Devianz begünstigen (können), etwa wenn über den Weg der Leistung und Auslese im sozialen (Bildungs)prozess soziale Kategorien geschaffen werden und Randgruppen definiert, bzw. gebildet werden (Schule als anomische Struktur).

Prävention und Intervention

Die letzten sechs Kapitel beschäftigen sich mit möglichen Interventions- und Präventionsansätzen in Pädagogik und Sozialer Arbeit. Hier wirft Böhnisch zunächst einen Blick auf die Opfer von Straftaten und präsentiert Forschungsergebnisse aus den Bereichen Schule und Gewalt, Viktimologie und auf den Ansatz des Täter-Opfer-Ausgleichs.

In einem weiterem Beitrag benennt Böhnisch die diagnostischen Erfordernisse im Rahmen devianzpädagogischer Programme. Hier geht es ihm darum „die Menschen hinter der Tat zu finden“ (218), also die je spezifischen Hintergründe für konkretes abweichendes Verhalten zu benennen, etwa entwicklungspsychologische Konflikte, individuelle Bewältigungsprobleme oder weitergehende Probleme der Etikettierung und Stigmatisierung aufzudecken. Dieses diagnostische Erfordernis arbeitet Böhnisch im nächsten Kapitel zu einer grundsätzlichen Haltung gegenüber Devianz und deviantem Verhalten aus: ihm geht es hier darum die „Botschaften, die hinter dem abweichendem Verhalten“ (225) stecken zu erkennen und mit geeigneten Interventionen (genannt werden Reframing und Gestaltung von funktionalen Äquivalenten), welche als neue Erfahrungssettings neue soziale Erfahrungen ermöglichen (239) eingesetzt werden.

Die Überlegungen zur Intervention werden in einer grundsätzlichen kritischen Auseinandersetzung mit Strafe, Strafen und Strafpraxis weitergeführt (wobei Strafen als interaktiver und wegweisender Vorgang definiert wird), wobei hier auch Grenzen erreicht werden können, z.B. im Bereich der Krisenintervention (247), wo die Dynamik des devianten Geschehens die pädagogischen Akteure oftmals an die Grenzen des machbaren führen.

Das Buch endet mit einem Kapitel zur Kritik von Präventionsprogrammen. Alle präventiven Ansätze beziehen sich, so Böhnisch, auf ein Geschehen in der Zukunft, auf Entwicklung und positive Veränderung (257), wobei es zu einer gewissen Pathologisierung der Klientel kommen kann, wenn z.B. auffälliges Verhalten das noch keine Devianz im engeren Sinn darstellt als Merkmal für eine sich abzeichnende Devianz aufgefasst wird und Klienten dann (als scheinbar logischer Schluss) als künftig Deviante etikettiert werden. „Präventionsprogramme können immer auch zu einer Ausweitung von Repression und sozialer Kontrolle führen“ (258), was die (Sozial)pädagogik in die Funktion einer Kontrollagentur drängen kann, welche vorwiegend auf Defizite und Negativmerkmale verweist, ohne die (sozialen) Selbstregulationsanteile von Individuen und Gruppen zu erkennen und entsprechend zu fördern.

Diskussion

Lothar Böhnischs Einführung in die Devianztheorie liegt in der fünften Auflage vor. Das kann als Hinweis gelten, dass in Ausbildung und Praxis ein hoher Bedarf nach einem verständlich geschriebenen Einführungsband zum Phänomen „Abweichendes Verhalten“ besteht, dass die pädagogischen, soziologischen und (teilweise) psychologischen Zugänge erschließt und daraus pädagogische und sozialarbeiterische Handlungsansätze ableitet, bzw. die bekannten Interventionsformen beschreibt und analysiert. Genau das gelingt Böhnisch mit diesem Buch, das in der Reihe Grundlagentexte bestens aufgehoben ist. Die einzelnen Theoriestränge werden in durchgängig verständlicher Sprache formuliert, teilweise die Ideengeschichte devianztheoretischer Ansätze beschrieben, oft durch Fallbeispiele illustriert,  Zentrale theoretische Konstrukte in Schaukästen komprimiert. Dabei beschränkt sich Böhnisch auf zusammenfassende Darstellungen und Überlegungen der theoretischen Inhalte und formuliert stattdessen ausführlich den praktischen Gehalt seiner Ausführungen für Pädagogik und Soziale Arbeit.

Als Grundlagentext ist das Buch, neben seiner Aufarbeitung wesentlicher Devianztheorien auch deshalb wertvoll, weil es soziale Problemlagen, die Gegenstand von Pädagogik und Sozialer Arbeit werden, als mehrdimensionales Phänomen zwischen handelndem Subjekt und umgebender Lebenswelt beschreibt, womit ein zentraler Nerv, eine grundlegende Perspektive Sozialer Arbeit angesprochen wird. Die Person-In-Environment-Perspektive, schon frühzeitig von Mary Richmond formuliert, greift für die Soziale Arbeit genau diesen Ansatz auf und leitet daraus das spezifische Fallverstehen (in Diagnostik, Intervention, Evaluation) ab. Dieser zentrale Bezugspunkt findet sich leider nicht in dem ansonsten klug konzipierten Einführungsband.

Hier wäre dann auch ein Hinweis auf Sozialtherapie und Klinische Sozialarbeit als methodischer Ansatz zur Behandlung psycho-sozialer Problemlagen gefragt gewesen, der aber ebenfalls keinen Platz in dem sonst umfangreichen Einführungsband gefunden hat. Böhnisch geht auf unterschiedliche Devianzphänomene ein: Risikoverhalten, Sucht, Kriminalität, sexuelle Gewalt, Autoaggression, Schulprobleme, Ausgrenzungsphänomene. Als wichtiges Arbeitsfeld wären hier psychosoziale Gesundheit und psychiatrische Störungen zu ergänzen. Psychische Erkrankungen sind, jenseits individualisierender Symptomatik (wie sie durch eine naturwissenschaftliche Perspektive formuliert werden) immer auch psycho-soziale (Interaktions)Phänomene, was für deren Genese, Ausprägung und Bewältigung gilt. Ein Kapitel zu dieser Erscheinungsform abweichenden Verhaltens sollte in eine sechste Auflage des Einführungsbandes dringend aufgenommen werden.

Zielgruppe

Studierende und BerufseinsteigerInnen in den Berufsfeldern der Sozialen Arbeit und Pädagogik.

Fazit

Böhnisch erschließt einen sozialwissenschaftlichen, pädagogischen und biografischen, teilweise psychoanalytisch orientierten Zugang zu den Bedingungen und Erscheinungsformen abweichenden Verhaltens. Abweichendes Verhalten wird mit Verweis auf die pädagogische Bewältigungsthematik nicht als rein dysfunktionales Phänomen beschrieben, sondern als Versuch von Individuen, Anforderungen und Spannungszustände zu bewältigen. Dazu werden im Schlussteil die theoretischen Erträge für Pädagogik und Soziale Arbeit erschlossen und in Bezug auf eine begrenzte Auswahl von Interventionsformen in Prävention und Intervention gesetzt. Damit erschließt der Band wichtige theoretische Grundlagen für die Methodenentwicklung und empfiehlt sich als unverzichtbarer Grundlagentext, dem sicher weitere Neuauflagen folgen werden.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245