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Hans Bertram (Hrsg.): Zukunft mit Kindern, Zukunft für Kinder

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 14.08.2017

Cover Hans Bertram (Hrsg.): Zukunft mit Kindern, Zukunft für Kinder ISBN 978-3-8474-0551-1

Hans Bertram (Hrsg.): Zukunft mit Kindern, Zukunft für Kinder. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland im europäischen Vergleich. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2017. 300 Seiten. ISBN 978-3-8474-0551-1. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 36,80 sFr.

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Thema

Das Thema Kinder und Kindheiten hat seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. In den Sozial- und Erziehungswissenschaften haben sich neue Ansätze der Kinder- und Kindheitsforschung herausgebildet. Sie setzen sich mit überkommenen Kindheitsbildern auseinander und versuchen sich dem Leben der Kinder aus deren Perspektive zu nähern. Kindheit wird als historisches Phänomen begriffen, das immer wieder im Wandel ist und gerade zum Ende des 20. Jahrhunderts neue Konturen angenommen hat und die Kinder ebenso wie die Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellt. Kinder werden als Akteure verstanden, die aktiv an ihrer eigenen Sozialisation mitwirken und in ihren Gesellschaften verstärkt auf Mitsprache drängen. In diesem Zusammenhang wird auch den Rechten der Kinder wachsende Bedeutung beigemessen, die seit 1989 in der UN-Kinderrechtskonvention international und völkerrechtlich verankert sind.

Wie das Leben von Kindern und ihre Kindheiten zu beurteilen sind, wird seit einigen Jahren verstärkt unter der Frage diskutiert, worin die „Qualität“ von Kindheit oder das „Wohlbefinden“ von Kindern besteht. Zu dieser Frage werden immer häufiger empirische Studien und theoretische Entwürfe verfasst. Oft wird sie sogar dahingehend zugespitzt, ob Kindern eine „glückliche Kindheit“ ermöglicht wird.

Unter Kindheitsforscher*innen besteht zwar inzwischen Einigkeit, dass die Sichtweisen von Kindern zu ihrer Lebenssituation wichtig sind und Kinder die Möglichkeit haben sollen, auch in der Forschung zu Wort zu kommen, aber was unter Wohlbefinden zu verstehen ist und ob bzw. wie es „gemessen“ werden kann, wird kontrovers diskutiert. Während die einen versuchen, die augenblickliche Lebenszufriedenheit oder gar das Glück der Kinder zu erfassen, ist es anderen wichtig, auch die Auseinandersetzung der Kinder mit ihrer gegenwärtigen und künftigen Lebenssituation und ihre „Bewältigungsstrategien“ ins Auge zu fassen. Ebenso umstritten ist, ob das Wohlbefinden in kurzfristig angelegten Meinungsbefragungen zu ermitteln ist, oder ob komplexere Forschungsmethoden erforderlich sind, in denen die Kinder auch als Handelnde wahrgenommen werden und unter Umständen gemeinsam mit den Kindern handelnd geforscht wird (früher häufig als Handlungs- oder Aktionsforschung bezeichnet).

Im Unterschied zum angelsächsischen Raum war es im deutschen Sprachraum bis vor wenigen Jahren unüblich, die subjektive Zufriedenheit von Individuen auch zur Beurteilung der eigenen gesellschaftlichen Lage heranzuziehen. Inzwischen hat die Lebenszufriedenheit, verstanden als Wohlbefinden oder Wohlergehen, auch in Deutschland große Aufmerksamkeit gefunden, insbesondere in der empirischen Kinder- und Kindheitsforschung. Im Unterschied zum objektiven Wohlbefinden, das an vorab festgelegten Dimensionen der Lebenslage und sozialen Beziehungen gemessen wird, werden zum subjektiven Wohlbefinden Kinder selbst nach ihren Ansichten befragt. Dies geschah in Deutschland zuerst im „Kindersurvey“, der seit 2002 vom Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wird, seit 2007 auch in weiteren Erhebungen wie dem LBS-Kinderbarometer, den World-Vision-Kinderstudien und den auf die „reichen Länder“ (insbesondere Europas) bezogenen Studien des UNICEF-Forschungszentrums Innocenti in Florenz. Der hier zu rezensierende Band ist der bislang letzte in einer Reihe von Studien, die unter der Ägide von UNICEF und der Leitung des Berliner Soziologen und Familienforschers Hans Bertram zur Situation der Kinder in Deutschland durchgeführt wurden.

Aufbau und Inhalt

Der Herausgeber Hans Bertram stellt den Bericht ausdrücklich in den Zusammenhang der Maßgaben der UN-Kinderrechtskonvention. Im einleitenden Beitrag betont er, die Verwirklichung der Kinderrechte setze voraus, „sich mit den konkreten Lebensvorstellungen von Kindern, mit ihren Hoffnungen und ihren Ängsten ebenso auseinanderzusetzen wie auch konkret die Bedingungen des Aufwachsens in modernen Gesellschaften in Bezug auf die Lebensvollzüge der Kinder zu untersuchen“ (S. 7). Mit Blick auf die Zukunft der Kinder hält er es für unabdingbar, konkret über Lösungen nachzudenken, wie der Lebenskontext der Kinder so verändert werden kann, dass ihre Teilhabe, ihr Recht auf Leben, ihre Freiheitsrechte, das Diskriminierungsverbot, ihre Schutzrechte insbesondere bei transnationalen Wanderungen und der Trennung von ihren Eltern gewährleistet werden. Dabei geht er davon aus, dass die in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Rechte weit über frühere Vorstellungen des Kinderschutzes hinausgehen. Ihm kommt es deshalb darauf an, die Kinder selbst zu fragen, wie sie ihr Leben gestalten wollen. In der Bestimmung der Freiheitsrechte der Kinder, die auch als Partizipationsrechte bezeichnet werden, werde deutlich, „dass die Rechte der Eltern, aber auch der Schule oder anderer Vermittlungsinstitutionen in Abhängigkeit von der kindlichen Entwicklung ihre eindeutigen Grenzen finden“ (S. 10 f.).

Der Schwerpunkt der in dem Band versammelten Beiträge liegt – wie in früheren UNICEF-Studien – auf Fragen des Wohlbefindens der Kinder.

In Teil I („Kindliches Wohlbefinden, kindliche Wertentwicklung, Eltern-Kind-Beziehungen in Deutschland“) wird in vier Beiträgen über drei Studien (GEOlino-UNICEF-Kinderwertemonitor, LBS-Kinderbarometer, DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten II“) berichtet, die sich insbesondere mit dem subjektiven Wohlbefinden von Kindern in der Familie sowie ihren Wertvorstellungen und Ängsten befassen. Dabei wird teilweise auch der Einfluss anderer Sozialisationsinstanzen wie Schule, Freunde und das politische Umfeld berücksichtigt.

In Teil II („Wohlbefinden von Kindern im europäischen und internationalen Vergleich“) wird unter Bezug auf verschiedene Erhebungen im europäischen Raum in drei Beiträgen den Folgen der jüngsten Weltwirtschaftskrise und Finanzkrise für die Lebenssituation der Kinder und ihr Wohlbefinden nachgegangen. Hierbei wird insbesondere den Auswirkungen wachsender Armut auf das Leben und Empfinden der Kinder Aufmerksamkeit geschenkt und danach gefragt, in welch unterschiedlicher Weise Familien damit umgehen und was dies für das Wohlbefinden der Kinder bedeutet.

In Teil III („Kindliches Wohlbefinden und soziale Teilhabe als Frage einer kindergerechten Infrastruktur“) widmen sich sechs Beiträge den seelischen Belastungen und Integrationsproblemen von Flüchtlings- und Migrantenkindern und machen Vorschläge, wie ihre soziale Teilhabe verbessert werden kann. Christian Alt und Andreas Lange greifen in ihrem Beitrag ausdrücklich die Frage auf, wie die Anerkennung des Handlungsvermögens (Agency) der Kinder zu ihrem Wohlbefinden beitragen kann. In einem Beitrag (von Fabienne Becker-Stoll) wird für „eine emotionale Wende in der frühen Bildung“ plädiert.

Im Schlussteil des Bandes formulieren Hans Bertram und seine Mitarbeiterin Carolin Deuflhard, unter dem Titel „Zukunft für Kinder: Kinderrechte und eine Politik für Kinder“ einige Vorschläge für eine bessere Zukunftsgestaltung der nächsten Generation. Die Zukunft der Kinder werde „ganz entscheidend davon abhängen, ob es der gegenwärtig in Verantwortung stehenden Erwachsenengeneration gelingt, zumindest einen Rahmen zu entwickeln, der für diese Kinder eine Zukunftsoption ermöglicht und ihnen später als Erwachsene nicht nur einen Gestaltungsspielraum lässt, sondern auch das Gefühl vermittelt, dass es sich gelohnt hat, dafür zu lernen, sich anzustrengen und dauerhafte Bindungen einzugehen“ (S. 233). Hierzu müssten

  • die Kinderrechte als Basis eines „erneuerten Humanismus“ ernstgenommen werden;
  • die Kinderarmut bekämpft, „horizontale Gerechtigkeit“ erreicht und die „elterliche Fürsorge“ gesichert werden;
  • soziale Teilhabe durch Bildung und Arbeit unter Beachtung der Gleichheit der Geschlechter gewährleistet werden;
  • eine Balance zwischen Solidarität und Individualismus im Sinne eines erneuerten Humanismus hergestellt werden.

Mit ihrem Plädoyer für einen erneuerten Humanismus beziehen sich der Autor und die Autorin des Schlussteils auf eine von dem Münchener Philosophen Julian Nida-Rümelin jüngst in die Debatte eingeführte Position, die gegen jede Art von Kulturrelativismus die universelle Geltung von Grundelementen des menschlichen Zusammenlebens betont („Humanistische Reflexionen“, Berlin 2016). Sie sehen darin eine geeignete Grundlage für politisches Handeln ebenso wie für eine „Werteerziehung“, die gegen „Fanatismus, Fundamentalismus, Kommerzialisierung und andere Entwicklungen in unserer Kultur“ (S. 234) gerichtet sind.

Diskussion

Die Ansage im Buchtitel, es handele sich um den „UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland im europäischen Kontext“, ist irreführend. Der Band besteht aus einer Sammlung von Aufsätzen, die auf verschiedenen Untersuchungen und Quellen basieren. Der Herausgeber Hans Bertram betont in der Einleitung selbst, die Verantwortung für die Beiträge liege nicht bei UNICEF, sondern bei den Autor*innen und ihm selbst.

Die Beiträge enthalten eine Fülle von Informationen und Einschätzungen, die für das Verständnis der Lage von Kindern in Deutschland aufschlussreich sind. Insbesondere die meisten Beiträge im zweiten und dritten Teil, in deren Zentrum die Situation der von Armut und Flucht betroffenen Kinder im Zentrum steht, bieten gute Grundlagen für eigenes Nachdenken und die kritische Auseinandersetzung mit Versäumnissen staatlicher Politik. Bedauerlich finde ich allerdings, dass nur in einem Beitrag eine ausdrücklich subjekt- und handlungsorientierte Perspektive eingenommen wird, während in anderen Beiträgen die Kinder eher als hilflose Opfer misslicher Umstände dargestellt werden, die ihrerseits nicht weiter ergründet werden.

Die Beiträge im ersten Teil, in denen ausdrücklich das subjektive Wohlbefinden der Kinder thematisiert wird, stützen sich im Wesentlichen auf Befragungen von Kindern. Sie geben einen guten Überblick über die neueren Ergebnisse der einschlägigen in Deutschland durchgeführten Surveys. Allerdings beschränken sich die Darstellungen weitgehend auf die statistische Abbildung von Daten, ohne sie im Kontext der methodischen Voraussetzungen ihres Zustandekommens zu diskutieren und zu bewerten. Nur in einem Beitrag, der auf das spannungsvolle Verhältnis von objektivem und subjektivem Wohlbefinden eingeht, werden die in den letzten Jahren geführten Debatten um die Aussagefähigkeit von punktuellen Befragungen aufgegriffen.

Noch problematischer erscheint mir, dass in einem Beitrag des ersten Teils geradezu naiv von verschiedenen oder wachsenden „Werteniveaus“ bei Kindern gesprochen wird, ohne den kulturellen Bias der darauf bezogenen Fragen zu reflektieren. Dies gilt auch da, wo Kinderrechte als Kriterien herangezogen werden. Wenn etwa das Recht auf Bildung in einer Bewertungsskala als „das Recht, dass alle Kinder zur Schule gehen und lernen dürfen“ operationalisiert wird (S. 29), wird ausgeblendet, dass Bildung sich nicht auf Schulbesuch beschränkt und dieser selbst eine problematische Form von Bildung sein und diese sogar behindern oder fehlleiten kann. Hier wird der Bezug auf Kinderrechte selbst zur Ideologie.

Sehr bedenkenswert sind die Ausführungen von Hans Bertram zur Armut von Kindern. Zu Recht weist er daraufhin, dass die in der deutschen Diskussion verbreitete Annahme, „dass ökonomische Schwierigkeiten der Eltern notwendigerweise zu kindlicher Deprivation führen“ (S. 10), empirisch nicht haltbar sind. Ihm ist deshalb zuzustimmen, dass es nicht ausreicht, die Lebensbedingungen der Eltern zu betrachten und in Quoten relativer Armut abzubilden, sondern dass die spezifischen Lebensbedingungen der Kinder untersucht werden müssen. Allerdings finden sich durchaus auch im deutschen Sprachraum Untersuchungen, die dies tun und sogar deutlicher noch als in internationalen Studien von UNICEF oder der OECD (die Bertram zum Vorbild deklariert) die Erfahrungsdimensionen und Bewältigungsstrategien der Kinder mit in den Blick genommen werden (etwa in Studien von Sabine Walper oder Karl August Chassé, Margherita Zander und Konstanze Rasch).

Der Bezug auf Kinderrechte bildet zu Recht den roten Faden des Buches. Hans Bertram ist zuzustimmen, wenn er hervorhebt, dass diese nicht nur irgendwelche Normvorstellungen sind, sondern eine internationale Verpflichtung darstellen, staatliche Politik und gesellschaftliche Verhältnisse nach ihren Maßgaben zu gestalten. Gleichwohl wird in dem Buch meines Erachtens nicht immer ausreichend bedacht, dass auch die in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Rechte nicht einfach für sich selbst sprechen, sondern verschieden verstanden werden können und eine kontextspezifische Interpretation erfordern (was nicht mit Kulturrelativismus gleichzusetzen ist). In diesem Zusammenhang erscheint mir problematisch, dass Bertram die Kinderrechte zu einer Art Sonderrechte für Kinder erklärt, die „in ihrer Konkretion deutlich über die Menschenrechte hinausgehen“ (S. 10). Es sollte kein Zweifel aufkommen, dass es sich auch bei den Kinderrechten um Menschenrechte handelt.

Fazit

Die in dem Band versammelten Beiträge beleuchten die aktuelle Lebenssituation und das Wohlbefinden von Kindern in Deutschland im Lichte einer bestimmten Interpretation der Kinderrechte. Sie markieren Defizite in der politischen Gestaltung der Lebensverhältnisse insbesondere von Kindern, die von Armut und Flucht betroffen sind.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 102 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 14.08.2017 zu: Hans Bertram (Hrsg.): Zukunft mit Kindern, Zukunft für Kinder. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland im europäischen Vergleich. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2017. ISBN 978-3-8474-0551-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22973.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.


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