Michael R. Krätke: Kritik der Politischen Ökonomie heute
Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 06.07.2017
Michael R. Krätke: Kritik der Politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx. VSA-Verlag (Hamburg) 2017. 192 Seiten. ISBN 978-3-89965-732-6. D: 18,80 EUR, A: 19,40 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung bereits veröffentlichter Beiträge, die z.T. auf Deutsch, z.T. in einer anderen Sprache erschienen sind. Die Beiträge stammen aus den Jahren 2006 – 2011, sind also schon etwas älteren Datums.
Ziel des Bandes ist es, die Auseinandersetzung mit dem Werk von Karl Marx zu beleben und hierüber die Kritik an den Dogmen und Pseudotheorien der ökonomischen Theorie, insbesondere der Neoklassik, zu befeuern. In einer kurzen Bemerkung weist Krätke darauf hin, dass in einem zweiten Band die Auseinandersetzung mit der Kritik der politischen Ökonomie in ihrer heutigen Gestalt folgen soll.
Aufbau und Inhalt
Nach einer Einleitung, in der Michael Krätke heraus stellt, worauf es ihm in den folgenden Aufsätzen ankommt, nämlich die Bedeutung der Kapitalismuskritik von Karl Marx als Dechiffrierung der Logik „der historischen Entwicklung eines historischen Systems“ zu verdeutlichen, befasst sich der erste Aufsatz des Buches mit „Marx – unser Zeitgenosse“.
Hier geht es zunächst darum, was „Marx alles nicht war“, bevor die Stellung von Marx zur Globalisierung erörtert wird. Marx – so Krätke – sah den Weltmarkt als einen Ausbeutungszusammenhang, in dem ungleicher Tausch vorherrscht. Er war damit weder ein Anhänger des Freihandels noch der Globalisierung, geschweige denn, dass er von deren Folgewirkungen für die arbeitenden Menschen begeistert war. Die Kritik der politischen Ökonomie, so wie Marx sie ausgearbeitet sehen wollte, beinhaltete auch eine Auseinandersetzung mit Staat und Politik und zielte in diesem Sinne auf eine umfassende Untersuchung der modernen Weltmarktkrisen.
Michael Krätke beschreibt den „langen Weg zum Kapital“ und insistiert darauf, dass Marx eine gründliche und umfassende Kritik der Gesetzmäßigkeiten, die die klassische Ökonomie behauptet hat, geplant und realisiert hat. Am Beispiel des tendenziellen Falls der Profitrate (das „wichtigste Gesetz der politischen Ökonomie“, so Marx) würdigt Krätke den „Versuch“, eine werttheoretisch begründete Erklärung für das Phänomen sinkender Profitraten zu geben. Hier deutet sich eine Schwäche des Buches an, die auch in den folgenden Texten nicht korrigiert wird: Krätke analysiert die Aussagen des Kapital von Marx nicht darauf hin, was sie an der Wirklichkeit des Kapitalismus heute erklären, sondern mit Blick auf den Stellenwert, den sie für eine radikale Kritik der politischen Ökonomie haben bzw. haben könnten. Dass er diese für ein „unvollendetes Projekt“ hält, begründet ja auch den Titel des Buches.
Michael Krätke insistiert auf der Bedeutung von Karl Marx als Kritiker des Kapitalismus und dies beantwortet auch die rhetorische Frage „Brauchen wir Marx heute noch?“. Dabei weist er zurecht darauf hin, dass Marx und Engels keine Freunde des Bastelns sozialistischer Modelle waren, sondern ihre Zeit mit der Kritik der Zustände, die sie vorfanden und verändern wollten, verbracht haben, also „keine Prophetie“ betrieben haben.
Der zweite Abschnitt des Buches befasst sich mit dem Thema „Kritische Ökonomie und Kritik der politischen Ökonomie heute“. Hier geht es wie im ersten Kapitel um eine Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Marxschen Kapitalismuskritik und den falschen Vorwürfen, denen diese ausgesetzt war und ist. Krätke weist darauf hin, dass die politische Ökonomie heute in neuen Spielarten auftritt, die eine Auseinandersetzung mit ihr unentbehrlich machen. Für ihn sind es insbesondere die Neue Politische Ökonomie, die Internationale Politische Ökonomie und die Komparative Politische Ökonomie, deren Programmatik er kurz skizziert und zu recht als „positivistisch“ charakterisiert. Allerdings verzichtet er in dem Aufsatz auf die Durchführung einer Kritik an diesen Theorien und belässt es mit Hinweisen auf eine reformierte und „sorgfältig ausgebaute“ Version der dynamischen Werttheorie, mit der sich dies bewerkstelligen ließe.
Das dritte Kapitel des Buches steht unter der Überschrift „Erneuerung der politischen Ökonomie: Wo Marx unersetzlich bleibt“. Auch hier geht es wieder um eine Auseinandersetzung mit der heutigen Ökonomie und ihre neoklassische Prägung. Michael Krätke vertritt hier die Auffassung, dass die noch vor 25 Jahren verflüchtigte politische Ökonomie heute wieder Bedeutung erlangt hat und er sieht in der Komparativen Politischen Ökonomie und der Internationalen Politischen Ökonomie Hauptvarianten dieser Wiederauferstehung. Allerdings kommt diese ohne Marx und seine Kritik der Politischen Ökonomie aus und in einem Kapitel mit der Überschrift „Marx´ Kritik der ‚falschen Kritik der politischen Ökonomie‘“ setzt sich Krätke mit der Revolutionierung der Kritik der Politischen Ökonomie durch Marx auseinander. Krätke, der sich in diesem Kapitel auf die in MEGA II zugänglich gemachten Briefwechsel und Veröffentlichungen stützt, zeigt auf, wie Marx sich in der Auseinandersetzung mit der klassischen Philosophie und Ökonomie dazu vorgearbeitet hat, die „historisch spezifische Produktionsweise“ des Kapitalismus zu analysieren und damit im Resultat die „wirkliche Wissenschaft der politischen Ökonomie“ zu einem Ende gebracht hat. Dass Marx nicht einzelne Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise, sondern das Ganze dieser Produktionsverhältnisse zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hat, begründet seine Hoffnung, damit der Arbeiterklasse und den Sozialisten Munition geliefert zu haben, sich aus den Dogmen der klassischen Ökonomie zu befreien. Die Theorie ist – so die Einlösung der berühmten Feuerbach-These – die Praxis, mit der diejenigen, die die Welt verändern wollen, ihr Rüstzeug bekommen.
Krätke setzt sich in diesem Kapitel detailliert mit der Frage auseinander, wie Marx zu der Darstellung im Kapital gelangt ist und kritisiert die im Marxismus verbreiteten Beschreibungen der Marxschen Darstellungsweise als „falsch“. Er sieht Marx als Begründer einer neuen Sozialwissenschaft der politischen Ökonomie und dies schließt die Absetzung von der „Hegelei“ und damit von idealisierenden Begriffskonstruktionen ein.
Unter der Überschrift „Noch eine Renaissance der politischen Ökonomie“ werden (nochmals) der Umgang von Marxisten mit den von Marx geklärten „ökonomischen Details“ kritisiert und an verschiedenen Beispielen (Handelskapital; Grundrente) Schwierigkeiten der Marxschen Theorie abgehandelt. Auch hier geht es Krätke nicht darum, den Stellenwert der Erklärung der Grundrente für die Eigentumsverhältnisse und den spekulativen Umgang mit Boden im heutigen Kapitalismus festzuhalten, sondern auf theorieimmanente Probleme hinzuweisen, die – sollten sie tatsächlich stimmen – ja hoffentlich in einer Kritik der Politischen Ökonomie heute geklärt werden. Es bleibt aber bei der programmatischen Benennung.
In einem etwas aus dem Gesamtkontext heraus fallenden Kapitel wird „Marx als Wirtschaftsjournalist“ abgehandelt. Hier beschreibt Krätke den Weg von Marx als Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung, seiner Auseinandersetzung mit den „Klassenkämpfen in Frankreich“ bis hin zu den „journalistischen Brotarbeiten“ im Londoner Exil. Krätke geht es in diesem Aufsatz darum zu zeigen, dass Marx seinen Heraustritt aus der Philosophie und seine Hinwendung zur Ökonomie in einer dauernden intensiven Auseinandersetzung mit den ökonomischen Ereignissen seiner Zeit und ihren falschen wissenschaftlichen Erklärungen betrieben hat. Krätke insistiert zu Recht darauf, Marx als Wissenschaftler zu charakterisieren, der an nichts weniger Interesse hatte als an der dogmatischen Behauptung nicht bewiesener Urteile. In einem Kapitel über die Bedeutung der journalistischen Tätigkeit für die Kritik der Politischen Ökonomie wird der Bezug von journalistischen Arbeiten (z.B. der Fabrikgesetzgebung in England) zu der im Kapital durchgeführten Kritik aufgezeigt und darauf hingewiesen, dass in diesen Arbeiten auch die gewaltsamen Methoden, mit denen die Durchsetzung von Welthandel und Weltmarkt verbunden sind, nicht ausgespart werden. Die Kritik der politischen (!) Ökonomie schließt die Kritik der politischen Verhältnisse, die den Kapitalismus durchsetzen und erhalten, mit ein.
Im abschließenden Aufsatz des Buches „Gibt es ein Marx-Engels-Problem?“ geht es Michael Krätke um die Klarstellung, dass von einer Verfälschung des Marxschen Kapital durch Friedrich Engels nicht gesprochen werden kann. Nach Krätke gilt es im westlichen Marxismus als ausgemacht, dass Engels die Marxsche dialektische Methode gründlich missverstanden hat. Am Beispiel des Zusammenhangs von Wert und Produktionspreis wird Engels Rolle in der Herausgabe des Dritten Buches des Kapital hinterfragt und das Selbstverständnis von Engels mit Bezug auf seine Aufgabe als Verwalter des Nachlasses von Karl Marx gedeutet. Krätke verweist darauf, dass Engels das Marxsche Kapital nicht als abgeschlossenes Werk, sondern als work in progress aufgefasst hat und dementsprechend auch aktiv in das Manuskript eingegriffen hat. Dabei – so Krätke – ging es Engels darum, die Wirkung von Marx´ Werk dadurch zu steigern, dass er es in die „passende, klare Form“ brachte, die keine Einwände mehr erlauben würde. Auch wenn der Marxsche Forschungsprozess in den 1870er Jahren nicht abgeschlossen war, so stellt sich doch die Frage, ob die Ergänzungen und Kommentare von Engels nun mit der Marxschen Erklärung des Kapitalismus übereinstimmen oder nicht. Krätke schlägt sich hier zwar in gewisser Weise auf die Seite von Engels, weil er dessen Textveränderungen für notwendig ansieht, er konzidiert allerdings auch, dass „zahlreiche Zusätze zum Text (…) den Charakter von Aktualisierungen und Historisierungen“ tragen (S. 239). Auch hier ist kritisch zu fragen, warum Engels historische Rolle bei der Herausgabe des Kapital einer neuen Einordnung bedarf. Wenn das Wertgesetz tatsächlich nur für eine historische Periode Gültigkeit besitzt und den heutigen Kapitalismus nicht mehr erklären kann, dann bedarf es in der Tat eines anderen theoretischen Rüstzeugs. Aber Krätke beharrt ja in den ersten Kapiteln seines Buches zu Recht darauf, dass das Wertgesetz die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise erklärt und nicht deren Entstehungsgeschichte behandelt. Insofern ist das von Krätke auch kritisch benannte „Konstrukt einer einfachen Warenproduktion“ nicht nur „fragwürdig“, sondern tatsächlich ein theoretischer Fehler.
Diskussion und Fazit
Michael Krätkes Versuch, eine Kritik der Politischen Ökonomie für die Jetztzeit neu zu beleben, ist angesichts der Resultate, die die ökonomische Theorie und insbesondere die Neoklassik zu bieten hat, mehr als nachvollziehbar. Dass deren Ideologien in der Parteilichkeit für die Verhältnisse wurzeln, die Marx beseitigt sehen wollte, ist offenkundig und lässt sich von der Erklärung der Finanzkrise bis hin zu den verschiedenen Spielarten affirmativer Globalisierungstheorien beobachten. Eine Kritik der politischen Ökonomie heute könnte zeigen, warum der Klassengegensatz von Arm und Reich auch im modernen Kapitalismus ökonomische Gründe hat, weshalb das Privateigentum an Grund und Boden in manchen Wohngebieten das Wohnen nahezu unbezahlbar macht und warum der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zu den ewigen Idealen der Anwendung von Lohnarbeit gehört. Bei allen Fragen der Politischen Ökonomie würden die Erklärungen von Marx, die dieser vor hundert Jahren vorgelegt hat, mehr als hilfreich sein. Michael Krätke erinnert an diese Bedeutung von Marx für eine Kritik der Politischen Ökonomie, belässt es aber weitgehend bei programmatischen Äußerungen darüber, wie diese für den heutigen Kapitalismus durchgeführt werden müsste. Dabei spart er nicht mit polemischen Hinweisen auf die Marxisten jeglicher Spielart, die Marx nicht verstanden oder dogmatisiert haben. Natürlich ist es legitim, darauf hinzuweisen, dass Marx hier und da zu falschen Schlussfolgerungen gelangt ist. Aber was bedeutet das mit Blick auf seinen Stellenwert für eine Kritik des Kapitalismus heute? Hier – so ist zu hoffen – liefert der angekündigte zweite Band mehr Aufklärung und lässt damit die Berufung auf die historische Bedeutung von Karl Marx hinter sich.
Rezension von
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
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Zitiervorschlag
Norbert Wohlfahrt. Rezension vom 06.07.2017 zu:
Michael R. Krätke: Kritik der Politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx. VSA-Verlag
(Hamburg) 2017.
ISBN 978-3-89965-732-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22975.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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