Philipp Lepenies: Armut. Ursachen, Formen, Auswege
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 29.06.2017

Philipp Lepenies: Armut. Ursachen, Formen, Auswege. Verlag C.H. Beck (München) 2017. 128 Seiten. ISBN 978-3-406-69813-2. D: 8,95 EUR, A: 9,30 EUR.
Thema
Armut ist wieder ein öffentliches Thema geworden. Die Aufmerksamkeit für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung ist dafür ebenso ein Indikator wie die Tatsache, dass jüngst ein bekannter Armutsforscher als Kandidat für die Bundespräsidentschaft vorgeschlagen wurde – oder eben dass in der Beck´schen Reihe ein Bändchen zum Thema erschienen ist.
Autor
Phillip Lepenies ist Spezialist für das Thema Entwicklungshilfe und hat eine Reihe von Beiträgen zur Armutsthematik veröffentlicht, unter anderem in der zweiten Auflage der Encyclopedia of World Poverty.
Aufbau
Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert, wobei das erste eine Einleitung darstellt. Ab Kapitel Zwei wird das Thema historisch von der Antike bis in die Gegenwart entwickelt, die letzten drei Kapitel sind dann mehr systematisch angelegt.
Inhalt
1 – Im ersten Kapitel kontrastiert der Autor die internationalen Erfolge in der Armutsbekämpfung mit der deutschen Diskussion um eine ansteigende Armut. Er benennt drei Faktoren unseres Armutsverständnisses:
- Das Versprechen eines Lebens ohne Armut,
- die Messbarkeit der Armut und
- die Erfahrung eines möglichen Wohlstandes für alle.
Er betont, dass das Phänomen Armut nur verständlich wird, sofern auch die Reaktionen der Nicht-Armen auf die Armut in den Blick genommen werden, und er weist der Jahrhunderte langen öffentlichen Debatte in England um die Armutsbekämpfung eine paradigmatische Rolle zu, in der auch die Positionen unserer heutigen Diskussionen bereits präformiert sind.
2 – Die historische Darstellung beginnt dann in der europäischen Antike. Armut wurde hier als selbst verursacht angesehen, die Armen verachtet. Dabei waren breite Schichten arm. Im griechisch-römischen Verständnis war jeder arm, der arbeiten musste, um sein Leben zu fristen. Für die Armutsprävention war die Familie zentral. Die Versorgung der Bevölkerung mit ‚Brot und Spielen‘ war abhängig von politischem Kalkül.
Auf diesem Boden einer allgemeinen Armut war das frühe Christentum erfolgreich, weil es als Religion für Arme verstanden werden konnte. Bis in das frühe Mittelalter hinein stand Christus für eine Aufhebung der Exklusion der Armen. Den Reichen erlegte das Christentum eine Pflicht zum Teilen auf, im Gegenzug verpflichtete es die Armen, zum einen, zur Arbeit, zum anderen, zum Gebet für die Almosengeber. Daraus entstand eine Art ‚Ökonomie des Seelenheils‘ mit einem Fokus auf dem Almosengeber. Die Armenpflege wurde institutionalisiert und es entstanden Bettelorden wie die Franziskaner.
Mit der Urbanisierung im 12. und 13. Jahrhundert nahm die Armut dann zunehmend einen bedrohlichen Charakter an. Ihr Ausmaß stieg auf ein Drittel der Bevölkerung in Europa. Die Verachtung der Armut, die in der späten Antike vom Christentum zunächst verdrängt worden war, kehrte nun zurück. Unter den Bedingungen der Urbanisierung entwickelten sich aber auch Bettlervereinigungen nach dem Vorbild der Zünfte.
3 – In elisabethanischer Zeit wurden in England folgenreiche Versuche einer institutionellen Armutsbekämpfung mit einer Steuer zugunsten der Armenpflege in kommunaler Verantwortung unternommen. Mit der Umsetzung dieser ‚Old Poor Laws‘ wurde auch die uns geläufige Unterscheidung von wahren und falschen Armen eingeführt. Mit dem Speenhamland-System wurde erstmals ein Anspruch für die Armen auf Unterstützung kodifiziert, mit dem Menschen mit einem geringen Einkommen zu anspruchsberechtigten Empfängern von Zuwendungen wurden. Im Frankreich der Revolution entwickelte Condorcet die Idee der Abschaffung der Armut, in deren Tradition sich auch die UN heute bewegen. Parallel wurde die Armut aber auch kriminalisiert und Einrichtungen wie Arbeitshäuser entwickelt. Mit Malthus´ naturgesetzlicher Erklärung der Armut wurde die Idee ihrer Abschaffung konterkariert.
4 – Im Zeitalter der Industrialisierung nahm die Armut dann einen neuen Charakter an. Sie war stigmatisiert und zugleich systemisch bedingt. Wer eine industrielle Arbeit hatte, war arm und stand dabei stets in der Gefahr, durch den Verlust der Arbeit noch weiter ins Elend abzusinken. Die Entwicklung war hier in Deutschland etwas zeitlich verzögert gegenüber anderen europäischen Staaten. Ihre Besonderheit lag aber in den Sozialreformen der 1880er Jahre. Auf sie geht die Unterscheidung von Arbeitslosenabsicherung und Armenfürsorge zurück, die erst mit den Hartz-Gesetzen relativiert wurde.
5 – In England des späten 19ten Jahrhunderts entstand ein Bewusstsein für die unbekannte Welt der Armen, die als weiße Flecken auf der Landkarte der eigenen Stadt eine sozial engagierte Erkundung und einen neuen Ansatz der Armutsbekämpfung provozierten. In der privat finanzierten Toynbee Hall lebten dann eine neue Art von Missionaren ‚auf einer Insel der Zivilisation im Meer des Elends‘ im Londoner East End. Charles Booth und Seebohm Rowntree ersannen als erste eine Methodik zur Erhebung der Armut und setzen sie mit Helfern aus dem sozialreformerischen Settlement Movement um. Sie gingen vom Nahrungsmittelbedarf aus, entwickelten die sogenannte Armutslinie und kartografierten die Städte nach der sozialen Lage der Einwohner (Poverty Map). Übereinstimmend klassifizierten sie mit ihren Methoden ein Drittel der Bevölkerung als arm und konnten nun auch differenziert die Ursachen der Armut analysieren.
6 – Die weitere Entwicklung brachte dann im zwanzigsten Jahrhundert methodische Neuerungen wie die Bestimmung des Bruttoinlandsproduktes und des Pro-Kopf-Einkommens, mit deren Hilfe ‚arme Länder‘ identifiziert werden konnten. Als Strategien der Unterstützung für diese Länder wurden die Wachstumspolitik in der Nachkriegsära und die Entwicklungshilfe angesehen. Dabei gab es auch im Herzen des globalen Wachstums, den USA, eine recht breite Armut. Circa 20 Prozent der Bevölkerung konnten nicht von dem Aufschwung der 1950er Jahre profitieren. Deren Armut wurde als Inselphänomen interpretiert mit einer Tendenz zur (sub-)kulturellen Verstetigung. Um hier Fortschritte für die abgehängten Teile der Gesellschaft zu erzielen, wurden die Sozialprogramme der ‚Great Society‘ unter der Regierung Johnson eingeführt, die eine Modellwirkung für den gesamten Westen hatten. Die partielle Rücknahme dieser Maßnahmen in den Jahren der Regierung Reagan bediente sich dann zum Teil wieder der Argumente, die schon gegen die englischen Poor Laws vorgebracht worden waren.
7 – Auch in der dritten Welt war die Wachstumsstrategie der Armutsbekämpfung nur bedingt erfolgreich. In Afrika kam es in den 60er Jahren zu schweren Hungersnöten. Damit einher ging in der Entwicklungspolitik und der Armutsforschung ein Wechsel von der Orientierung an volkswirtschaftlichen Globalindikatoren hin zur Grundbedürfnisstrategie. Armut sollte nun direkt und nicht allein über das Wachstum der Volkswirtschaft bekämpft werden. Für die Definition der Grundbedürfnisse folgte man pragmatisch einem Weg der politischen Durchsetzbarkeit und definierte sie als Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Landwirtschaft, während ideologische Themen wie Umverteilung ausgespart wurden. Die Verschuldungskrise und die goldenen Jahre des Neoliberalismus sorgten dann für ein Zurückdrängen dieser Strategie. Die Grundbedürfnisse spielten erst mit dem Programm ‚sustainable development‘ ab den 90er Jahren wieder eine verstärkte Rolle für die Bekämpfung der absoluten Armut. Als Messgröße wurde die Ein-Dollar-am-Tag-Armutslinie (mittlerweile 1,90 $) von der Weltbank platziert. Sie ist als Universalindikator inzwischen Standard, dabei aber nicht allzu aussagekräftig für die Situation der Armen in ihren Lebensbezügen in einzelnen Ländern. Für die nach der neoliberalen Phase wieder aufgenommene Entwicklungshilfe durch die Weltbank und die UN war sie politisch hilfreich. Die Formulierung der Milleniumsziele durch die UN bezieht sich auf sie. Das Condorcet-Programm der Abschaffung der absoluten Armut wurde durch Buch von Jeffery Sachs ‚End of Poverty‘ kraftvoll erneuert und wird von der UN mit der ‚Post-2015-Agenda‘ auch weiter programmatisch verfolgt.
8 – 10 Mit den letzten Kapiteln kommt der Autor bei seinem historischen Gang im Heute an. Hier behandelt er den Capability Approach, den er mit der Grundbedürfnisstrategie der UN und mit der Motivationspsychologie Abraham Maslows verbindet, sowie das für die EU wichtige Alternativkonzept der Sozialen Ausgrenzung. In Kapitel 9 findet sich ein Abriss der Armutsberichterstattung in Deutschland.
Diskussion
Das Buch bietet eine dichte, anschauliche und klare Darstellung der Armutsthematik. Es schlägt historisch einen großen Bogen und breitet ein reiches Material zum Thema aus. Die Schwerpunkte sind dabei die Erscheinung und die Ausprägung der Armut, ihre Wahrnehmung und ihre Bewertung sowie die Rolle der Wissenschaft und der Politik. Dabei werden durchweg auch systematische und methodische Fragen der Armutstheorie behandelt. So entsteht ein Panorama der aktuellen Diskussionen mit einer erheblichen geschichtlichen Tiefe in einer gedrängten, aber sehr gut zu lesenden Darstellung. Der Autor geht auch auf die Situation in Deutschland ein, er stellt diese jedoch in den Zusammenhang der globalen Entwicklungen.
Fazit
Das Buch verortet die wichtigsten Argumente der Armutsdiskussionen in einem historischen Kontext und zeigt die methodischen Ansätze zur Erhebung von Armutslagen und die zentralen Armutstheorien jenseits der Unterscheidung von absoluter und relativer Armut auf.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 29.06.2017 zu:
Philipp Lepenies: Armut. Ursachen, Formen, Auswege. Verlag C.H. Beck
(München) 2017.
ISBN 978-3-406-69813-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22976.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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