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Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung

Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 15.03.2005

Cover Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung ISBN 978-3-531-14278-4

Ruth Becker, Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2004. 436 Seiten. ISBN 978-3-531-14278-4. 49,90 EUR. CH: 85,50 sFr.
Reihe: Geschlecht & Gesellschaft - Band 35.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-531-17170-8 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension

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Überfällig: ein Handbuch zur Frauen- und Geschlechterforschung

In allen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es Handbücher, in denen man sich einen Überblick über den Stand der Forschung verschaffen kann. Endlich gibt es auch das Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung. Es bietet einen längst fälligen Überblick über den Stand der Forschung, die theoretischen Diskussionen, methodische Ansätze und empirische Ergebnisse.

Aufbau

Das Handbuch gliedert sich in drei große Teile:

In Teil I geht um zentrale Fragestellungen und ist noch einmal untergliedert in:

  • A Konzepte zu Geschlecht mit 18 Beiträgen
  • B Rezeptionen und Weiterentwicklung von Theorien mit 33 Beiträgen.

Teil II behandelt Methoden und Methodologien.

In Teil III um Arbeitsfelder und Forschungsergebnisse. Er ist noch einmal untergliedert in fünf Abschnitte:

  • A: Lebensphasen und -lagen (8 Beiträge)
  • B: Arbeit, Politikökonomie (10 Beiträge)
  • C: Körper und Gesundheit ( 9 Beiträge)
  • D: Bildung und Kultur (13 Beiträge)
  • E: Frauenbewegung und Gleichstellungspolitiken (7 Beiträge).

Je Beitrag gibt es

  • eine zentrale Definition,
  • grundlegende Studien,
  • aktuelle Ergebnisse
  • und zum Schluss einen Ausblick auf anstehende Fragestellungen.

Ein Stichwortverzeichnis mit ca. 550 Stichworten kann helfen, die verschiedenen Kontexte von Begriffen zu finden.

Aus der Wissenschaft für die Wissenschaft

Insgesamt 95 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, auch aus Österreich, Schweden, Australien, den Niederlanden und den USA bieten einen beeindruckenden Einblick in Breite, Tiefe und Dichte des Standes der Frauen- und Geschlechterforschung. Die Frauen- und Geschlechterforschung ist äußerst differenziert und mit dem Wissen und den Zugängen aus den verschiedensten Disziplinen verknüpft. Dadurch, dass die in vielen Fällen renommiertesten Vertreterinnen und Vertreter für eine bestimmte Fragestellung gebeten wurden, ihren Beitrag zu leisten, wird das Handbuch dem eigenen Anspruch, nämlich ein nützlicher Leitfaden für Forschung und Lehre zu werden, sicher gerecht. In den meisten Artikeln werden Debatten und Entwicklungslinien nachvollziehbar und in der Regel in einer verständlichen Sprache dargestellt. So ist dieses Handbuch eine Spiegelung der Professionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung, es kommt aus der Wissenschaft und dient der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat ihre eigenen Bezugssysteme, Theorien, Ansätze und Debatten generiert.

... und für die Praxis?

Meine Perspektive, mit der ich in diesem Handbuch lese, ist nun nicht die einer Hochschulangehörigen, sondern meine Perspektive die der geschlechterpolitischen Praxis. Damit prüfe ich die Beiträge auf eine einzige Frage, nämlich die, in wieweit sie eine Hilfestellung sind für frauen- und geschlechterpolitische Akteurinnen und Akteure, die in einem anderen System als dem der Universität arbeiten und sich in kommunalen, Landes- und Bundesbehörden, in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder gar in Wirtschaftsunternehmen dafür einsetzen, dass die Geschlechterverhältnisse weniger dual, weniger polar und weniger hierarchisch werden. Ein solcher Anspruch an die Frauen- und Geschlechterforschung kommt nicht von ungefähr, sondern beruft sich auf deren frauenpolitischen Wurzeln, an die auch in vielen Beiträgen erinnert wird. Der historische Rückblick auf die ersten Arbeiten aus der Frauenforschung belegt, dass sich die Frauen damals noch stark vom traditionellen Mainstream der Wissenschaften absetzten und neue Begriffe, neue Forschungsmethoden und eine neue Form wissenschaftlichen Arbeitens entwickeln wollten. Diesen ersten Arbeiten lag die Bewegung der Frauen und die Ermöglichung einer solchen Bewegung am Herzen, und die wissenschaftliche Arbeit hatte sich in diesen Dienst gestellt. Diese Anfänge sind selbstverständlich Vergangenheit, aber es bleibt gerade in der Frauen- und Geschlechterforschung eine legitime Frage, in wieweit die Formen der Erkenntnisgewinnung und die empirischen und theoretischen Ergebnisse dieser Forschung die aktuelle politische Praxis unterstützen kann.

Im Handbuch wird diese Problematik vor allen Dingen im Rahmen der wissenschaftlichen Systeme und der Hochschulen selbst diskutiert. Hier geht es darum, ob Frauenforschung die Anerkennung als Wissenschaft bekommt, ob es nur um den Preis der Aufgabe des kritischen Impetus möglich ist, ob Gender Studies nun im wissenschaftlichen Kanon integriert sind oder außerhalb gelehrt werden und ob vielleicht die Intergration auch zum Wandel des wissenschaftlichen Arbeitens geführt hat.

Der Artikel von Senta Troemel-Ploetz zeigt, wie es Wissenschaftlerinnen ergeht, wenn sie gegen den Strom schwimmen: sie werden ausgegrenzt, weil ihre Ansätze und Ergebnisse wissenschaftlichen Arbeitens nicht ins traditionelle System des wissenschaftlichen Denkens und Handelns passen. Frauen- und Geschlechterforschung zeigt sich immer noch als wissenschaftskritisch, wie die meisten Beiträge belegen, sie arbeitet sich an den traditionellen, meist androzentrisch verstandenen Begriffen, Ansätzen und Denkformen ab und verweist auf andere, neue umfassende und damit der Wissenschaft angemessenere Formen. Dekonstruktive Ansätze werden überall aufgenommen. Aber wenn Frauen- und Geschlechterforschung immer noch (gesellschafts)-kritisch ist, will sie auch verändernd wirken? Viele Arbeitsfelder der Frauen- und Geschlechterforschung, so wie sie sich hier darstellen, sind sehr an den wissenschaftlichen Disziplinen ausgerichtet, die sich gerade nicht an den konkreten Fragen der Praxis orientieren. Frauen- und Geschlechterforschung an den Universitäten und gleichstellungspolitische Praxis sind weit von einander entfernt, unvereinbar sind sie jedoch nicht. Dies zeigen etwa die Beiträge zur Gewalt, zur Koedukation, zur Sprache, zum Sport und zur Gesundheit. Hier finden interessierte Leser und Leserinnen eine Fülle von wichtigen Ansätzen und Erkenntnissen, die einen fundierten Hintergrund auch für die Gestaltung von Maßnahmen im Bereich der Prävention, der Bildungsangebotserstellung, der Öffentlichkeitsarbeit, der Sportförderung oder der gesundheitlichen Versorgung bieten.

Auch das Stichwortverzeichnis wird den wohlwollenden geschlechterpolitischen Akteuren und Akteurinnen nicht allzu sehr helfen, wenn die Beiträge die aktuellen Fragestellungen der Praxis gar nicht aufnehmen. So findet sich z. B. zum Thema Gender Budgeting nur ein einziger Hinweis, und in dem Kapitel über feministische Ökonomie sucht man diese Debatte vergeblich. Ebenso vermisst man die für die Planung von Bildungsveranstaltungen so nützlichen Erkenntnisse aus der geschlechterkritischen gewerkschaftlichen Erwachsenenbildungsforschung.

Besonders schade finde ich, dass in dem Kapitel "Gleichstellungspolitiken: Von der Frauenförderung zum Gender Mainstreaming" das Konzept Gender Mainstreaming als neue geschlechterpolitische Strategie nur mit großer Distanz und "langen Fingern" auf einer halben Seite erwähnt wird. Das ist auch deswegen ärgerlich, weil nicht einmal die einschlägigen Kritiken zum Konzept aufgenommen und diskutiert werden. Für die geschlechterpolitische Praxis ist es jedoch ein Verhängnis: Geschlechterpolitische Akteure und Akteurinnen, die etwa in kommunalen Projekten im Rahmen von Gender Mainstreaming arbeiten, sind auf die Erkenntnisse und Blickwinkel der Frauen- und Geschlechterforschung angewiesen, wenn sie z. B. eine Genderanalyse machen wollen. Ihnen wird nun aber aus der "wissenschaftlichen" Sicht zunächst vermittelt, dass ihre Bemühungen in die falsche Strategie eingebunden.

Fazit

Die Wissenschaft hat nun ein Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, das Handbuch für gleichstellungspolitische Akteure und Akteurinnen ist noch nicht geschrieben.

Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 48 Rezensionen von Barbara Stiegler.

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Anmerkung der Redaktion: Die Rezension basiert auf der 1. Auflage aus dem Jahr 2004.


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ISSN 2190-9245