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Nadine Jukschat: (Sehn-)Sucht Computerspiel

Rezensiert von Michael Christopher, 18.10.2018

Cover Nadine Jukschat: (Sehn-)Sucht Computerspiel ISBN 978-3-7799-3707-4

Nadine Jukschat: (Sehn-)Sucht Computerspiel. Bedingungen der Entstehung und Verstetigung abhängiger Computerspielpraxis : ein rekonstruktiver Ansatz. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 431 Seiten. ISBN 978-3-7799-3707-4. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.

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Thema

Viele Veröffentlichungen beschäftigen sich mit dem Thema Computerspielsucht. Mit Ihrer Untersuchung zeigt Nadine Jukschat eine neue Facette in dem Themengebiet und untersucht das Phänomen der Computerspielsucht nicht aus medizinisch-psychologischer Sicht, sondern nähert sich ihm über die Soziologie. Die Autorin hat für ihre Arbeit narrative biografische Interviews mit vierundzwanzig – fünfzehn männlichen sowie neun weiblichen – Computerspielern geführt, die gemäß eines Screeninginstruments, bzw. ihrer Selbsteinschätzung computerspielabhängig sind.

Autorin und Entstehungshintergrund

Nadine Jukschat arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. Dieses Buch ist die Veröffentlichung ihrer Dissertation.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sieben Kapitel eingeteilt. Im Anhang befinden sich Zusammenfassungen der Interviews mit den Teilnehmern der Studie. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

1. Vorspann – eine Geschichte der Video- und Computerspiele. Zu Beginn beschreibt Nadine Jukschat ausführlich das sogenannte Suchtmittel: die Spiele, von ihrer Entwicklung hin zu ihren Eigenarten. Sie bevorzugt zur besseren Einteilung die Nutzung des Genrebegriffs und führt Actionspiele (Thema: reagieren), Abenteuer- und Rollenspiele (Thema: entscheiden) und Strategiespiele (Thema: planen) an. Dabei sei innerhalb dieser Genre die Varianz sehr groß.

2. Computerspielen zwischen Euphorie, Normalisierung und Pathologisierung. Die Faszination von Computerspielen erstrecke sich zwischen den Polen Faszination und Verdammung. Dabei sei Computerspielen mittlerweile ein bedeutender Teil der Alltagskultur, der auch nicht ausschließlich von jungen Männern gepflegt werde. Die beiden wissenschaftlichen Richtungen, die sich mit dem Computerspiel beschäftigen seien zurzeit die Game Studies, mit dem Fokus auf die Ästhetik und der Konstruktion der Spielwelten, sowie die Medizin und Psychologie, die den problematischen Umgang mit Computerspielen ins Zentrum rücken. Der Begriff der Computerspielabhängigkeit sei nicht klar fassbar, die Grenzen fließend, aber die medizinisch-psychologische Deutung sei gegenüber der Sozialen dominant.

3. Anknüpfungspunkte in Game Studies und sozialwissenschaftlicher Suchtforschung für die Erforschung von Computerspielabhängigkeit. Im dritten Kapitel betrachtet die Autorin Ansätze aus den Game Studies (Bindungskraft, Spielerkarrieren) und den Sozialwissenschaften (der Mensch in seinen sozialen Bezügen, Suchtverhalten als funktionale Antwort auf reduzierte gesellschaftliche Chancen und Problemen im Nahbereich).

4. Ergebnissicherung, Standortbestimmung und Forschungsfragen. Im vierten Kapitel stellt Nadine Jukschat ihren Forschungsansatz vor. Sie versteht Computerspielabhängigkeit nicht als Krankheit, sondern als abhängig wahrgenommene Spielpraxis und will versuchen, dieses abweichende Verhalten in dessen Komplexität zu analysieren. Ihr Ziel ist die Entwicklung eines Prozess-, bzw. Karrieremodells der Computerspielsucht.

5. Methodologie und Methoden. Im fünften Kapitel stellt Jukschat ihre Vorgehensweise vor. Für ihre Untersuchung hat sie Erst- und Folgeinterviews durchgeführt. Sie stellt die Skepsis der Spielerszene gegenüber dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen dar. Dennoch konnte sie genügend Probanden für ihre Untersuchung finden. Sie führte narrative Interviews zu den Biografien der Probanden durch und analysierte sie in einer Kombination aus objektiver Hermeneutik und Grounded Theorie.

6. Computerspielabhängigkeit als unwahrscheinlicher Weg. In einer Mischung aus Theorie, Fallbeispielen und deren Auswertung zeigt die Autorin die Faktoren für eine Computerspielabhängigkeit auf. Sie weist auf mögliche Wege einer Verstetigung der Sucht hin, beschreibt die persönlichen und sozialen Einflüsse und Konsequenzen. Jukschat extrahiert aus den Interviews drei Typen der Computerspielabhängigkeit (Sehnsucht nach Anerkennung, Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Sehnsucht nach Autonomie). Dabei stellt sie fest, dass die Computerspielsucht ein dynamisches Phänomen sei, welches bei Fehlen der Funktion der Spieler-Spiel-Passung durchaus wieder verschwinden könne.

7. Game Over – abhängiges Computerspielen als Versuch der Lebensbewältigung. In ihrer Zusammenfassung weist Jukschat nochmals deutlich darauf hin, dass abhängiges Computerspielen ein Versuch der sozialen Lebensbewältigung in einer (post-) modernen Welt sei und nicht mehr vordergründig das Pathologische der Sucht im Vordergrund der Behandlung und Prävention stehen solle.

Diskussion

Der Beitrag von Nadine Jukschat ist ein wichtiger neuer Gesichtspunkt in der Betrachtung der Entstehung, Verfestigung und Behandlung einer Computerspielsucht. Sie zeigt, dass jenseits der Pathologie und Psychologie, andere Wirkfaktoren in Bezug auf das Entstehen der Sucht existieren. Dabei konzentriert sie sich auf die sozialen Umstände und zeigt Optionen, wie in der Veränderung dieser, ein Weg aus dem süchtigen Verhalten möglich sei, bzw. wenn nach einer erfolgreichen Behandlung der soziale Empfangsraum die Ursprungsproblematik nicht beseitigt, ein Erfolg gefährdet sei.

Während die Game Studies von vielen Seiten als zu wenig kritisch im Umgang mit der Computerspielsucht gesehen werden, nimmt die Autorin aus den Game Studies die Untersuchungen zur Bindungskraft von Computerspielen als strukturelle Kopplung und die soziale Bindung an das Spiel, die mit den Spielerkarrieren stetig wächst, heraus und baut ihre Erkenntnisse in ihre Theorie mit ein. Jukschat sieht zwar eine Dominanz der medizinisch-psychologischen Betrachtung von Computerspielsucht, aber widerspricht ihr nicht vollkommen, sondern plädiert dafür, dass der von ihr vorgestellte sozialwissenschaftliche Ansatz ergänzend mit beachtet werden solle.

Nadine Jukschat folgt der Erkenntnis, dass abhängige Computerspielpraxis immer eine sinnhafte Antwort auf bestimmte biografische Problemkonstellationen darstelle (111). Die Sucht entstehe entlang von Phasen. Zuerst bestehe ein biografisches Bezugsproblem, ein latent bestehendes, ungelöstes Dilemma. Daraus ergebe sich eine biografische Empfänglichkeit und eine Gelegenheitsstruktur. Bestehe dann eine Spieler-Spiel-Passung, d.h. das Spiel biete dem Spieler eine funktionale Lösung zu seinem Problem, so ist der Weg in die Computerspielsucht möglich, welche sich durch verschiedene Spezifika (spielweltliche Verpflichtungen, Vernachlässigung der Realwelt etc.) verstetigen. Dagegen gebe es auch Schutzfaktoren im Sinne eines souveränen Umgangs mit dem Spiel und der Spielwelt.

Mit ihren Interviews zeigt Jukschat auf, wie der Weg in eine Abhängigkeitskarriere verlaufen kann. Sie schlüsselt die individuellen Bedingungen auf und fasst diese in drei Typen zusammen:

  1. (Sehn-) Sucht nach Anerkennung – geprägt von Erfahrungen der Nichtbeachtung und Geringschätzung in zentralen Lebensbereichen
  2. (Sehn-) Sucht nach Zugehörigkeit – geprägt von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen, bzw. anderer Formen von Verletzung und Enttäuschung
  3. (Sehn-) Sucht nach Autonomie und Schwierigkeit der Selbstfindung

Diese Erfahrungen, der von ihr festgelegten Typen, äußern sich auch in der Spielpraxis. Während der Typ 1 eher wettbewerbsorientierte Spiele bevorzuge um in Richtung Erfolgserleben orientiert zu sein, sehe der Typ 2 eher in Rollenspielen einen eigenen Sinn (z.B. Herstellung von Nähe). Typ 3 sehe das Spiel als Mittel der Selbstabgrenzung und versuche mit Hilfe des Spiels (u.a. Strategie- oder Online-Rollenspiele) Spielprozesse aktiv zu gestalten und zu bestimmen.

Genau hier liegen die Punkte, an denen auch die psychologische Behandlung ansetzen kann. Der Mensch und nicht die Krankheit wird in den Mittelpunkt gestellt. Jukschat zeigt auf, dass eine bestimmte Spielpraxis eine funktionelle Antwort auf ein Problem liefere. Dies sei ein Entstehungsgrund für eine Computerspielsucht. Um diese nachhaltig zu behandeln, müsse dieses Spieler-Spiel-Passungsverhältnis aufgelöst werden.

Ebenso ist eine wichtige Erkenntnis, dass eine verfestigte Computerspielsucht, in ihren Worten, eher ein unwahrscheinlicher Weg im Umgang mit Computerspielen sei. Das Verhältnis zwischen Spieler und Spiel unterläge einer Dynamik, in der das Spielen eine sich verändernde Bedeutung für den Spieler habe. Das bedeutet, dass der Spieler den Weg aus der Sucht verlassen kann, wenn andere Werte wieder wichtiger werden.

Dabei bagatellisiert sie nicht die Auswirkungen der Sucht und das Suchtpotenzial verschiedener Spielformen, sondern ebnet einen Weg daraus.

Das Bedeutsame an dieser Untersuchung ist, dass Jukschat klar darstellt, dass viele Wirkfaktoren zusammenkommen müssen, damit sich aus intensivem Spielen eine Sucht entwickele. Mit der Entschlüsselung dieser Wirkfaktoren beschreibt sie zudem Wege aus der Sucht. Dieser Weg könne, nach ihrer Einschätzung, zu jeder Zeit gegangen werden. Sie bettet die Computerspielsucht in die soziale Welt ein und befreit die Betroffenen aus dem Stigma der Krankheit.

Fazit

Im Grunde sind veröffentlichte Dissertationen aufgrund ihrer formalen Struktur und den immer steten Nachweis der Wissenschaftlichkeit unattraktiv zu lesen. Anders stellt sich die Arbeit von Nadine Jukschat dar. Obwohl es sich um eine soziologische Dissertation handelt, liest sich das Werk sehr flüssig, da es stets einem inneren Rahmen folgt. Alles ist schlüssig und abwechslungsreich. Der Umgang mit der Methode der qualitativen Befragung und der Grounded Theory hat ein sehr hohes Niveau und führt vom individuellen Schicksal auf eine höhere Ebene im Rahmen der Typologie der Computerspielsüchtigen und noch weiter auf einen konkreten Vorschlag, den biografischen und sozialen Kontext der Computerspielsucht stärker in den Fokus der Beratung und Behandlung zu stellen. Es zeigt bedeutende Wirkungen auf die Verstetigung der Computerspielsucht und weist auf Auswege hin. Damit ist die Lektüre dieses Buches für alle, die sich mit dem Thema beschäftigen, unerlässlich.

Rezension von
Michael Christopher
Filmwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift manycinemas
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Es gibt 34 Rezensionen von Michael Christopher.

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Zitiervorschlag
Michael Christopher. Rezension vom 18.10.2018 zu: Nadine Jukschat: (Sehn-)Sucht Computerspiel. Bedingungen der Entstehung und Verstetigung abhängiger Computerspielpraxis : ein rekonstruktiver Ansatz. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. ISBN 978-3-7799-3707-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22993.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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