Anke Karber, Jens Müller et al. (Hrsg.): Zur Gerechtigkeitsfrage in sozialen (Frauen-)Berufen
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 01.08.2017
Anke Karber, Jens Müller, Kerstin Nolte, Peter Schäfer, Tilmann Wahne (Hrsg.): Zur Gerechtigkeitsfrage in sozialen (Frauen-)Berufen. Gelingensbedingungen und Verwirklichungschancen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2017. 279 Seiten. ISBN 978-3-8474-2023-1. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR.
Thema
Die Widmung des Bandes ist Programm: Die wissenschaftliche und professionspolitische Arbeit für soziale (Frauen-)Berufe von Frau Professorin Dr. Maria-Eleonora Karsten soll gewürdigt werden.
Aufbau und Einleitung
Die Herausgeber_innen haben dazu 22 Beiträge von 28 Autor_innen gesammelt und unter vier Abschnitten zusammengestellt:
- Soziale Berufe als Gestalter*innen von Gerechtigkeit
- Professionalisierung Sozialer (Frauen-) Berufe
- Sozialdidaktik für eine gerechtere Gesellschaft
- Gender-Diskurse und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft
In der Einleitung spannen die Herausgeber_innen den Bogen von den sozialen (Frauen-)Berufen zu dem Thema Gerechtigkeit: Soziale (Frauen-)Berufe tragen einerseits zur Gerechtigkeit in der Gesellschaft bei, denn sie eröffnen für ihre vielfältigen Klient_innen Selbstbestimmung und Teilhabe. Andererseits haben die Konstruktionen dieser Berufe strukturelle Benachteiligungen erzeugt, die bis heute anhalten: sie sind unterbewertet und diffus gestaltet.
Zu 1.
Soziale Berufe als Gestalter*innen von Gerechtigkeit
Hans Thiersch diskutiert in sechs Perspektiven das Verhältnis von Sozialer Gerechtigkeit und Sozialer Arbeit. Er plädiert für eine Einmischung in gegebene politische Machtkämpfe um Strukturen und für das Mitmischen im Verbund der sozialen und ökologischen Bewegungen, da ansonsten die sozialpädagogische Orientierung an sozialer Gerechtigkeit ineffektiv bleibt.
Renate Thiersch widmet sich Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit in ländlichen Räumen und obschon diese Räume kaum empirisch untersucht sind, kommt sie zu dem Schluss, dass die pädagogische Arbeit in kleinen Kindergärten nicht etwas einfacher sondern anspruchsvoller geworden ist, und die Fachkräfte dort spezifische Unterstützungssysteme und spezielle Fortbildungen brauchen.
Auch Ursula Rabe-Kleberg nimmt am Beispiel des Kindergartens die Frage nach Profession und Gerechtigkeit auf. Damit Erzieher*innen die Menschenrechte der Kinder in der alltäglichen Arbeit umsetzen können, bedarf es nicht nur besserer materieller Bedingungen sondern auch die Ausbildung entsprechender Kompetenzen bei den professionell Handelnden.
Katja Wohlgemuth prüft die Gerechtigkeitsversprechungen, die mit der Kindertagesbetreuung verbunden werden: für die Kinder soll sie zu mehr Bildungsgerechtigkeit, für die Eltern durch eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienarbeit zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und für die Erzieher_innen endlich zu der bisher versagten Anerkennung führen. Alle Versprechungen können aber nicht eingehalten werden, solange der Ausbau der Tagesbetreuung nicht mit der Aufwertung der Berufe und deren Professionalisierung einhergeht.
Hilmar Hoffmann beschreibt die Entwicklung und den Ausbau der Kindertagesbetreuung als „neue Selbstverständlichkeit“, bei der aber weder die Rolle der Bildungspläne noch die Frage nach der Einbettung dieser Betreuungsform in das Aufwachsen der Kinder geklärt ist.
Catrin Heite und Kim-Patrick Sabla befassen sich mit der theoretischen Brille, mit der Soziale Arbeit auf „die Familie“ blickt und betonen die Wichtigkeit einer kritischen Sicht auf die traditionelle Familie und ihrer „Funktion“ für die Gesellschaft.
Wolf R. Kemper gibt einen philosophischen Abriss über die Bedeutungsgeschichte von Gerechtigkeit.
Ulrich Bartosch und Raingard Knauer präsentieren die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur Frage, welche Bedingungen für eine erfolgreiche Partizipation von Kindern notwendig sind. Ein wesentliches Ergebnis ist ein spezifisches Qualifikationsprofil zur Demokratie-Bildung für frühpädagogische Fachkräfte.
Rita Braches-Chyrek und Heinz Sünker geben einen kurzen Einblick in klassenspezifische Kindheitsmuster und familiale Lebensführungsstrategien. Die Benachteiligung weniger privilegierter Kinder kann nur sehr bedingt durch Bildungsangebote kompensiert werden, vielmehr müssen die soziale und ökonomische Lage der Herkunftsfamilien verbessert werden sowie die sozialen Schranken beim Ausbildungs- und Berufseinstieg abgebaut werden.
Waldemar Stange beschreibt das Forschungsprojekt „Jugend-Demografie-Dialog“, das im Rahmen der Demografiestrategie der Bundesregierung durchgeführt wurde und in dem Jugendgruppen Ideen und Vorschläge für ihre Zukunft entwickeln konnten.
Kathrin van Riesen geht es um Gerechtigkeit für Frauen im Hochschulsystem. Dazu geht sie von einem Spannungsverhältnis von Gleichstellungs- und Chancengleichheitspolitik und der hochschulpolitischen Entwicklung der letzten Jahre aus. Sie begrüßt zwar die positive Bewertung von Vielfalt, mahnt aber, dass der antidiskriminierende Grundsatz der Hochschul- und Wissenschaftsentwicklung nicht verloren gehen darf. Auch in Zeiten der unternehmerischen Hochschulen sind die Geschlechterverhältnisse noch nicht gerecht.
Zu 2.
Professionalisierung Sozialer (Frauen-) Berufe
Hans Gängler und Manuela Liebig geben einen Überblick zum Stand der Debatten und Reformen der Erzieher_innenausbildung mit dem Focus auf Themen wie Breitbandausbildung, Akademisierung und die Qualifikation. Ihnen erscheint eine stärkere und intensivere fachdidaktische Grundlegung für die Erhöhung der Qualität der Arbeit von Erzieher_innen am wichtigsten.
Julia Schütz präsentiert empirische Ergebnisse zum Anerkennungserleben pädagogischer Berufsgruppen und zeigt an der „Tanten-Metapher“, wie Sprache die Wirklichkeit konstruiert und die Tanten-Metapher in keiner Weise eine selbstbewusste Profession und Disziplin markiert.
Herbert E. Colla und Alexander Ristau geben historische und aktuelle Beispiele für Kämpfe um Anerkennung: Von Hildegard von Bingen über die Anerkennungstheorie bis zu dem gewerkschaftlichen Kampf der Sozial-und Erziehungsberufe
Harald Gieseke und Alexander Wegner, beide in der Bundesverwaltung von ver.di tätig, würdigen die Arbeit von M.- E. Karsten, indem sie die vielen Spuren aufweisen, die diese Arbeit im gewerkschaftlichen Bereich hinterlassen hat.
Karl Kälble diskutiert kritisch Chancen und Risiken des akademischen Franchisings unter der Perspektive der Qualitätsentwicklung.
Zu 3.
Sozialdidaktik für eine gerechtere Gesellschaft
Karin Bock zeigt am Beispiel einer Lehrveranstaltung zu erziehungswissenschaftlichen Intersektionalitätsdebatten auf, wie wichtig es ist, dass innerhalb der Sozialdidaktik die sozialen Kompetenzen der Studierenden als „ganzer Person“ zu entwickeln sind und folgt damit den Empfehlungen von M.-E. Karsten.
Auch Cornelia Wustmann geht den Einwürfen nach, die M.-E. Karsten zu Bildung und Ausbildung auf verschiedenen Ebenen, Bühnen und Arenen gegeben hat. Eine ihrer Kernforderungen ist es, eine wissenschaftlich begründete Sozialdidaktik an der Universität zu verorten.
Zu 4.
Gender-Diskurse und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft
Christine Meyer stellt den Forschungsstand über weibliche Alternsprozesse im Spannungsfeld von Unsichtbarkeit und Freiheit vor.
Jan Wulf-Schnabel behandelt die Problematik des geringen Männeranteils in der sozialen Arbeit und sieht darin einen Indikator für die unzulänglichen Produktionsverhältnisse in diesem Feld. Nur politisches Handeln und allgemeinverbindliche Tarifverträge können dem Druck des Marktes etwas entgegensetzen.
Melanie Kubandt befasst sich mit Gender Mainstreaming in der Kindertageseinrichtung. Dabei setzt sie sich kritisch mit dem Sozialisationsargument in der Debatte um die Förderung von Männern in die Kitas auseinander („Kinder brauchen männliche Vorbilder“). Sie warnt davor, im Rahmen von Gender Mainstreaming Maßnahmen Geschlechterstereotype und Zweigeschlechtlichkeit zu verfestigen.
Einen längeren Dankesgruss an M.-E. Karsten sendet zu Schluss Wolf Engelhardt mit den Ergebnissen seines Spaziergangs durch das Internet und die Zeitungslandschaft zum Internationalen Frauentag (8.März).
Diskussion
Der Band bietet einen vielfältigen Einblick in das wissenschaftliche und gewerkschaftliche Feld, in dem M.E. Karsten mit ihren eigenen Arbeiten gewirkt hat. Alle Beiträge beziehen sich ausgesprochen oder unausgesprochen auf Themen und Positionen, die auch in ihren Arbeiten behandelt wurden. Es dominieren gesellschaftskritische Positionen, die Geschlechterfragen und Systemfragen zusammendenken. Von der ideengeschichtlichen Bestandsaufnahme bis zur Würdigung der Kämpfe der Erzieher_innen um Anerkennung hat alles seinen Platz.
Wenn die Gerechtigkeitsfrage durch und für soziale Berufe sehr viele Beiträge wie ein roter Faden durchzieht, wird damit die Kernfrage der zukünftigen Gestaltung des Sozialen aufgegriffen. Dabei wird deutlich, dass soziale Berufe ihren Beitrag zu mehr Gerechtigkeit nur leisten können, wenn gesellschaftliche Rahmenbedingungen es auch ermöglichen.
Als eine wichtige Rahmenbedingung stellt sich auch die Professionalisierung dieser Berufe selbst heraus. Die Autor_innen machen eine Reihe von Vorschlägen: neben der generellen Aufwertung der Sozialberufe durch verbesserte Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung über spezielle Fortbildungen und Unterstützungssysteme durch Fachberatung bis hin zu der Verankerung einer Sozialdidaktik in den Hochschulen. Auch die Betrachtung der Gemeinsamkeiten der Sozialberufe, nicht nur in ihrer geschlechtlichen Zuordnung sondern auch in ihrem Auftrag und ihren notwendigen Qualifikationen, kann dazu beitragen, das gesellschaftliche Bewusstsein für die Bedeutung dieser Berufe für die Lebensqualität in der Gesellschaft zu stärken.
Fazit
Den Herausgeber_innen ist die Wertschätzung der Arbeit von M.-E. Karsten gelungen und der Band weckt das Interesse, sich mit der Aufwertung, der Professionalisierung der sozialen (Frauen)-Berufe und der Sozialdidaktik näher zu beschäftigen. Wer an mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft insgesamt und der Gerechtigkeit durch und für die sozialen (Frauen-)Berufe interessiert ist, findet durch die Vielfalt der Beiträge in diesem Band viele Anregungen.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 01.08.2017 zu:
Anke Karber, Jens Müller, Kerstin Nolte, Peter Schäfer, Tilmann Wahne (Hrsg.): Zur Gerechtigkeitsfrage in sozialen (Frauen-)Berufen. Gelingensbedingungen und Verwirklichungschancen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2017.
ISBN 978-3-8474-2023-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23003.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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