Bessel A. van der Kolk: Verkörperter Schrecken (psychisches Trauma)
Rezensiert von Claudia Frank, 06.10.2017
Bessel A. van der Kolk: Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. G.P. Probst Verlag GmbH (Lichtenau) 2016. 2. Auflage. 494 Seiten. ISBN 978-3-944476-13-1. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 47,90 sFr.
Thema
Mit dem Buch „Verkörperter Schrecken“ liefert der renommierte Bessel van der Kolk gleichzeitig eine Autobiographie als Forscher und Therapeut, ein durch eine Vielzahl von interessanten Studien fundiertes Grundlagenwerk zum Verständnis von Traumafolgestörungen sowie ein umfangreiches und vielfältige Ansätze einbeziehendes Praxisbuch, das wichtige (teilweise in Deutschland noch wenig begangene) und noch wenig erforschte Wege der Traumatherapie vorstellt und nachhaltig für sie plädiert.
Der Klappentext ordnet „Verkörperter Schrecken“ durch Peter Levine - selbst ein anerkannter Pionier einer körperbasierten Traumatherapie – achtungsvoll und stimmig ein: „Das Buch ist von atemberaubendem, geradezu epischem Ausmaß, ein Grundlagenwerk, geschrieben von einem der wichtigsten Pioniere der Erforschung und Behandlung von Traumata.“
Autor und Entstehungshintergrund
Prof. Dr. med. Bessel van der Kolk ist ein Traumaforscher, der zum Verstehen und der Therapie von Traumafolgestörungen wesentlich beigetragen hat. Er ist Direktor des Traumazentrums am Human Resources Institute Hospital in Boston, Professor für Psychiatrie an der Boston University Medical School und Direktor des Netzwerks für komplexe Traumabehandlung (NCTSN).
In seiner wissenschaftlichen Karriere hat van der Kolk eine Fülle von thematisch und methodisch sehr breit angelegten Studien im Themenfeld von Traumatisierungen und Traumatherapie durchgeführt und in Veröffentlichungen dokumentiert. Er kombiniert dabei psychologische, körperliche, soziale und neurophysiologische Aspekte.
Im hier rezensierten Buch „Verkörperter Schrecken“ lässt van der Kolk seine Forscher- und Therapeutenlaufbahn als Traumaspezialist Revue passieren. Über die Etappen seines eigenen Erkenntnisgewinns vermittelt er zentrales Wissen über die Entstehung und Wirkung von Traumatisierungen und der Therapie von traumatisierten Menschen.
Aufbau
Grob gesagt ist „Verkörperter Schrecken“ in seiner ersten Hälfte ein Fachbuch zum Verständnis von Traumatisierung und im zweiten Teil ein Praxisbus für die Behandlung von Traumafolgestörungen. Die Kapitel behandeln einerseits in sich abgeschlossene Themenbereiche und werden fast immer auch anhand von Protagonisten und Studien van der Kolks erläutert. Das Buch folgt gleichzeitig einem stringenten inhaltlichen Aufbau, wie dem Erkenntnisgewinn, der wissenschaftlichen Weiterentwicklung des Autors:
- Verständnis von Traumatisierungen (theoretischer Gehalt)
- Grundlagen und Einordnung von Traumatherapie
- Praktische Umsetzung körperbasierter Traumatherapie
Zu 1. Verständnis von Traumatisierungen (theoretischer Gehalt)
Wie das Autonome Nervensystem, die unterschiedlichen Gehirnregionen auf Traumatisierungen reagiert, ist anschaulich und fundiert beschrieben. Weiterhin erklärt van der Kolk mit Hilfe der Neurowissenschaft, der Entwicklungspsychopathologie und der interpersonalen Neurobiologie, wie Traumata zu physiologischen Veränderungen führen. Traumatisierte Menschen schütten verstärkt Stresshormone aus und sind daher im Alltagsleben stark eingeschränkt, was ihre Wahrnehmung nachhaltig verändert. „Traumatisierte neigen dazu, ihr Trauma in alles, was in ihrer Umgebung passiert, hineinzusehen“ (S. 26). Van der Kolk spricht von einem Versagen der Vorstellungskraft, einem Verlust der mentalen Flexibilität und erläutert die Folgen für die Erinnerungen. Die Traumatisierung wird damit nicht zu einem zurückliegenden Ereignis, sondern mischt sich immer wieder erlebbar ins Hier und Jetzt ein. „Ist das Problem bei einer PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) eine Dissoziation, muss das Behandlungsziel eine Assoziation sein: die Integration der abgespaltenen Elemente des Traumas in die fortlaufende Erzählung des Lebens, so daß das Gehirn erkennen kann daß ‚jenes damals war und dies jetzt ist.‘“ (S. 218)
Durch Aufnahmen im Hirnscanner zeigte die Arbeitsgruppe um van der Kolk, dass Flashbacks die rechte Hemisphäre (Intuition, emotional, visuell, taktil) aktivierten und die linke Hirnhälfte (sprachlich, sequenziell und analytisch) deaktivierten. Traumatisierte haben daher Schwierigkeiten ihre belastenden Erfahrungen als kohärente Geschichten mit Anfang und Ende darzustellen (Seite 57 ff.). Van der Kolk erklärt zudem, warum es (nicht nur für Traumatisierte) schwer ist, Gefühle zu Versprachlichen. „Die Sprache entstand in erster Linie, damit wir Menschen 'Dinge da draußen', weniger unsere inneren Empfindungen, mitteilen können. (Noch einmal sei darauf hingewiesen, daß das Sprachzentrum des Gehirns von dem das Selbsterleben zuständigen Zentrum so weit entfernt liegt, wie es 'geographisch' nur möglich ist)“ (S. 283). Den meisten von uns gelingt es daher besser andere Menschen, als sich selbst zu beschreiben.
Diese beiden Tatsachen erklären, warum traumatisierte Menschen durch ihre veränderte Selbstwahrnehmung spezifische Probleme haben über ihre Traumatisierung zu sprechen. Als Folge (weil sie ihre Gefühle so schlecht in Worte fassen können) wissen sie auch schlechter, was ihre physischen Empfindungen bedeuten und gehen daher oft nicht angemessen mit ihren Bedürfnissen um (etwa angemessen lange zu schlafen oder zum richtigen Zeitpunkt zu essen) (S. 283).
Plädoyer für körperbezogene Traumatherapie (Bottum-up)
Traumatisierte Menschen haben vielfach ein gestörtes Körpergefühl, betroffen ist oft der Schlaf, der Appetit, der Erregungszustand, die Verdauung. „Deshalb muss sich jede Traumabehandlung, wenn sie wirksam sein soll, mit diesen grundlegenden Körperfunktionen befassen.“ (S. 71) Der Patient muss lernen, mit dem eigenen Körper Freundschaft zu schließen: „Wütende Menschen leben in einem wütenden Körper.“ (S. 123) Nach van der Kolk ist es daher zentral: Empfindungen im eigenen Körper zu registrieren, diese zu beschreiben (Druck Wärme, Kribbeln, Muskelanspannung …) und schließlich herausfinden sowie zu nutzen welche Empfindungen für den Patienten mit Freude und Entspannung verbunden sind (über Atmung, Gesten, Bewegung).
Wenn in „Verkörperter Schrecken“ ein Thema allen Kapiteln, Befunden und Erklärungen voransteht, dann ist es das Plädoyer für spezifische körperbasierte Therapieformen. Vereinfacht und einige Ansätze ausklammernd gesprochen reicht die Bandbreite der ausführlich dargestellten und in ihrer Wirkungsweise aufgeschlüsselten Methoden von rein auf die Umprogrammierung des Gehirn abzielenden Methoden (EMDR und Neurofeedback), über bewegungs-, atmungs- und wahrnehmungszentrierte Wege (die etwa nichtwestliche Konzepte wie Qigong, Yoga aber auch Massagen und Achtsamkeitsübungen bieten) bis hin zu stärker inszenatorischen Ansätzen (von Pesso-Therapie bis zum Theaterspiel).
Eindrücklich beschreibt van der Kolk, wie viele Menschen durch eine Traumatisierung „depersonalisieren“, d.h. den Geist abschalten. Diese Menschen werden als Leidende oft übersehen, weil sie im Alltag gut funktionieren und oft sehr angepasst sind. „Ein lebloser Patient zwingt mich wesentlich härter zu arbeiten, um die Therapie lebendig zu halten, und ich habe oft darum gebetet, daß solche Therapiesitzungen schnell vorübergehen mögen.“ (S. 88) Das Zitat zeigt auch den bewusst subjektiven Stil van der Kolks als empfindender Mensch und zugleich engagierter Therapeut. Mit der Beschreibung seiner therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen leitet er dann auch seine Analyse ein, „klassische Redetherapien“ seien gerade bei Patienten, deren Gehirn wie abgeschaltet sei und die nicht empfinden (für ihn zumeist Patienten, die bereits als Kinder und langanhaltend unter traumatischer Belastung leben mussten) nicht zielführend.
Die Rolle von Beziehungen
Die Bedeutung von stabilen, einfühlsamen Beziehungen ist ebenfalls ein durchgängig aufscheinendes Thema des Buches. Für van der Kolk haben Beziehungen präventive und heilende Bedeutung – was er durch Studien belegt. Entscheidend sei die Reziprozität: „dass wir uns von den Menschen in unserer Umgebung wirklich gehört und gesehen fühlen“ (S. 97). Traumatisierungen im Gegenzug lösten oft Beziehungsunfähigkeit aus (S. 104).
Van der Kolk bringt die Beziehungsdimension mit der Körperarbeit zusammen. An einem zitierten Ausspruch seiner bevorzugten Körpertherapeutin Licia Sky macht er den Zusammenhang deutlich: „Man muß Klienten mit starkem Selbstvertrauen und viel Empathie begegnen und der Anspannung, die sie in ihrem Körper festhalten, den Druck der eigenen Berührung entgegensetzen“ (S. 259).
Die Selbstempfindung
Im Gehirnsan wurde deutlich, dass bei Traumatisierten wichtige Gehirnregionen für ihre Selbstempfindung fast deaktiviert sind (S. 110). Auch an diesem Punkt kommt das körperliche Erleben ins Spiel. Mit Verweis auf den Neurologen Antonio Damasio, der das Buch „Ich fühle also bin ich“ auf Grundlage der Behandlungen von Menschen mit Hirnschäden geschrieben hat, legt van der Kolk dar, „daß das Zentrum unseren Selbstgewahrseins in den physischen Empfindungen zu suchen ist, die uns über die inneren Zustände des Körpers informieren.“ (S. 113) Die Fähigkeit sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen (Handlungsfähigkeit) hänge stark vom „Gewahrsein unserer subtilen sensorischen, körperbasierten Gefühle“ ab (S. 117), diese (er nennt Atmung, Herzfrequenz, Verdauung und Hormonproduktion und das Immunsystem) seien jedoch durch Traumata indirekt eingeschränkt.
Entwicklungsbezogene Traumatisierung von Kindern
Entwicklungsbezogene Traumatisierung von Kindern ist ein herausstechendes Thema in „Verkörperter Schrecken“, so wie im Therapeutenleben von van der Kolk. Auch wenn er traumatisierten Veteranen viel Zeit und Engagement gewidmet hat, sind es in der Kindheit traumatisierte Menschen, die ihn besonders tiefgehend beschäftigen. Dieses Engagement mündet im Versuch, „Entwicklungsbezogene Traumatisierung“ für die APA (American Psychological Association) als eigenständige Kategorie für die Überarbeitung in den DSM-Katalog zu empfehlen. Trotz empirischer Belege und wichtiger namhafter Unterstützer führt diese Initiative nicht zum Erfolg. Im aktuellen DSM-Katalog sind viele Etiketten, die entwicklungsbezogenen Traumatisierungen innewohnen nur als Einzeldiagnosen (Affektstörung, Selbstverletzung, Sozialverhaltensstörung etc.) enthalten. Für van der Kolk stimmt hier der grundsätzliche Blick nicht, da die Ursachen der Störungen in der aktuellen Lesart weiterhin nur im Individuum lokalisiert seien. Ursachen sozialer Art dagegen würden vernachlässigt. Als Folge erhielten betroffene Menschen oft viele, auch wechselnde Einzeldiagnosen, ihr wahres Leid werde vielfach nicht zutreffend gesehen und behandelt.
An dieser Stelle des Buches verdeutlicht sich der therapeutische Ethos und die tiefe Verbundenheit mit dem Leid der Patienten besonders deutlich. Van der Kolk betrachtet das Thema von der Bindungsforschung aus und formuliert als therapeutisches Ziel, dass es: „nicht wichtig ist, jedes Detail der Traumatisierung von Patienten zu kennen. Entscheidend ist, daß die Patienten selbst zu ertragen lernen, daß sie fühlen, was sie fühlen, und daß sie wissen, was sie wissen.“ (S. 154)
Auch hier spürt er dem Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und psychisch-traumatischer Belastung nach. So seien Autoimmunerkrankungen bei Inzestvorgeschichten in der Kindheit häufig und als Weg des Körpers zu verstehen sich selbst anzugreifen. Nach Traumatisierungen in der Kindheit – ergab eine großangelegte Metastudie – nahmen Selbstmordversuche, Drogenkonsum, Vergewaltigung und ebenso chronische Krankheiten exponentiell zu (S. 178). Sein Engagement bündelt sich in der Begründung des „National Child Traumatic Stress Network“.
Zu 2. Grundlagen und Einordnung von Traumatherapie
Für van der Kolk kann Traumatherapie gegen die körperlichen und psychischen Folgen von Traumatisierungen viel anbieten. Diese Folgen sind für ihn etwa die „bedrückenden Empfindungen in der Brust, die vielleicht Angst oder Depression genannt werden“ (S. 243), aber auch diverse Ängste, Selbsthass, Albträume, Bindungsprobleme, Konzentrationsprobleme (ebenda).
Wichtig ist für van der Kolk Self-Leadership (sich Körper und Geist wieder zu eigen zu machen), dies können traumatisierte Menschen nur mühevoll wiedererlangen. Dazu gehört für ihn, sich selbst beruhigen und refokussieren zu können, trotz belastender Erinnerungen diese Ruhe aufrechtzuerhalten, sich auf die Gegenwart einzulassen (S. 244). Nicht jeder Traumatisierte könne nach seiner Erfahrung diese Ziele alle erreichen, die zudem nicht in einer chronologischen Reihenfolge stünden.
In „Verkörperter Schrecken“ werden drei Behandlungswege bei der Arbeit mit traumabelasteten Menschen genannt. Der konkrete Weg könne nur in Abhängigkeit mit der jeweiligen Person gewählt werden und sei meist eine Kombination der drei Wege. Hier zunächst die drei Zugangswege:
- top-down: durch das Reden eine (Wieder-)Herstellen der Verbindung zu anderen Menschen,
- Medikamente, um die Organisation im Gehirn zu verändern und schließlich
- bottom-up-Ansätze, die dem Körper neue Erlebnisse ermöglichen.
Zur Überwindung der beeinträchtigenden Begleiterscheinungen traumatischer Belastung ist es für van der Kolk sehr wichtig, dass Patienten selbst aktiv werden – aber auch, dass sie lernen Traumaerinnerungen anzuerkennen und in ihre Geschichte zu integrieren. Die unterschiedlichen aktuell angewandten Ansätze dieser Integrationsarbeit geht van der Kolk einzeln durch, bewertet einige jedoch als ausdrücklich ungeeignet.
Bei Ansätzen, die rein dem Weg a) zuzurechnen sind ist er insgesamt wenig überzeugt. Eine Ausnahme bildet das Schreiben („Sich selbst einen Brief schreiben“ ab Seite 284). Anders als das Sprechen (siehe dazu weiter oben in dieser Rezension zum Sprechen über Gefühle) sei das Schreiben ein guter Weg über das Erlebte in die Sprache zu kommen – denn beim Schreiben seien andere, freiere, emotional tiefere Prozesse in Gang als beim Sprechen.
Zu 3. Praktische Umsetzung körperbasierter Traumatherapie
Durch „Verkörperter Schrecken“ zieht sich die schon im Titel durchklingende Fokussierung auf körperbasierte Behandlungsformen. Im Praxisteil des Buchs werden in Einzelkapiteln dann einige der Methoden besonders herausgearbeitet und auch empirisch eingeordnet.
Eine gute Kombination aus sprachverankertem a) und körperbezogenem Ansatz c) ist für van der Kolk die Polyvagal-Therapie. Dieser Therapieansatz habe zudem den „Wert anderer uralter, nicht-pharmakologischer Behandlungsansätze, die man außerhalb der westlichen Medizin seit langem nutzt“ (S. 106) geöffnet, genannt werden beispielsweise spirituelle Atemübungen und Gesang, Kampfkünste, gruppenbezogene Rituale im Tanz, beim Trommeln (ebenda). „Im Gegensatz zur Vorliebe westlicher Ärzte und Therapeuten für Psychopharmaka und 'Redekuren' stellen die Heiltraditionen anderer Kulturen Achtsamkeit, Bewegung, Rhythmik und Aktivität in den Vordergrund ihrer Bemühungen.“ (S. 238)
Das Gehirn umprogrammieren: Chancen von EMDR und Neurofeedback
Sehr eingehend schildert van der Kolk seine zunächst skeptische, dann persönliche und empirische Auseinandersetzung mit EMDR, das ihn vor allem in seiner Langzeitwirkung überzeugt hat.
Einen ähnlichen Stellenwert wie EMDR bekommt im Buch das Neurofeedback. Mit Auffälligkeiten der Gehirnwellenaktivität bindungsgestörter Kinder erklären van der Kolk deren eingeschränkte Kontrolle über Emotionen. Im Neurofeedback können Patienten selbst eine technisch unterstützte Umpolung dieser Wellenaktivitäten durch Rückspiegelprozesse der Wellen in das Gehirn hinein vornehmen. „Ich hatte noch keine Behandlung kennengelernt, die eine so dramatische Veränderung der mentalen Funktionsfähigkeit in so kurzer Zeit hätte erreichen können.“ (S. 371)
Einblick in die Wirksamkeit von bewusster Atmung, Yoga, Achtsamkeitsübungen und Selbstmitgefühl in der Traumatherapie
Bewusste Atmung, Yoga, Achtsamkeitsübungen, Selbstmitgefühl bilden recht unterschiedliche Ansätze mit einigen Überschneidungsbereichen und teilweise fließenden Übergängen. Im Verlauf des Buchs sind Hinweise zu den Bereichen an vielfältigen Stellen zu finden, außerdem widmet sich van der Kolk im Praxisteil teilweise ausführlich diesen Themen und hebt durchweg ihre positive Wirkung hervor.
Achtsamkeitsübungen und eine bewusste Atmung bieten die Chance ohne große Hürden erste Wege zum inneren Erleben anzubieten, indem auf physische Empfindungen fokussiert und sich deren Flüchtigkeit vergegenwärtigt wird. Wichtig ist hierbei die Wechselwirkung zwischen Gedanken und Körperempfindungen. Als gute Körperarbeit mit Traumatisierten stellt er daher auch therapeutische Massage, Craniosakral-Therapie und Feldenkreis heraus.
Als wichtiger Aspekt bei der Arbeit mit Traumatisierten zieht sich der Gedanke der Handlungsfähigkeit, Agency, Self-Leadership durch das gesamte Buch und wird an einigen Stellen speziell thematisiert (siehe hierzu bereits im Kapitel zum Theorieteil des Buches). Im Praxisteil geht van der Kolk diesem Gedanken folgend speziell auf die systemische Methode Internal Family Therapy (IFS) ein, als Chance „mit durch Traumata entstandenen abgespaltenen Anteilen zu arbeiten. Im Zentrum der IFS steht die Vorstellung, unser Geist gleiche einer Familie, deren Mitglieder verschiedene Grade der Reife, Reizbarkeit und Weisheit sowie des Schmerzes charakterisieren. Diese Anteile bilden zusammen ein Netzwerk oder System, innerhalb dessen Veränderungen in einem bestimmten Anteil sich auf alle anderen Anteile auswirken.“ (S. 334)
Den traumatischen Schrecken darstellend und stellend vertreiben
Van der Kolks Haltung im Buch (das Ineinandergreifen seiner persönlichen Auseinandersetzung, theoretischer Einordnung, empirischer Erforschung und Fallbeispiele) kommt bei der Vorstellung der Pesso-Therapie, einer psychomotorischen Therapie, besonders deutlich zum Vorschein. Dieser Ansatz arbeitet mit den Erinnerungen im Raum – unterstützt durch einen spiegelnden Therapeuten. „Die Teilnehmer können die Kakophonie und Verwirrung der Vergangenheit mit Hilfe dieser Methode gefahrlos untersuchen. Das führt zu konkreten Aha-Erlebnissen.“ (S. 362)
„Verkörperter Schrecken“ endet mit einem Kapitel zur Theaterarbeit, da hier viele von van der Kolks Überlegungen, therapeutischen Erfahrungen und empirischen Erkenntnisse zur Bottum-up-Körperarbeit zueinanderfinden. Er betont u.a. die Wirkung gemeinschaftlicher Rhythmen „Wenn wir mit Menschen spielen, fühlen wir uns körperlich auf sie eingestimmt, und wir erleben Verbundenheit und gemeinsame Freude. Improvisationsübungen (…), sind eine wundervolle Möglichkeit, Menschen zu helfen, gemeinsam Neues zu erforschen und Freude zu erleben.“ (S. 257)
Anhand von drei Theaterprojekten für traumatisierte Menschen zeichnet er die Bandbreite möglicher Ansätze, die Wirkungsweise und Prinzipien nach. In der Darstellung und Rollenerarbeitung verlagert sich der Fokus, weg von den persönlichen Geschichten des Schmerzes zur Frage, wie die Geschichte auf der Bühne gut wird, welche Figuren dafür gebraucht werden, wie diese agieren müssen, wie das Bühnenbild aussehen soll, welche Musik die Wirkung unterstützen kann. Rhythmische Körpererfahrungen in der Gruppe, das schauspielerische Darstellen eigener und fremder Geschichten sind für van der Kolk nachhaltige und noch zu wenig gegangene Wege der Traumatherapie.
Diskussion
„Verkörperter Schrecken“ beinhaltet einen beispiellosen Umfang an traumaspezifischen Themen und praktischen Therapieansätzen, die der Autor van der Kolk systematisch darlegt und gleichzeitig andhand seines Suchens nach wirksamen, passenden und nachhaltigen Behandlungswegen als persönlichen Erkenntisgewinn darstellt. Bei seiner Suche ist der Autor offen und wach für Konzepte, Methoden auch von außerhalb der etablierten Traumatherapie und sucht nach Belegen der Wirkung in der konkreten Therapie und in einer Fülle empirischer Arbeiten. Sehr überzeugend weist er die Wirkung von Traumatisierungen auf die Körperempfindung, die Selbstempfindung von Menschen und dann auch die Möglichkeiten körperbasierter Therapie für die Behandlung traumatisierter Menschen nach. Aus der Logik körperbasierter Behandlungswege heben sich die Kapitel und Ansätze zu EMDR und Neurofeedback ab – die direkt auf Gehirnfunktionen zugeschnitten sind. Die Ansätze überzeugen ihn auch aufgrund ihrer nachhaltigen Langzeitwirkung. Zurückhaltend, wenn nicht kritisch schaut er auf „klassische Redetherapien“, dem (Wieder-)Herstellen der Verbindung zu anderen Menschen durch Reden.
Das Buch zeigt, wie van der Kolk Berufsstationen (etwa die studentische Aushilfstätigkeit in einem Schlaflabor) aber auch biographische Erfahrungen (die rätselhafte Erkrankung seines Sohns mit einer nachhaltigen Kraftlosigkeit) für das Verständnis und die Behandlung Traumatisierter fruchtbar macht. Dadurch gewinnt dieses Fachbuch eine Authentizität, die in deutschen Fachbüchern selten zu finden ist: er macht sein subjektives Suchen und Verstehen-Wollen transparent und damit die Integration immer neuer Wissensbereiche in die Traumatherapie auf eine einleuchtende Art nachvollziehbar. Die von ihm gesuchten, zufällig oder gezielt gefundenen Ansätze integriert er in sein therapeutisches Reperteure. Van der Kolk zwingt seinen Erkenntnisweg jedoch nicht auf und lässt dem Leser Platz für Wege und Wissensbereiche, die im Buch nicht besonders betrachtet werden.
In „Verkörperter Schrecken“ kommt der Leser etlichen traumatisierten Menschen erstaunlich nahe. In Fallgeschichten schildert van der Kolk Patienten als Personen, die trotz widrigem Aufwachsen, erschreckenden Wiederfahrrissen oder größter Belastungen mit einem Lebenswillen, einer oft erstaunlichen Kompetenz für sich sorgen, sich unter den gegeben Umständen nachvollziehbar verhalten und sich trotz allem was sie tragen müssen nicht aufgeben. Im Kontext von Traumatisierungen in der Kindheit spürt man den therapeutischen Ethos und die tiefe Verbundenheit des Autors mit dem Leid der Patienten besonders deutlich.
In vielen Kapiteln gehen diese intensiven Fallbeispiele, Erfahrungen als Therapeut, eigenen Forschungsarbeiten und grundsätzlichen Überlegungen nahtlos ineinander über. Van der Kolk schreibt dabei in einem bewusst subjektiven Grundton, der auch Raum für ehrliche Vorbehalte, staunende Selbsterkenntnis und große Begeisterung hat. Dieser Stil schmälert in keiner Weise den Eindruck, dass „Verkörperter Schrecken“ ein gründlich belegtes und umfassendes Grundlagenwerk ist.
Die im deutschsprachigen Raum nach Luise Reddemann verbreitete Imaginationsarbeit wird in „Verkörperter Schrecken“ an keiner Stelle erwähnt. Auch die ego-state-Therapie, Innere-Kind-Arbeit wird nicht speziell hervorgehoben oder als Bezugspunkt einer wenig körperbasierten Form der Traumatherapie eingeführt, einzig im Ansatz der verwandten Internal Family Therapy (IFS) (S. 334) scheint der Weg, Erinnerungen mit Vorstellungsbildern zu kombinieren als wirksame und erprobte Form der Traumatherapie kurz durch.
Fazit
„Verkörperter Schrecken“ bildet das Lebenswerk eines wichtigen und schaffensreichen Traumaforschers in nachdrücklicher Weise ab. Van der Kolk gelingt damit ein umfangreiches und sowohl theoretisch fundiertes, wie empirisch belegtes Fachbuch zum Verständnis von Traumatisierungen (erster Teil) sowie zur Therapie von Traumatisierungen (zweiter Teil). Insgesamt bleibt das Buch eine Art Paradox, es ist ein umfangreiches und gehaltvolles Grundlagenwerk, das gleichzeitig sehr persönlich das etablierte Wissen und Handeln in der Traumatherapie kommentiert. Im ersten Buchteil wird u.a, die Funktionsweise des Gehirns, die Folgen von Traumatisierungen auf die Funktionalität unterschiedlicher Hirnregionen und für das Körperempfinden, das Verhalten der betroffenen Menschen erläutert.
Für van der Kolk sind Beziehungen ein wichtiger Erfolgsfaktor bei der Therapie. Im Buch wird ebenfalls an vielen Stellen das Konzept der Selbstempfindung in seiner neurologischen Nachweisbarkeit aber auch in seiner zentralen Bedeutung für die Handlungsfähigkeit betrachtet und herausgearbeitet, die dann auch wiederum mit dem Körpergewahrsein verbunden ist. Van der Kolk setzt sich auch mit den pharmakologischen Möglichkeiten in der Traumabehandlung sehr (selbst-) kritisch und gestützt auf Studien auseinander.
Entwicklungsbezogene Traumatisierung von Kindern ist ein herausstechendes Thema in „Verkörperter Schrecken“, so wie im Therapeutenleben von Bessel van der Kolk. Für in der Kindheit traumatisierte Menschen plädiert Bessel van der Kolk eine eigenständigen Kategorie im DSM-Katalog der APA zu etablieren, die „Entwicklungsbezogene Traumatisierung“, um die sozialen Ursachen dieses Leids sichtbar zu machen und zu geeigneteren Therapieformen zu kommen.
Der zentrale Faden durch das gesamte Buch ist ein Plädoyer für mehr körperbezogene Traumatherapie (Bottum-up). Die Beschreibungen und Begründung zu diesen Ansätzen werden durch intentive Fallbeschreibungen, Praxisbeispiele und empirische Studien gerahmt. Neben den in eigenen Kapiteln vorgestellten Therapieformen (Pesso-Therapie, Theaterarbeit, Yoga etc.) nennt van der Kolk etliche weitere Möglichkeiten der körperbasierten Arbeit mit traumatisierten Menschen, von denen viele aus fernöstlicher Tradition stammen.
Die Auswahl und Bewertung der vorgestellten praktischen Therapieansätze verheimlicht an keiner Stelle die persönliche Präferenzen van der Kolks. Dieses Vorgehen, gepaart mit der gründlichen Vorstellung seiner Erfahrung, von Fallbeispielen und empirischen Belegen macht das Buch besonders und wertvoll. Hier spricht die langjährige und sehr breit gefächerte Beschäftigung mit traumatisierten Menschen. Das Buch bietet sich besonders für Menschen an, die bereits Grundlagenwissen und/oder Erfahrungen im Bereich der Traumatherapie besitzen. Ohne ein solches Wissen könnte die fast ausschließlich geringschätzige Erwähnen von „Redekuren“ (gemeint sind alle rein sprachlichen Formen der Traumatherapie) als Uninformiertheit oder Voreingenommenheit gelesen werden.
In diesem Buch wird man immer wieder blättern, um sich bei der Arbeit mit traumatisierten Menschen theoretisch und praktisch zu orientieren. Obwohl es als gewichtiges Grundlagenwerk einzuordnen ist, bleibt „Verkörperter Schrecken“ leicht und filigran, deutet noch unreife, neue Entwicklungen und Wege in der Traumatherapie und im Verständnis von Traumatisierungen an. „Verkörperter Schrecken“ kann allen Menschen, die therapeutisch, pädagogisch aber auch wissenschaftlich zum Thema Traumatisierung arbeiten sehr empfohlen werden.
Rezension von
Claudia Frank
Ethnologin, Psychologin und Traumafachberaterin
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Es gibt 3 Rezensionen von Claudia Frank.
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Zitiervorschlag
Claudia Frank. Rezension vom 06.10.2017 zu:
Bessel A. van der Kolk: Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. G.P. Probst Verlag GmbH
(Lichtenau) 2016. 2. Auflage.
ISBN 978-3-944476-13-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23008.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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