Felix Rauner: Grundlagen beruflicher Bildung
Rezensiert von Prof. Dr. Werner Sauter, 08.08.2018

Felix Rauner: Grundlagen beruflicher Bildung. Mitgestalten der Arbeitswelt. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2017. 1191 Seiten. ISBN 978-3-7639-5776-7. D: 69,00 EUR, A: 71,00 EUR.
Thema
Die aktuelle Entwicklung der dualen Ausbildung gibt Grund zur Sorge, immer mehr Jugendliche entscheiden sich für ein Studium. Auch die Arbeitswelt verändert sich grundlegend mit immer größerer Dynamik. Die digitale Transformation im Zuge der vierten industriellen Revolution ist das Ergebnis verschiedener technologischer Entwicklungen, die direkte Auswirkungen auf die beruflichen Bildungssysteme haben.
Felix Rauner geht in seinem grundlegenden Werk der Frage nach, wie die berufliche Bildung für die aktuellen Herausforderungen gerüstet ist und welche Veränderungen in den Betrieben, in den Berufsschulen sowie in der Politik notwendig sind.
Autor
Felix Rauner ist seit 1978 Professor an der Universität Bremen und leitet die Forschungsgruppe Berufsbildungsforschung (i:BB). Darüber hinaus ist Felix Rauner Advisory Professor an der East China Normal Universität (Shanghai) sowie der Tongji Universität und Vorsitzender internationaler Forschungsnetzwerke. Seine aktuellen Forschungsarbeiten und -projekte beziehen sich auf Fragen der international vergleichenden Berufsbildungsforschung sowie der Large Scale-Kompetenzdiagnostik in der beruflichen Bildung.
Entstehungshintergrund
Die Konsequenz der Digitalisierung ist, dass die Mitarbeiter zunehmend Kompetenzen, also die Fähigkeit zur selbstorganisierten Bewältigung von Herausforderungen, und Ordner für ihr Handeln – also Werte – benötigen. Deshalb gewinnen Geschäftsmodelle der beruflichen Bildung mit einer Verlagerung von Wissens- zu Werte- und Kompetenzzielen auf Basis einer Ermöglichungsdidaktik, vom formellen und fremdgesteuerten Lehren zum informellem und selbstorganisiertem Lernen und einer Rückbesinnung auf Lernen in realen Herausforderungen sowie das Lernen im Netz an Bedeutung.
Diese Entwicklungsprozesse können aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen mit ihrem jeweils spezifischen Blickwinkel in Hinblick auf die leitenden Prinzipien, die zentralen Argumentationslinien und wesentliche Befunde analysiert und strukturierend beschrieben werden.
Felix Rauner hat in diesem umfassenden Werk seine wichtigsten Erkenntnisse aus Projekten, Vorträgen und Veröffentlichungen zusammen gefasst.
Aufbau und Inhalt
Das Handbuch ist nach dem Konzept der Mitgestaltung der Arbeitswelt in sechs Kapiteln strukturiert, das nach Rauner nicht nur aus wissenschaftlichen Aussagen hergeleitet werden kann, sondern in Prozessen mit den Beteiligten gestaltet werden muss. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Im ersten Kapitel geht der Autor auf den Zusammenhang von Arbeit, Technik und beruflicher Bildung ein. Er erörtert dabei Aspekte der human-ökologischen Technikgestaltung und analysiert die industrielle Entwicklung in Hinblick auf die Zukunft der Facharbeit bis hin zur Industrie 4.0 und dem Zusammenspiel von menschlicher und künstlicher Intelligenz. Eine besondere Rolle spielen dabei die veränderten Anforderungen an die Berufsbildung sowie deren politischen Rahmenbedingungen.
Im zweiten Kapitel geht es um die Leitideen und Theorien einer gestaltungsorientierten Berufsbildung. Eine besondere Rolle spielen dabei die Kompetenzziele sowie die Rolle der Berufsschulen und der Betriebe. Eine gestaltungsorientierte Berufsbildung verfolgt das Ziel, die Mitarbeiter zur Gestaltung der Arbeitswelt zu befähigen und die Lernchancen im Arbeitsprozess zu nutzen.
Im dritten Kapitel geht es um die Gestaltung beruflicher Bildungsprozesse, insbesondere der Inhalte und Methoden des beruflichen Lernens. Dabei werden Fragen didaktischer Ansätze und die Integration neuer Technologien ausführlich erörtert und Anregungen zur Umsetzung dargestellt. Am Beispiel Elektrotechnik-Informatik wird das berufspädagogische Konzept der Grundbildung und die darauf aufbauende Fachbildung zur Diskussion gestellt. Rauner fordert einen grundlegenden Perspektivenwechsel in der beruflichen Bildung, die sich zukünftig konsequent an der Entwicklung beruflicher Kompetenzen für die berufliche Arbeit orientieren soll. Als Grundform gewerblich-technischer Berufsbildung schlägt er experimentierendes Lernen und den Aufbau der Fähigkeit, seine Arbeitswelt zu gestalten, vor. Mit seinem Lernfeldkonzept, das auf kompetenzfördernden Arbeitssituationen basiert und in Arbeits- und Lernaufgaben mündet, erhält die berufliche Bildung ein originäres, bildungstheoretisches Fundament. Die Berufsschulen und die Betriebe müssen ihre Rolle in der Berufsausbildung neu definieren. Eine besondere Funktion hat dabei die Kompetenzdiagnostik, da nur durch sie eine kompetenzorientierte Berufsbildung möglich wird.
In Kapitel 4 geht es um die Organisation und Steuerung beruflicher Bildungsprozesse und Bildungssysteme. Rauner entwickelt dabei das Bild einer dual-kooperativen Bildung mit Ausbildungspartnerschaften, die durch eine konsequente Orientierung an den für die berufliche Kompetenzentwicklung bedeutsamen Arbeitsaufgaben und -prozessen sowie den betrieblichen Geschäftsprozessen die Umsetzung eines integrierten Berufsbildungsplanes ermöglicht. Soll dieses Potenzial genutzt werden, müssen die Berufsschulen verantwortlich an der Berufsausbildung beteiligt werden und als Innovationsträger agieren. Dies wird nur möglich sein, wenn die berufliche Bildung dezentralisiert wird und das pädagogische Personal weiter entwickelt wird.
In Kapitel 5 werden vielfältige Felder und Formen der Berufsbildungsforschung auf nationaler und internationaler Ebene bis hin zu neueren Ansätzen erörtert. In Kapitel 6 untersucht der Autor dann die Methoden der Berufsbildungsforschung.
In seinem abschließenden Ausblick verweist Rauner nochmals mit einem „Optimismus mittlerer Reichweite“ auf den wesentlichen Aspekt der Mitgestaltung der Arbeitswelt, der immer mehr an Bedeutung gewinnt. Dies bedeutet eine radikale Abkehr von tayloristisch basierten Ansätzen. Die Berufsbildungsforschung benötigt deshalb eine kreative Auseinandersetzung mit der Digitalisierung in Verbindung mit bewährten Elementen der Berufsausbildung, aber auch den Möglichkeiten innovativer Lerntechnologien. Das Konzept der multiplen Kompetenz bildet eine Übersetzung der Meisterschaft in die Sprache der Kompetenzdiagnostik und -entwicklung und liefert die theoretische Begründung für einen durchgängigen dualen Bildungsweg für Fach- und Führungskräfte neben der etablierten akademisch-wissenschaftlichen Bildung.
Die Entwicklung und Modernisierung der Berufsbilder ist eine der großen Herausforderungen an die Berufsbildungsforschung, die Berufsbildungsplanung und damit auch an Institutionen und die Politik. Es zeichnet sich ab, dass neben der Tendenz zur Spezialisierung sich anwendungsoffene und breitbandig formulierte Berufsbilder in Form von „Kernberufen“ herausbilden, bei den das Prinzip der „Spezialisierung“ durch die „Explementarität“ ersetzt wird. Kernberufe können jedoch nur dann bedarfsgerecht umgesetzt werden, wenn die Verantwortung für die Gestaltung der Berufsbildung auf die Akteure vor Ort übertragen wird, die eng miteinander kooperieren. Auf Ebene der Ministerien sollten nur noch strategische Steuerungs- und Gestaltungsaufgaben angesiedelt sein, idealerweise auf Bundesebene. Dann könnte die duale Berufsausbildung auch weiterhin die hohe Wettbewerbsfähigkeit und das ausgeprägte Innovationspotenzial in unserer Wirtschaft sichern.
Fazit
Felix Rauner fasst in seinem Werk mit fast 1.200 Seiten in beeindruckender Form die wesentlichen Aspekte der Praxis und Forschung zur Berufsbildung im deutschsprachigen Raum in einen klar nachvollziehbaren Zusammenhang. Dabei greift er aktuelle Entwicklung, wie z.B. Industrie 4.0 oder Digitalisierung und künstliche Intelligenz, auf und bindet sie in seine Darstellung mit ein. Er bezieht in seinen jeweiligen Fazits klar Stellung und scheut sich nicht, auch kritische Aussagen zu formulieren.
So weit wie zum Verständnis der aktuellen Herausforderungen nötig greift Rauner auch die bildungspolitischen Diskussion der vergangenen drei bis vier Jahrzehnte auf und ordnet sie in den politischen und wissenschaftlichen Kontext ein. Er plädiert für Modellversuchsprogramme und entwickelt thematische und organisatorische Vorschläge. Weiterhin fordert er die Entwicklung eines durchgängigen dualen Bildungswegs zur Qualifizierung von Fach- und Führungskräften, auch wenn gegen Schluss seines Werkes sein anfänglicher Optimismus in Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit unserer Institutionen und der Politik deutlich gemildert wirkt.
Insbesondere die Frage, wie das Konzept der Mitgestaltung der Arbeitswelt und des Ansatzes der „Kernberufe“ in einer digitalisierten Welt konkret umgesetzt werden kann, erfordert noch weitere Antworten. Felix Rauner bietet mit seinem Grundlagenwerk für Leser, die sich grundlegend in die aktuelle Diskussion der Berufsbildung einarbeiten wollen, eine hervorragende Basis.
Rezension von
Prof. Dr. Werner Sauter
Blended Solutions GmbH
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