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Peter Schüll: Motive Ehrenamtliche[...] in ausgewählten Ehrenamtsbereichen

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Vilain, 22.11.2005

Cover Peter Schüll: Motive Ehrenamtliche[...] in ausgewählten Ehrenamtsbereichen ISBN 978-3-86573-022-0

Peter Schüll: Motive Ehrenamtlicher. Eine soziologische Studie zum freiwilligen Engagement in ausgewählten Ehrenamtsbereichen. wvb Wissenschaftlicher Verlag Berlin (Berlin) 2004. 357 Seiten. ISBN 978-3-86573-022-0. 40,00 EUR.

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Kurzübersicht

Spätestens seit der Einsetzung der Enquette-Kommission zur "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements" im Jahr 1999 und deren Bericht im Jahr 2002 hat der Begriff des "bürgerschaftlichen Engagements" die gesellschaftspolitische Bühne endgültig erobert. Er positioniert sich innerhalb der Terminologien um das unbezahlte, freiwillige Engagement insbesondere gegen den klassischen Begriff des "Ehrenamts". Damit ist eine Etappe in einem Prozess markiert, in dessen Verlauf sich der Diskurs zum "Ehrenamt" entscheidend verändert hat. Charakteristisch für die neue Qualität der Diskussion ist die Kopplung des Konzepts der freiwilligen, unentgeltlichen Arbeit an das der Zivil- und Bürgergesellschaft. Das Engagement für das Gemeinwohl entspringt demnach dem Selbstverständnis des Bürgers und dessen Willen zu politischer und gesellschaftlicher Teilhabe und Mitgestaltung. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Begriffen - so scheint es - liegt damit in der Motivation der Akteure.

Mit seiner Untersuchung will Peter Schüll Erkenntnisse darüber gewinnen, inwiefern sich die zivilgesellschaftliche Wende des deutschen Ehrenamtsdiskurses in der empirischen Wirklichkeit wieder findet. Trifft dieser Begriff also die Realitäten in den zahllosen Vereinen, Verbänden, Initiativen und informellen Gruppen? Seine Leitfrage formuliert Schüll dabei in Anlehnung an Klages (2000) wie folgt: Sind die Deutschen nicht nur ein "Volk von Ehrenämtlern", sondern auch ein "Volk von bürgerschaftlich Engagierten"? (S. 23).

Im Zentrum der vorliegenden Veröffentlichung - zugleich eine Dissertation an der Universität Bayreuth - steht demnach die Analyse der Motive und Intensitäten ehrenamtlichen Engagements in Abhängigkeit von akteurs- und tätigkeitsspezifischen Faktoren. Anhand einer schriftlichen Befragung in drei unterschiedlichen Engagementbereichen wurden Motive mit Hilfe einer umfassenden Itemskala erfasst und auf einige zentrale Motivfaktoren reduziert. Schließlich wurden die Befunde auf ihren politischen und gesellschaftlichen Impetus hin analysiert.

Aufbau

Die Arbeit lässt sich grob in zwei Teile gliedern.

  1. Im ersten Teil werden verschiedene Diskurse zum Ehrenamt aufgenommen und kritisch reflektiert. Zunächst wird das Engagement des Einzelnen im Rahmen der gesellschaftlichen Individualisierungsdebatte verortet (Kapitel 1). Im Anschluss werden zentrale Begriffe wie "Ehrenamt", "Freiwilligenarbeit" oder "bürgerschaftliches Engagement" definiert und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt (Kapitel 2). Schließlich werden verschiedene gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Diskursstränge nachgezeichnet (Kapitel 3).
  2. Der zweite Teil widmet sich dem Aufbau und der Auswertung der Erhebung. Befragt wurden drei Nonprofit-Organisationen aus dem bayerischen Raum: die Bayreuther Kreisgruppe des Bundes Naturschutz Bayern, das Frauenhaus Bayreuth und die Motorradstreife der BRK-Bereitschaften. Dabei werden zunächst der theoretischen Analyserahmen (Kapitel 4), das Erhebungsdesign (Kapitel 5) und die Skalenbildung (Kapitel 6) erläutert. Kapitel 7 und 8 widmen sich der Analyse der Bedingungsfaktoren. Zum einen für die Tätigkeitsmotive, zum anderen für den Umfang des Engagements. Das letzte Kapitel dient der zusammenfassenden Auswertung der Ergebnisse (Kapitel 9).

Inhalt

Ausgangspunkt der Analyse ist bei Schüll eine umfangreiche theoretische Begriffs- und Positionsbestimmung. Unter Rekurs auf Evers skizziert er unter anderem die Debatten zum "Neuen Ehrenamt" sowie den aktuellen sozialpolitischen Diskurs. Darüber hinaus wird einerseits ein liberal-individualistisches sowie andererseits ein kommunitaristisch-republikanisches Verständnis von Bürgerengagement sowie deren jeweilige Implikationen erörtert.

Schon bei der Analyse der konkurrierenden Begrifflichkeiten stellt Schüll fest, dass sich trotz der erheblich zunehmenden Binnendifferenzierung kaum terminologische Innovationen ausmachen lassen. Er entscheidet sich daher, nicht zuletzt aufgrund der weiten Verbreitung selbst für die Verwendung des klassischen Begriffs "Ehrenamt", von dem allerdings in seiner Lesart nur dann gesprochen werden kann,

  • "...wenn jemand freiwillig, jenseits familiärer, verwandschaftlicher, freundschaftlicher, nachbarschaftlicher oder
  • lokalgemeinschaftlicher Solidarverpflichtungen, einen Teil seiner (Frei-)Zeit über einen gewissen Zeitraum hinweg
  • für eine fremdwohlerzeugende Tätigkeit zur Verfügung stellt, die im Rahmen einer zumindest lose organisierten
  • Aggregationsform ausgeübt wird und bei der hinsichtlich möglicher Rückerstattungen weder die eigentliche
  • Arbeitsleistung entlohnt wird noch strenge Reziprozität unter Gleichbetroffenen vorliegen darf."

Dieser etwas umständlichen und nur bedingt praxistauglichen Definition stellt er den Begriff des "bürgerschaftlichen Engagements" als einer vergleichbaren Tätigkeit jedoch mit betont politischem und gesellschaftlichem Impetus gegenüber. Damit ist der Gegensatz zwischen den Begriffen "Ehrenamt" und "bürgerschaftliches Engagements" und der zu Ihrer Abgrenzung notwendigen unterschiedlichen Motivlagen hergestellt.

Auf dem Weg zur Klärung der oben skizzierten Leitfrage stellt Schüll drei Ausgangshypothesen (S. 23-29) zur Diskussion:

  1. Es herrscht eine intrapersonale Pluralität von Beweggründen, bei der sich altruistische und egoistische Verhaltensweisen nicht gegenseitig ausschließen.
  2. In einer zweiten These greift der Autor auf die für ökonomische Zusammenhänge übliche Zweiebenenbetrachtung zurück. Er spricht sich gegen die Dominanz der als handlungsleitend angesehenen altruistischen "Norm der Wohltätigkeit" zu Gunsten einer "Norm der Reziprozität" im Sinne von Rauschenbach/ Müller/ Otto aus. Egoistische Motivanteile stehen demnach einem Engagement, das Fremdnutzen erzeugt nicht entgegen.
  3. Als Konsequenz der ersten beiden Thesen folgert Schüll in seiner dritten These, dass der Umfang ehrenamtlichen Engagements nicht als Indikator für gesamtgesellschaftliche Solidarpotenziale gesehen werden kann.

Der Autor positioniert sich damit als Mittler zwischen zwei extremen Positionen in einer traditionsreichen Debatte. Im Rahmen von rational choice Ansätzen wird der Konflikt zwischen dem eigen- und fremdbezogenen Handeln im Rahmen einer Zweiebenenbetrachtung gelöst. Egoistische Handlungsweisen des Individuums führen dabei durchaus (unbeabsichtigt) zu Allgemeinwohl steigernden Ergebnissen. Zugleich reiht er sich selbst in die individualisierungstheoretische Tradition in der Lesart nach Ulrich Beck, Peter Groß, Ronald Hitzler u. a. ein.

Gerade mit diesem Fokus hätte ein Blick über den (transatlantischen) Tellerrand die Arbeit bereichern können. Insbesondere im englischsprachigen Raum liegt eine Vielzahl von kleineren und umfangreicheren empirischen Studien zur Motivlage Ehrenamtlicher vor. Einige von ihnen bewegen sich ausdrücklich im Modell des rationalen Akteurs (vgl. beispielsweise die an der Kollektivgütertheorie orientierten Ansätze von Freeman (1997) oder Wolff/ Weisbrod/ Bird (1993) u. a. oder die auf den Austausch privater Güter abzielenden Überlegungen von Menchik/ Weisbrod (1987) oder Goldsmith/ Veum/ Darity (1997) u. a.). Den Gedanken der Reziprozität findet man hier ebenso wie den der intrapersonellen Vereinbarkeit selbst- und fremdbezüglicher Motivbündel.

Die Daten der Studie wurden im Rahmen einer postalischen Erhebung im Sommer des Jahres 2000 ermittelt. Befragt wurden 150 ehrenamtliche Mitarbeiter der Kreisgruppe Bayreuth des Bundes Naturschutz, der Motorradstaffel des Bayerischen Roten Kreuzes und des von der Caritas getragenen Frauenhauses Bayreuth. Bei 90 gültigen Antworten entspricht dies einem Rücklauf von insgesamt 60 %. Der mehrseitige Fragebogen umfasst vor allem tätigkeits- sowie personenorientierte Kriterien. Grundlage ist eine eigens zu diesem Zweck entwickelte Motivitemskala. Repräsentative Ergebnisse sind mit Blick auf die zwar theoriegestützte, aber dennoch letztendlich eher willkürliche Auswahl der Organisationen und den geringen Stichprobenumfang nicht zu erwarten. So ist zu vermuten, dass die Bedeutung gesellschaftspolitischer Motive in den Engagementbereichen beträchtlich von diesen Erkenntnissen abweichen können. Bei einer anderen Zusammenstellung der Bezugsgruppen wäre mithin ein konträres Bild denkbar.

Die Abfrage von Motivlagen in Abhängigkeit von unabhängigen Variablen aus dem Bereich akteurs- und tätigkeitsbezogener Faktoren beschränkt bei dem vergleichsweise geringen Stichprobenumfang - der sich obendrein auf drei Organisationen aufteilt - die Diversität der Ausprägung der unabhängigen Variable von vornherein. Eine sinnvolle Auswertung der Daten mit multivariaten Analyseverfahren wird dadurch erschwert. Vor diesem Hintergrund geht der Erhebung schließlich bei der Beantwortung der Leitfrage ein wenig "die Luft aus". Zur Unterstützung zieht Schüll schließlich die einschlägig bekannten Erhebungen der vergangenen Jahre, insbesondere das Freiwilligen- und Wertesurvey, zu Rate (S. 309).

Im Ergebnis findet er alle drei eingangs geäußerten Thesen bestätigt. Engagementrelevant ist in der Regel mehr als ein einzelnen Motiv. Es lassen sich fremd- und selbstbezogene Motivbündel ausmachen, die nicht isoliert voneinander zu betrachten sind und durch ihre Kombination Ausmaß sowie zeitlichen Umfang des Engagements determinieren. Genauer gesagt: "Ein kontinuierliches, zeitlich aber nicht intensives ("kleines") Ehrenamt wird häufig unter Aufbietung altruistischer Motive selbst in unattraktiven Tätigkeitsfeldern ausgeübt; eine zeitlich intensive Freiwilligenarbeit bedarf hingegen in der Regel der zusätzlichen Unterstützung durch selbstbezügliche Motive sowie durch ein Rückerstattung bietendes Tätigkeitsfeld." (S. 304)

Ein überwiegend politisch und staatsbürgerlich getragenes Engagement kann er in seiner Untersuchung nicht ausmachen, so dass er zum Ergebnis kommt: "Der Verdacht liegt nahe, daß über die Köpfe der Freiwilligen hinweg bestimmte intellektuelle und/oder politische Kreise den Ehrenamtsdiskurs in einer spezifischen Weise terminologisch besetzen, um ihre wie auch immer gearteten Interessen durchsetzen zu können." (S. 23) Anders formuliert lässt sich sagen, dass dem bundesdeutschen Ehrenamtsdiskurs bei einer hohen normativ-politischen Aufladung die empirische Basis fehlt.

Fazit

Mit diesem Buch legt Schüll eine wissenschaftliche Arbeit vor, die einen kleinen, wenngleich etwas zufällig wirkenden Einblick in die Motivlagen freiwillig Engagierter in der Bundesrepublik ermöglicht. Er liefert damit einen weiteren Mosaikstein in dem bunten Feld der Ehrenamtsforschung und interessante Einblicke in die Motivsituation dreier spezifischer Engagementfelder.

Das Bild des "Ehrenamtlichen" als rein altruistischer und am Wohlergehen Dritter orientierten Akteurs wurde jedoch schon vor dieser Arbeit entzaubert; die These der intrapersonalen Vereinbarkeit selbst- und fremdbezüglicher Motive als eine mögliche und logische Konsequenz daraus schon vorher aufgestellt und belegt. So gesehen liefert Schüll mit seiner Arbeit immerhin ein weiteres Indiz für das Vorliegen komplexer Motivbündel in Verbindung mit unspezifischen Austauschhandlungen.

Ein weiterer Verdienst der Arbeit ist es, noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass große Teile des Engagements in der Bundesrepublik im Rahmen persönlich erlebter Umwelten stattfindet (beispielsweise Sport, Kultur, Musik, Freizeit, Schule, Kindergarten, Glaubengemeinschaft, Gemeindearbeit etc.): "Die Tätigkeiten dort [in den oben aufgezählten Bereichen] haben ... nur eine beschränkte Reichweite', und damit nur eine beschränkte politische Dimension. Diese tritt ... wenn überhaupt, nur bei den latenten, nicht direkt intendierten Nebenfolgen des Handelns in den Blick, kaum jedoch als bewusstes Motiv oder direkt anvisiertes Ziel." (S. 315). Motiv und gesellschaftspolitische Wirkung sind nach dieser Erkenntnis also deutlich voneinander zu trennen. Ohne die Einheit der beiden Begriffe wird der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements in der Lesart des bewusst für das Gemeinwesen handelnden Individuums jedoch mindestens fraglich. Trotz der geringen Reichweite seiner Erhebung gelingt es Schüll damit, der aktuellen Debatte um das bürgerschaftliche Engagement ein deutliches Fragezeichen anzuhängen.

Rezension von
Prof. Dr. Michael Vilain
Evangelische Hochschule Darmstadt
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Es gibt 9 Rezensionen von Michael Vilain.

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ISSN 2190-9245