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Gudrun Perko: Philosophie in der Sozialen Arbeit

Rezensiert von Elke Ziegler, 07.02.2018

Cover Gudrun Perko: Philosophie in der Sozialen Arbeit ISBN 978-3-7799-3665-7

Gudrun Perko: Philosophie in der Sozialen Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 190 Seiten. ISBN 978-3-7799-3665-7. D: 26,95 EUR, A: 27,70 EUR, CH: 37,10 sFr.

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Thema und Entstehungshintergrund

Die Aufsatzsammlung zielt darauf, einen Diskurs über ein (wie behauptet wird) bisher nicht aufgegriffenes Thema, das Verhältnis von Philosophie und Sozialer Arbeit „als Praxis mit zahlreichen Handlungsfeldern und als Wissenschaft, die selbst Theorien generierend ist“ (S. 8) in Gang zu setzen. „Mit dem Denken ausgewählter Philosoph_innen“ ist „auf spezifische Fragen der Sozialen Arbeit zu schauen“ und – „selbst philosophierend“ sind „philosophisch fundierte Konzepte der Sozialen Arbeit stark zu machen oder gar neue zu etablieren“ (S. 8). Gemeinsam ist allen Denkenden die Kunst, komplexe philosophische Inhalte in Bereiche der Soziale Arbeit zu transferieren. Sie fordern die Soziale Arbeit zur Philosophie, zum fragenden, staunenden, zweifelnden Nachdenken heraus. Die Schrift richtet sich an SozialarbeiterInnen, die sich manchmal den „harten Realitäten“ gegenübersehen, an Lehrende und Forschende bei der nicht einfachen Umsetzung von Bologna, an Studierende, die oft in zeitliche Bedrängnis geraten, sowie an PhilosophInnen, die Anregungen finden, wie Philosophie in Praxisbereichen wirksam wird.

Herausgeberin

Die Professorin für Sozial- und Bildungswissenschaften Gudrun Perko ist Sozialarbeiterin, Philosophin sowie Mitbegründerin des Instituts und Bildungskonzeptes „Social Justice und diskriminierungskritisches Diversity“.

Aufbau und Inhalt

André Schmiljun ist promovierter Geschichtswissenschaftler und Philosoph, der sich mit dem Deutschen Idealismus, der Philosophie des Geistes sowie der Sprachphilosophie beschäftigt. In Emanzipation, Individualität und Macht in der „Flüchtigen Moderne“: Warum wir eine Philosophie der Sozialen Arbeit brauchen? bezieht er sich auf Zygmunt Bauman in „Flüchtige Moderne“ (2003). An der Wende ins 21. Jahrhundert wird, so Bauman, alles, auch soziale Institutionen und Gemeinschaften als permanent im Wandel und in Auflösung begriffen. In individueller Freiheit und Verantwortung entwirft sich jeder sein soziales Netzwerk nach eigenen Werten. Chancen differenzieren sich aus, was zu einer Emanzipation als Erweiterung des Bewegungsraums führt. Tradierte Gewissheiten und Werte werden relativ, Autoritätspersonen sind passé, jede Person besitzt ihre Autorität. Menschen, so Bauman mit Bezug zu Sartre, würden nicht in ihre Identität hineingeboren. Durch ihre Abkehr von der Gemeinschaft besteht die Gesellschaft nicht mehr aus BürgerInnen, sondern aus Individuen, die sich dem Öffentlichen verschliessen und das Private zusehends öffentlich machten. Die Individualität des Menschen sei vom Spannungsverhältnis zwischen dem Sozialismus am einen Ende und dem Kapitalismus am anderen Ende beeinflusst. Menschen sind zwischen den verschiedenen Lebensstilen und Anreizen hin und hergerissen und stark konsumgesteuert. Individualität im Sinne von Einzigartigkeit und Verschiedenheit scheint aufgelöst. Was die menschliche Fähigkeit der Macht betrifft, so beruft sich Bauman auf Hannah Arendt, die sie als menschliche Fähigkeit, nicht nur zu handeln, begreift, sondern sich mit anderen zusammenzuschliessen und einvernehmlich zu handeln (Arendt 1970, S. 45). Macht kann also immer nur einer Gruppe (z.B. Parlament) gehören. Ferner rekurriert er auf Michel Foucaults Machtvorstellung im Bild des Panopticons. Macht liegt hier in der netzförmigen Anordnung von Körpern, Flächen und Räumen (Foucauld 1994). Angesichts weltweiter Vernetzung seien laut Bauman jedoch auch keine räumlich-fixierten Anstalten mehr nötig. Macht ist exterritorial und das Kräfteverhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem hat sich gedreht: Die Massen beobachten und disziplinieren heute den einzelnen. Macht ist zudem nicht mehr an politische Funktionsträger gebunden, denn zunehmend gestalten Gruppen ausserhalb des politischen Raums, sog. Antipolitiker, den demokratischen Diskurs und das Machtvakuum. In Baumans Gedankengängen sieht Schmiljun vieles unvollständig und inkonsistent. Allerdings wertet er die dadurch gestellten Fragen als von philosophischer Natur: Was zeichnet das Individuum aus? Wie funktioniert Emanzipation? Wo begegnet mir im Alltag überall Macht? Schmiljun plädiert explizit für die Ausarbeitung einer bisher in Profession und Wissenschaft nicht existierenden „Philosophie der Sozialen Arbeit“, die „grundlegende Begrifflichkeiten klären, wichtige Fragestellungen in den Bereichen Ethik, Moralphilosophie, Anthropologie nach dem guten Leben, richtigen Handeln und einer gerechten Gesellschaft formulieren und ein Bewusstsein für die komplexe Debattenkultur schärfen“ (S. 26) solle.

Heiko Kleve ist Sozialarbeiter/-pädagoge, Soziologe und Professor für soziologische und sozialpsychologische Grundlagen Sozialer Arbeit. In Ironische Gelassenheit: Postmodernes Wissen für die Soziale Arbeit stellt er den sozialphilosophischen Ansatz Jacques Lyotards in „Das Postmoderne Wissen“ (1979) vor. Lyotard zufolge zerfallen in der Postmoderne gesellschaftliche und kulturelle Einheitstendenzen in unüberwindbar verschiedene Diskurse. Im Übergang zum postmodernen Wissen hätten drei grosse Meta-Erzählungen ihre Glaubwürdigkeit verloren: Zum einen die Dialektik des Geistes, dessen Höherentwicklung im Laufe der Geschichte nach G. W. F. Hegel der Geschichte und damit den Wissenschaften ein Ziel vorgab. These und Antithese ohne Synthese führen zu Ambivalenzen. Ferner betrachtet Lyotard die Hermeneutik des Sinns von Texten und Worten als postmodern unzureichend. Denn neben den aus Texten sprechenden Botschaften geht es hier um das Hermetische, dicht Abgeschlossene, was postmodern zu verneinen ist. Deutungsversuche jenseits von Macht sind nach Jacques Derrida als Form der „différance“ (1988) zu denken: Sinnverstehen ist unabschliessbar und als abhängig von Differenzen hinsichtlich Kontexten, Personen, Zeiten, Erkenntnisinteressen erst im Nachhinein infrage zu stellen. Dies gilt ebenso für das Verstehen in Beratungssituationen Sozialer Arbeit. Lyotard zufolge verliert auch die Idee der Emanzipation des Subjekts postmodern ihre Bedeutung, zum einen in Marx´ These der Befreiung des arbeitenden Subjekts aus der Unterdrückung durch nicht arbeitende Besitzende, zum anderen in Immanuel Kants Idee der (transzendentalen) Vernunft als oberste Instanz der Erkenntnis und des Zusammenlebens von Menschen (1781/87 Kritik der reinen Vernunft). Gemäss Kant sind Dinge nur so zu erkennen, wie sie für uns sind, nicht wie sie an sich sind. Zugleich verneint er diese Relativität allerdings wieder, indem er in allen Subjekten die gleichen transzendentalen Prinzipien, die Vernunft, wirken sieht. Vernunft solle nach Kant auch das menschliche Zusammenleben als praktisches Gesetz ordnen (Kategorischer Imperativ). Jürgen Habermas spricht demgegenüber vom rationalen, am Prinzip der kommunikativen Vernunft orientierten Konsens, der sich ergäbe, wenn Diskursteilnehmende nach vernünftigen Regeln im herrschaftsfreien Raum kommunizieren. Lyotard hält nicht Verständigung sondern Dissens als die alltägliche Erfahrung, was Kleve zufolge in der Sozialen Arbeit gegeben sieht. Angesichts der Unabschliessbarkeit von Verstehen und Erkennen plädiert er für eine ironische Gelassenheit im Umgang mit dem Beschränkten. Lyotard sieht zwei postmoderne Legitimationen von Wissen und Wissenschaft: Zunächst Performativität, d.h. Leistungsfähigkeit und Machtvergrösserung der Wissenschaft, was impliziert, dass nicht mehr Wahrheitsfindung ihr politisches und wirtschaftliches Ziel ist. Nach Kleve sind technologische Konzepte wie Wirksamkeit und Evidenzbasierung in der Sozialen Arbeit ein Beleg hierfür. Da der Input den Output legitimiert, betrachtet Lyotard diese Legitimation als ebenfalls in die Krise geraten, denn autopoietische Systeme sind von aussen nur bedingt steuerbar. Deshalb legitimiere nur die Parologie, ein im modernen Sinn nicht vernünftige und logisch angeordnete wissenschaftliche Wissen die Wissenschaft, die permanent Neues, Unvorhergesehenes produziert. Wissenschaft schafft differente bis antagonistische Wahrheiten, die in sich selbst schlüssig, jedoch zueinander widersprüchlich sind. Diese Janusköpfigkeit, die letztlich zur Anerkennung von Pluralität und Differenz führt, zeigte sich laut Kleve sozio-historisch in der Wende zum 20. Jahrhundert, als auch Soziale Arbeit eine wissenschaftlich begründete Profession wurde. Soziale Arbeit selbst ist geprägt von Strukturambivalenzen, wie die von Berufsarbeit versus Nächstenliebe, Hilfe versus Nicht-Hilfe, Ethik versus Pragmatik, die es Sozialarbeitenden oft erschweren, eine moderne Identität zu finden. Wissenschaft Sozialer Arbeit ist folglich „nur postmodern zu haben“ (S. 44). Sie beschreibt, erklärt, bewertet hochkomplexe Prozesse, schafft Instabilitäten und Unsicherheiten. Sozialarbeitende zeichnen sich durch Ambivalenztoleranz, Kontingenz- und Komplexitätsbewusstsein aus. Wissenschaftliche Soziale Arbeit kann für sich keinen reinen Gegenstandsbereich ausmachen, sie muss sich angesichts komplexer Problemstellungen der Pluralität wissenschaftlicher Deutungen öffnen und je nach Kontext ihre Bezugswissenschaften einbeziehen. Die postmoderne Vernunftsform der Transversalität (Welsch 1996) kann ihr Orientierung geben. Moderne Sozialarbeitende denken, so Kleve, transdisziplinär.

In Social Justice im Zeichen von Diversität, Pluralität und Perspektivenvielfalt. Philosophische Grundlagen für eine diskriminierungskritische Soziale Arbeit skizziert Gudrun Perko die Schritte ihrer philosophischen Grundlegung. Verschiedenheit und Pluralität im internationalen „Code of Ethics of Social Work“ (IFSW, IASSW 2004), ebenso Social Justice, die in den USA propagierte Gerechtigkeitsphilosophie und dann in Deutschland als Sozialphilosophie im Anschluss an Adorno (1972), wird u.a. in der hiesigen Bildungsarbeit als Beseitigung von Diskriminierung zugunsten von Verteilungs- und Anerkennungsgerechtigkeit aufgegriffen. Perko beruft sich auf Iris Marion Young (2007), die im Kontext von Herrschaftsanalyse fünf wechselseitig verknüpfte Formen von Diskriminierung, i.e Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperialismus und Gewalt, unterscheidet. Diskriminierung nach Young ist strukturell, sie geschieht durch alltägliche Praktiken einer liberalen Gesellschaft. Demgegenüber setzt sich Social Justice für befriedigende institutionelle Möglichkeiten für alle ein, um Fähigkeiten einzusetzen und Entscheidungen zu treffen. Wie Martha Nussbaum in ihrem „capability approach“ oder Befähigungs- oder Chancenverwirklichungsansatz (1999/2004) lehnt Young Verantwortungsindividualismus ab: Strukturelle Diskriminierung hängt mit unhinterfragten Normen, Gewohnheiten, Symbolen zusammen. Strukturell Diskriminierte sind nie nur Benachteiligte. Perko verbindet Youngs Theorie mit ihrer gemeinsam mit Leah Carola Czollek und Heike Weinbach konzipierten diskriminierungskritischen Diversity (2012): Strukturelle Diskriminierung kann als bewusste und unbewusste Aktion stattfinden, weshalb Sozialarbeitende (Selbst-)Reflexion einsetzen. Wie der Black Feminism Kimberle Crenshaws (1998) „intersektionell“ oder mehrperspektivisch zu denken, bedeutet, verschiedene Differenzkategorien wie Gender, Class, Race, Body in ihrer Wechselwirkung wahrzunehmen, zu analysieren und so diversitätsgerecht sozialarbeiterisch zu handeln. Auch bei Hannah Arendt würde das Politische ohne die Vielheit von Menschen und Welten ausgelöscht (1967). Subjekte stehen im dialektischen Verhältnis von Gleichheit und absoluter Verschiedenheit. Auch ein handelndes Kollektiv tritt nicht als Einheit auf. Zwischen der Anerkennung der Pluralität von Menschen und der Anerkennung aller ihrer Haltungen und Handlungen ist zu unterscheiden. Im Sinne von Bedeutung in einer Gesellschaft gilt das ontologische Prinzip der Natalität: Durch sein Geborensein kann ein Mensch initiativ werden und etwas bewegen. Vom altgriechischen polis abgeleitet bedeutet Politik intentionales Tätigsein und die Gesellschaft zu gestalten, sei dies parteipolitisch oder agoral wie in Demonstrationen, Social Media und Institutionen. Arendts dialogisches Prinzip fokussiert Pluralität. Indem man selbst verschiedene Standpunkte, Sichtweisen und Vorstellungen einnimmt, wird ein eigenes Urteil nicht mehr nur ein subjektives Urteil. So können ungeprüfte Meinungen, Vorurteile, Standpunkte, Stereotype aufgebrochen und die Urteilskraft als die politischste aller menschlichen Fähigkeiten freigesetzt werden (1985). Das Dialogische setzt eine Verunsicherung angesichts vorgefasster Meinungen, ein Wissen um unser Nicht-Wissen voraus. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, dass das Sich-Hineinversetzen in den Gesichtspunkt eines anderen Menschen nicht zu einer (synthetischen) Wahrheit führt, sondern dazu, die Vielfalt von Perspektiven ernst zu nehmen. Arendt spricht von Freundschaft zur Welt und von Interesse an dem Anderen, „dass man bereit ist, die Welt mit Menschen zu teilen“ (1949). Perko entwickelte die Idee des Verbündet-Seins, eine Solidarität und ins Politische übertragene Freundschaft mit (2014/2016). Soziale Arbeit findet mit ihrer Hilfe einen Zugang zu ihren AdressatInnen. Mehrdimensional wird auf mögliche Gleichzeitigkeit von Privilegiertsein in bestimmten Kontexten und Diskriminiertsein in anderen Kontexten ausgegangen. Diese Anschauung fordert heraus, Privilegien zu reflektieren und seine Rechte für Gerechtigkeit einzusetzen. Solidarität zu fördern heisst, Social Justice zu fördern. Diese philosophischen Grundlagen ermöglichen eine Reflexion der im Ethischen Codex verankerten Aufforderungen, ferner eine genauere Betrachtung von Begriffsbedeutungen und Reflexionen darüber, wie sich Soziale Arbeit in Praxis, Forschung und Lehre diskriminierungskritisch verstehen kann.

Der Philosoph und Wissenschaftliche Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung, Hakan Gürses,diskutiert in Die politische Relevanz der „unteren Fakultät“: Philosophie und politische Bildung als Soziale Arbeit den Stellenwert von Philosophie in ihrem Verhältnis zum Fach politische Bildung. Kant bezeichnet sie in „Der Streit der Fakultäten“ (1798) als „untere Fakultät“ im Gegensatz zu den drei „oberen Fakultäten“ Theologie, Jura und Medizin. Begrifflich vom Altgriechischen herrührend wurzelt die Vorstellung von Philosophie gemäss Gürses eher im abendländischen Mittelalter als „ancilla theologiae“ (Magd der Theologie). Antonio Gramsci zufolge habe der Staat nicht nur unter Zwang die Herrschaft zu behaupten habe, sondern auch durch Institutionen wie Bildung, Kirche, Kunst einen gesellschaftlichen Konsens in einer ideologisch geprägten Kombination von Regeln, Glaubenssätzen und Meinungen herzustellen. Philosophie ermöglicht einen solchen Konsens, und verhilft somit zur staatlichen Hegemonie. Als spontane Philosophie eines jeden besteht sie erstens in der Sprache selbst als Ensemble bestimmter Begriffe und Bezeichnungen, zweitens im Alltagsverstand (gesunder Menschenverstand) und drittens im System an Glaubensinhalten, Aberglauben, Meinungen (1991-2002, Gefängnishefte). Sie ist politisch und hegemonial, ob unbewusst, konservativ oder bewusst, transformativ. Immer ist das Ziel, Philosophie in eine Kultur als kohärente, einheitliche und nationale Auffassung vom Leben und vom Menschen umzuwandeln, die Ethik, Lebensweise und ziviles Verhalten hervorbringt. Gemäss Louis Althusser werden in der Philosophie politische Konflikte theoretisch ausgetragen und Philosophie ermöglicht die wissenschaftliche Austragung politischer Konflikte (1974, Lenin und die Philosophie). Politische Bildung ist Gürses zufolge eine in erster Linie deutschsprachige Disziplin. Nach 1945 von den Alliierten als Massnahme der „Umerziehung“ eingeführt etablierte sie sich im Gegensatz zur parallel entstehenden nicht universitär verorteten politischen Erwachsenenbildung als Politikdidaktik für das Unterrichtsfach politische Bildung. Ihr ist keine eigenständige Wissenschaft mit eindeutig geklärten Bezugswissenschaften zugehörig. Zudem ist Philosophie nicht als Bezugswissenschaft genannt, im besten Fall als Fundierung. Gürses hinterfragt jedoch die Funktionen von Philosophie allgemein, nämlich Philosophie als „anleitende“ Theorie für die Praxis zu verstehen oder als normative Begründung für ein Fach, für Lehrsätze, für Didaktik. Normatives besitzt meist einen Universalitätsanspruch, ist abgeschlossen und kritikresistent und somit den Ansätzen „kommender Demokratie“ (Derrida) und Natalität (Arendt) entgegengesetzt. Philosophie muss laut Gürses nicht die Rolle einer Magd spielen. Die Normativitätsdiskussion findet in der Philosophie statt, nicht mithilfe des Faches Philosophie. Philosophie kann als politisches Handeln in der Theorie die Perspektive einer nicht-normativ verfahrenden politiktheoretischen Perspektive zur Analyse des (konkreten) Politischen bereitstellen, ferner eine erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Perspektive zur Analyse des Dreiecks Subjekt-Macht-Wissen und drittens eine genealogisch-historische Perspektive zur Untersuchung von Diskursen und Praktiken im Wandel. Philosophie ist politisch und gesellschaftlich relevant, auch für politische Bildung.

Dem Pädagogen, Sozialarbeiter sowie Professor für Sozialpädagogik und Sozialarbeitswissenschaft Eric Mührel in Ethik und Politik des Glücks: Der Garten der Existenz und seine gesellschaftlichen Bedingungen als Perspektive Sozialer Arbeit zufolge richtet sich Soziale Arbeit auf den Sozialen Fortschritt der Gesellschaft und ist eine Gerechtigkeits- und Menschenrechtsprofession. Neuere Definitionen Sozialer Arbeit nehmen Bezug auf „liberation of people“ oder „enhance wellbeing“ (IFSW, IASSW 2014) und scheinen dabei menschliches Glück nicht auszuschliessen. Glück, bei den Römern als Lebenskunst begriffen, wird heutzutage dem Subjektiven zugesprochen, weniger gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Martha Nussbaums Capability Approach und ihre Konzeption des Guten Lebens beschäftigt sich mit Aristoteles Frage nach der Glückseligkeit auch des individuellen Lebens. Nussbaum sieht im Paradigma Human Development Elemente von Individual-/Sozialethik und Politischer Philosophie sowie Wirtschaftswissenschaften enthalten (2015, Fähigkeiten schaffen). Während in der deutschsprachigen Sozialen Arbeit darin vor allem Politische Philosophie rezipiert wurde, plädiert Mührel für eine Gleichberechtigung von Ethik und Politik innerhalb der Sozialen Arbeit im Dienste des Glücks, ein reflexives Zusammendenken von Freiheit und Gerechtigkeit. Nussbaums Ansatz erfährt durch Robert Misrahi eine Erweiterung: In „Die Freude zu leben“ (2013) spricht er vom „Garten der Existenz“, welcher eine sinnliche, lustvolle bis beschauliche Wahrnehmung des Lebens eröffnet. Zutritt in diesen Garten bedeutet Einlass in des Lebens Glück, Zuflucht aus bedrückenden Lebensumständen, eine Metapher für eine schöpferische Existenz. Existenz meint, dass etwas zum Vorschein kommt, hervortritt (exsistere) gegenüber der Anonymität des Seins (Lévinas 2005, Ausweg aus dem Sein), eine eigene Identität und das Bewusstsein davon. Im Garten der Existenz finden wir uns selbst und unser Selbst (Reflexion). Jeder Garten grenzt an andere Gärten und ist mit ihnen interdependent, indem durch Besuche nähere und fernere Freundschaften ermöglicht werden. Diese Umgebung, die Gesellschaft, garantiert den Gärten der Existenz auch die Rahmenbedingungen. Am Anfang der Gestaltung des Gartens der Existenz steht stets eine Kehre, der Entschluss, nach Glück und Freude zu streben. Dies geschieht zunächst in der Suche nach innerer Freiheit und der Bildung eigener Werte, dann im Begehren des/der Anderen, die Freude an Liebe und Freundschaft, gegenseitigem Austausch, Solidarität und Gemeinschaft, letztlich in der Gestaltung einer Gesellschaft, die die Gärten der Existenz umgibt. Misrahi fordert ebenso eine adäquate Kehre der Gesellschaft und Politik, die von der Inspiration der Lebensentwürfe leben. Gesellschaft und Politik stehen im Dienst konkreter Existenzen, folglich erschöpft sich (Sozial-)Politik nicht in Sozialer Gerechtigkeit. Schöpferische Lebensführung ist vorrangig über Bildung und Kultur zu gewährleisten. Kompetenzförderung als Befähigung im Sinne von Nützlichsein ist zweitrangig. Hier folgt Misrahi dem gemeinsamen Ideal vom Humanistischem Sozialismus und Offenem Liberalismus. Im „Sozialidealismus“ Natorps (1922) wird frühe Sozialpädagogik als ein gesellschaftstheoretischer und politischer Entwurf angesehen, der sozialpädagogisch umzusetzen ist. Dazu benötigt die Soziale Demokratie Mührel zufolgeeinen Sozialismus der Bildung (Gerechtigkeit) und einen Liberalismus der gestalterischen Existenz (Freiheit).

Frank Früchtel, Sozialarbeiter, Soziologe und Professor für Soziale Arbeit, fragt in Philosophie des Mitgefühls und die Relationale Form des Helfens welche Form der Sozialen Arbeit denkbar wäre, wenn Methoden nach dem Prinzip von Verbindung statt Individualität begründet würden. Er rekurriert auf Schopenhauers Philosophie des Mitgefühls in „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1844). Menschen und alle Lebewesen werden hier als Teil eines einzigen kosmischen Prinzips angesehen, einen allgemeinen Lebenswillen oder eine Lebens- und Weltenergie, von dem alles durchdrungen ist. In seiner Vernunft begrenzt kann der Mensch diesen jedoch nicht erkennen, lediglich viel Einzelnes, Unverbundenes davon. Er ist zum einen das endende, flüchtig vorübereilende, mit Fehlern und Schmerzen behaftete Individuum, zum andere das unzerstörbare Urwesen. Menschlicher Lebenswille manifestiert sich deutlich in Trieben nach Nahrung und Fortpflanzung, gemäss Schopenhauer ein finsteres Treiben, indem der Mensch auf Kosten anderer für sein Wohl sorgt, was Elend, Leid und Trauer, die „schlechteste aller möglichen Welten“ schafft. Um diese individualisierende Erkenntnisgrenze zu überwinden, braucht es jedoch gerade die Gegebenheit des schmerzlichen Gefühls: Leid ruft Mitleiden hervor. Wir tun es intuitiv und schaffen so Solidarität und Gemeinsamkeit, Sich-In-Den-Anderen-Einfühlen und Mitfühlen. Nicht Pflicht, Recht oder Gerechtigkeit, sondern die gespürte Verletzung sind Schopenhauer zufolge der eigentliche Motor moralischer Handlungen, was die Neurobiologie im Hinblick auf emotionale Spiegelungen bestätigt. Unser Gehirn reagiert gemäss der Theory of Mind (Leslie 2000) auf wahrgenommenes Leid unwillkürlich, spontan und präreflexiv. Diese empathische Ansteckung wird bisweilen als das Ursprüngliche angesehen, der Verstand als später erworbener Blockade-Mechanismus (Breithaupt 2012). So wird der Andere das andere Selbst. Gemäss George H. Mead (1934) ist der Mensch ein resonanzfähiges Wesen. Es interagiert, speichert diese Interaktionen mit anderen ab, kreiert daraus das eigene Selbst und kann sich so aus immer mehr Perspektiven des Anderen verstehen, angegangen bei den sozialen Wechselwirkungen in der Eltern-Kind-Beziehung über Freundschaften, Liebesverhältnisse bis hin zu eigenen Überzeugungen mittels gesellschaftlich errungener Menschenrechte. Kinder benötigen gemäss Bindungstheorie (Bowlby 1980) neben dem Bedürfnis nach Erkundung und Selbstbestimmung auch das Bedürfnis nach Zuwendung und Sicherheit. So sind auch für das Wohlbefinden Erwachsener erfüllende Verbindungen zu anderen wichtig. Jüngst spricht Hartmut Rosa (2016) von einer „resonanten Weltbeziehung“, die unsere Lebensqualität ausmacht, in Begegnung, Berührung, Verbundenheit und rhythmischem aufeinander Einschwingen. In der Sozialen Arbeit werden Methoden wie Gemeinschaftskonferenz und Familienrat eingesetzt, die Probleme vergemeinschaftlichen und sich Versammelnden im Teilen von Problemen und unerfüllten Bedürfnissen ein Gefühl von Wirksamkeit geben. Soziale Verbindung, nicht „Hilfe zur Selbsthilfe“ charakterisiert relationale Soziale Arbeit, in der Sozialarbeitende als Vermittelnde agieren.

Bettina Hünersdorf ist Professorin für Sozialpädagogik, promovierte im Bereich Phänomenologie und habilitierte im Bereich Systemtheorie. In Lebensweltorientierung revisited: Eine philosophisch-phänomenologische Perspektive spricht sie vom sozialpädagogischen Konzept Hans Thierschs, das die Erfahrungen von KlientInnen in den Blick nimmt und deren Deutungen, Verhältnisse und lebensweltlichen Anstrengungen als durch drei Strömungen fundiert, die hermeneutisch pragmatische Orientierung der Erziehungswissenschaft nach Hermann Nohl, die kritische Alltagswelttheorie Kosiks und Levebres sowie die (Sozial-)Phänomenologie, letztere allerdings nur auf Husserl, dessen transzendental-philosophischer Zugang zudem kritisiert wird (Thiersch, Grundwald et al., 2002, Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, S. 167). Die Phänomenologie Husserls ist zunächst der Versuch, „zu den Sachen selbst vorzudringen“, das Wesensmässige in den Blick zu nehmen. In diesem unmittelbaren Sehen, ist das Bewusstsein an die Anschauung gebunden. Bewusstsein ist intentional, d.h. stets ein Bewusstsein von etwas und zudem einer Vielheit von Gegebenheitsweisen, die im Horizont denkbar sind. Horizonthaftigkeit bedeutet in lebensweltorientierter Sozialpädagogik „im Gegebenen das Mögliche (noch nicht aktualisierte Wahrnehmungsweisen von etwas) (zu) erkennen“. Deskriptiv wird an der natürlichen Einstellung angesetzt, wie die Welt gewohnheitsmässig wahrgenommen wird, aber anders als bei Thiersch impliziert dies Veränderungen, die als Möglichkeit bereits enthalten sind. In der Anschauung werden die im Horizont liegenden Perspektiven bewusst, sodass in der Transzendenz das Ding an sich erscheint. Ohne Bewusstsein der Horizonthaftigkeit wird eine Sache allerdings objektivistisch wahrgenommen. Gerade diese transzendentale Orientierung kritisiert lebensweltorientierte Sozialarbeit. Die in sozialpädagogischen Arbeitsbündnissen wichtige intersubjektive Wahrnehmung erfordert einen Rekurs auf Merleau-Ponty (1986). Jedes Verstehen des Anderen schliesst ihm zufolge neben dem Erkennen immer auch eine Verkennung ein. Folglich muss aus lebensweltlicher Sicht jede Klassifikation von KlientInnen problematisiert bzw. differenziert werden, ohne die Hoffnung, jemanden wirklich zu verstehen. In Anerkennung als Erkennung des Anderen gibt es eine latent vorhandene Aufforderung, sich auf die intersubjektive und inner-subjektive Erfahrung einzulassen. Gemäss Emmanuel Lévinas in „Totalität und Unendliches“ (2002) geht es nicht darum, den Anderen als denjenigen, der sich meiner Erkenntnis entzieht, zu „ergreifen“, sondern ihm auf „seinen Ausdruck“ zu antworten. Nicht auf die Andersheit kann geantwortet werden, doch das Antworten an sich ist eine Pflicht, ein Verantworten, das ein soziales Band zwischen beiden schafft. Der Einbezug von Lévinas und Merleau-Ponty ermöglicht lebensweltorientierter Sozialer Arbeit Hünersdorf zufolge, sich als soziale Praxis analytisch zu verstehen. Entfremden sich AdressatInnen von ihrer Lebenswelt, indem sie sich nicht mehr schöpferisch zum Ausdruck bringen, kann sozialpädagogische Institutionalisierung sie verpflichten, darauf eine Antwort zu geben, ohne dass diese inhaltlich vorgegeben ist. Sie sind verpflichtet, sich mit der einhergehenden Differenz auseinanderzusetzen. In einer Arbeitsbeziehung treten wiederum SozialpädagogInnen ebenfalls in eine Auseinandersetzung mit den AdressatInnen. Die Phänomenologie gilt der Autorin als philosophischer Zugang zu Sozialer Arbeit als eine Methode, in der sich Soziale Arbeit selbst bestimmt und als differentielle Soziale Arbeit bestimmt werden kann.

Frauke Hildebrandt, Historikerin, Philosophin und Professorin für Bildung und Erziehung in der Kindheit, beschäftigt sich in Im Raum der Gründe: Philosophische Grundlagen für (sozial)pädagogische Perspektiven in der Arbeit zu Kindern mit der Sicht des Menschen als im Gegensatz zum Tier „im Raum der Gründe“ (Sellars 1956) beheimatet. Mit Michael Tomasello in „Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ (2014) wird eine evolutionär-anthropologische Perspektive auf diese menschliche Fähigkeit eingenommen: Um missverständliches Reden zu verhindern, begannen Menschen explizit über geistige Zustände zu sprechen, zunächst von eigenen epistemischen Zuständen über alle intentionalen Zustände, wie Wünschen, Beabsichtigen, Vermuten und Fühlen. Auch Schlussfolgerungen wurden explizit gemacht und dies erfordert Begründen. Menschen wollten wie in Jagdabsprachen überzeugen, so begründeten sie miteinander ihre Sichtweisen durch schlussfolgerndes Argumentieren. Wichtiger als individuell Recht zu haben, war es, das Richtige herauszufinden. Mit der Zeit liefen solche Diskussionen im Vorfeld in inneren Dialogen ab. Diese gemeinsame Suche nach den besten Gründen bezeichnet Tomasello als Vernünftigsein. Was phylogenetisch entstand, zeigt sich auch ontogenetisch: Kinder sind um ihren ersten Geburtstag herum plötzlich in der Lage, direkt mit einzelnen Personen kooperativ zu kommunizieren, Perspektiven zu übernehmen und Zeigegesten anzuwenden. Für die (sozial)pädagogische Arbeit mit Kindern sind Tomasellos Erkenntnisse von Bedeutung. Gopnik (2012) zufolge haben Kinder bereits ein eigenständiges Erkenntnisinteresse, suchen nach Gründen und begründen. Studien belegen, dass je intensiver die Interaktionen von Kindern mit Erwachsenen in Kindertagesstätten sind, desto grösser ihre kognitiven und sprachlichen Lernfortschritte ausfallen. Dies geschieht durch Anregung zum Weiterdenken, Gemeinsames Denken oder Geteilte Aufmerksamkeit (Sustained Shared Thinking). Philosophie als Disziplin zweiter Ordnung betrachtet als „Gegenstand nicht die Sachverhalte der Welt, mit denen sich die Einzelwissenschaften beschäftigen, sondern das ‚Denken über‘ die Sachverhalte der Welt.“ Es geht „um ein Erforschen der Methoden, mit deren Hilfe wir nach Fakten suchen, um die Gründe und Rechtfertigungen, aufgrund deren wir sie behaupten, und um die Erforschung der Begriffe, mit denen wir Fakten beschreiben“ (Rosenberg, 2006, Philosophieren).

Ruth Grossmass: Interdisziplinarität und philosophische Reflexion: Zur Bedeutung transversalen Denkens in der Sozialen Arbeit. Der Philosophin, Germanistin, Pädagogin und Expertin im Bereich Beratung, Professorin für Ethik und Sozialphilosophie sowie Studiengangsleiterin Master in Social Work as a Human Rights Profession zufolge bestand die wissenschaftliche Seite sozialer Berufe bis in die 1990er Jahre in einem Zurückgreifen auf unverbundene Bezugswissenschaften. Danach versuchte man Sozialarbeitswissenschaft als eigenständige Wissenschaft zu begründen (Merten et al. 1996) als eine systematische Einheit von Gegenstandbestimmung, Theoriebezug und Methodik. Heute dagegen spricht man in Anlehnung an Staub-Bernasconi (2007) offener von einer „Disziplin und Profession Sozialer Arbeit“. Konzepte von Praxisforschung werden ebenso mitgedacht. Einigkeit besteht zudem darin, dass es mehrere sozialwissenschaftliche Disziplinen mit je unterschiedlicher Gegenstandsbestimmung in die wissenschaftliche Fundierung sozialer Berufe einzubeziehen gilt. Die akademische Soziale Arbeit ist interdisziplinär, wobei die einzubeziehenden Disziplinen im Zusammenhang mit der jeweiligen Praxis stehen. In der Sozialen Arbeit geht es um eine sehr komplexe Form beruflicher Praxis, die Einfluss auf lebensweltliche Situationen nimmt, dabei normative Aspekte berücksichtigt (Recht und Ethik) und fachliche Konzepte und Entscheidungen auf die Ergebnisse mehrerer Wissenschaften stützt. Die erforderliche Verknüpfung der Wissensbestände und theoretischen Konzepten besteht nicht allein auf der Ebene von Wissenschaft und reflektierter Interdisziplinarität, sondern auch im Fallverstehen, Einüben professionelles Handelns und Reflektierens, somit der Entwicklung eines professionellen Habitus’, der angemessen auf berufliche Anforderungen antwortet. Wissenschaftsbezug in sozialen Berufen erfordert eine eigene, wissenschaftlich geschulte Denkleistung. Theorien und Empirie sind der jeweiligen Disziplin entsprechend zu kontextualisieren. Praxisbezogener interdisziplinärer Wissenschaftsbezug besteht in einer Pendelbewegung von der praktischen Erfahrung über die Reflexion in die Recherche, von der Recherche über die Reflexion in weitere Recherchen und zurück in die Praxis. Eine Wende im eigenen Reflexionsprozess bedeutet Perspektivenbrechung und Distanznahme mit der Suche nach einer anderen produktiven Perspektive. Erforderlich ist es, die Perspektivenbrechung zuzulassen und die Übung darin, die unterschiedlichen Ebenen von Praxis, Theorie, Empirie, Erfahrung aufeinander zu beziehen. Eine solche Distanznahme erfolgt von einer dritten Position heraus, der des Übergangs. Wolfgang Welsch in „Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft“ (1996) bezeichnet Denkbewegungen des Übergangs als „transversal“. Spezifische, abgegrenzte Rationalitäten gesellschaftlicher wie wissenschaftlicher Praxis können überschritten werden, indem Verbindungen gesehen, Grenzbereiche erkundet und Übersetzungsleistungen erbracht werden. Metaphern des Transversalen sieht Grossmass in der Idee der Intersektionalität von Crenshaw (1991). Ferner führt sie die Doppelverortung von Beratung als psychologisch-pädagogisch geschulte professionelle Praxis in unterschiedlichen Praxisfeldern an (Engel et al. 2004) sowie die Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch (1995).

Die SoziologInnen Eva Tolasch, Udo Dengel und Nicole Lühring fragen in Doing philosophy while doing social work: Eine qualitative Verhältnisbestimmung, was professionellen Sozialarbeitenden Philosophie im alltäglichen Handeln bedeutet. Es stellt sich heraus, dass Professionelle nicht einfach Philosophie(n) benutzen, sondern sie in den alltäglichen Interaktionen mit AdressatInnen permanent und kontextbezogen herstellen. Philosophie und Soziale Arbeit werden als Doing verstanden. Wie sie getan werden, wird mittels problemzentrierter Interviews mit sieben – Berufspersonen eruiert und nach Mayring qualitativ ausgewertet. Sozialarbeitende rekurrieren vielgestaltig auf Philosophie, spirituell bis fachdisziplinarisch-wissenschaftlich. Sie komponieren sie immer neu zusammen, begründen, vermengen sie mit eigenen Erfindungen und machen sie zur Wissensgrundlage Sozialer Arbeit. Philosophie lässt sich auch als eine Art sozialarbeiterische Arbeitsmethode ausmachen. Sie wird als Reflexionsform „innerhalb des Tuns“ (Anerkennung des Anderen, reartikulierte Performanz) und „über das Tun“ (Kontingenz) angesehen, welche beide ineinandergreifen. Philosophische Begründungen bereichern folglich die Soziale Arbeit in der Praxis und haben die Macht, Verfestigtes aufzulösen.

Diskussion und Fazit

Der Titel des Buchs machte neugierig. Die Aufsätze beinhalten für die Soziale Arbeit und ihr Verhältnis zur Philosophie interessante Gedankengänge moderner WissenschaftlerInnen auf der Grundlage einiger anregenden modernen Denkenden. Die anspruchsvolle Lektüre ist weitgehend für Nicht-PhilosophInnen verständlich formuliert. Das Denken mancher PhilosophInnen, so zum Beispiel Bauman, mundet bisweilen postulierend an. Vermisst werden oft Hintergrundinformationen zu angeführten PhilosophInnen, doch davon distanziert man sich im Voraus (S. 8). Ferner fragt man sich nach dem Verbindenden der einzelnen Ansätze für die Soziale Arbeit. Indem das Buch jedoch einen Diskurs in Gang setzen will, von dem behauptet wird, dass er bisher nicht explizit stattfand, wird dies offengelassen. Zumal man davon ausgeht, dass postmodern nicht vom Vorhandensein der einen oder einenden Theorie ausgegangen werden kann. Die Aufsätze beinhalten jedoch vielfältige Querbezüge, was dennoch eine gewisse Kohärenz herstellt. In Zeiten der Pluralität sind wir aufgefordert, den Ansätzen nachzugehen, sie auf Praxistauglichkeit zu prüfen und neben dem Fazit, dass hier eine Menge Anregungen zu finden ist, auch wie oben befragte Sozialarbeitenden unser eigenes Fazit bzgl. unseres professionellen Handelns zu finden.

Rezension von
Elke Ziegler
M.A. Klinische Sozialarbeiterin, Liz. Theologin, Dipl. Systemberaterin, Zert. Bewegungspädagogin
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Es gibt 2 Rezensionen von Elke Ziegler.

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Zitiervorschlag
Elke Ziegler. Rezension vom 07.02.2018 zu: Gudrun Perko: Philosophie in der Sozialen Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. ISBN 978-3-7799-3665-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23028.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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