Andreas Rauh (Hrsg.): Fremdheit und Interkulturalität
Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 06.11.2017
Andreas Rauh (Hrsg.): Fremdheit und Interkulturalität. Aspekte kultureller Pluralität.
transcript
(Bielefeld) 2017.
151 Seiten.
ISBN 978-3-8376-3910-0.
D: 24,99 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 31,60 sFr.
Edition Kulturwissenschaft, Band 137.
Herausgeber, Autorin und Autoren
- Der Herausgeber und Autor, Dr. Andreas Rauh, ist Geschäftsführer des „Human Dynamic Centre“ der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg.
- Prof. Dr. Franz-Peter Burkard lehrt Philosophie und Religionswissenschaften an der Universität Würzburg.
- Dipl.Päd. Dominik Egger ist Dozent am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft, Universität Würzburg.
- Prof. Dr. Heidi Keller ist emeritierte Professorin der Universität Osnabrück, sowie Direktorin von Nevet der Hebrew Universität in Jerusalem.
- Prof. Dr. Dieter Neubert ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Bayreuth.
- Prof. Dr. Alfred Schäfer ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
- Prof. Dr. Youssef Schwartz ist Direktor der „School of Philosophy, Linguistics and Science Studies“ an der Universität Tel Aviv.
Entstehungshintergrund und Thema
Das Buch geht zurück auf eine Tagung des „Human Dynamic Centre“ der Universität Würzburg; es will grundlegende Konzepte von Fremdheit und Kulturalität als Themenkomplexe humanwissenschaftlicher Forschung klären und enthält Beiträge aus Philosophiegeschichte, Bildungsethnologie, Erziehungswissenschaft, Entwicklungspsychologie und -soziologie.
Aufbau
Nach einer Einleitung von Andreas Rauh finden sich sechs Kapitel:
- The Role of Language in the Medieval Multi-Cultural Transmission Project. A Jewish Perspektive. (Schwartz)
- Von Gästen und Menschenfressern. Zur kulturellen Wahrnehmung von Fremdheit. (Burkhard)
- Bildungsethnologie. Annäherungen an eine konstitutive Fremdheit. (Schäfer)
- Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben. (Keller)
- Behinderung, Handicap, Andersartigkeit. Zum Umgang mit körperlichen und psychischen Abweichungen. (Neubert)
- Interkulturelle Kompetenz. Systematiken und Heterogenität eines Schlagwortes. (Egger)
Angaben zu Autorinnen und Autoren bilden den Schluss des Werkes.
Inhalt
Heterogenität und Homogenität sind und waren Mittel der Selbst- und Fremdbeschreibung von Gruppen und von Bedeutung für Identitätsentwicklung und Selbstverständnis. Rauh weist in seiner Einleitung darauf hin, dass einerseits Kulturzusammenhänge durch Zuweisung von Eigenschaften und Leistungen auch bloß „imaginiert“ werden können, dass andererseits ein vollständiger Verzicht auf Gruppenzuweisungen das Erkennen und Würdigen gemeinsamer Gruppenleistungen verhindern würde und Individuen ohne Rücksicht auf Kontexte betrachtet werden.
Der – englischsprachige – Beitrag von Schwartz ( The role of Language …) über die multikulturelle Realität im Mittelalter zeigt am Beispiel der Übersetzung aus dem arabischen in den mitteleuropäischen lateinischen Sprachraum die dynamische Natur der mittelalterlichen kommunalen Identitäten mit ihren Konflikten und multidimensionalen Migrationsprozessen.
Burkard geht von einem semiotischen Kulturverständnis aus (Von Gästen und Menschenfressern) und richtet seinen Blick auf die kulturelle Produktion, Kommunikation und Interpretation von bedeutungshaltigen Zeichen und damit auf die Etablierung, Veränderung und Auflösung von Deutungsmustern. Da Zeichen nur dann eine Bedeutung haben, wenn sie sich von anderen Zeichen unterscheiden, ist Grenzziehung eine Notwendigkeit der Bedeutungskonstitution – und damit wird das Fremde zu einem wichtigen Thema. Indem es aber jenseits der so gezogenen Grenzen steht, stellt es eine Relativierung, eine potentielle Infragestellung des eigenen Sinn- und Deutungsmusters dar. Zwei Figuren des Fremden stellt Burkard paradigmatisch vor: Das nicht integrierbare „Jenseits“ der kulturellen Grenzen, nämlich den Menschenfresser, und den Gast als den eingliederbaren Fremden.
Die kulturelle Ausgrenzung (am Beispiel des Menschenfressers) markiert die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Die menschenfressenden Wilden, die die Inseln der Zivilisation umzingeln, verschwinden allerdings, sobald man ihnen näher kommt: Marco Polo entdeckte jede Menge Kannibalen, allerdings nur in den Ländern, in denen er niemals war. So zeigen sie sich als kulturelles Produkt einer „medialen Aufheizung“ und gezielter Vermarktungsstrategie (S. 50). Lehrreich ist nach Burkard diese Geschichte, „weil sie zeigt, auf welche Holzwege ein Verständnis von Kultur geraten kann, das sich ihres Symbolcharakters nicht hinreichend bewusst ist. Und zwar auf doppelte Weise: nicht nur verdeckte der Glaube an die reale Existenz von Menschenfressern ihre bedeutungskonstituierende Funktion in einem Selbstinterpretationsmodell von Kultur, sondern auch die Ansicht, dass mit der Widerlegung ihrer Existenz die Sache nun erledigt wäre, begäbe sich auf denselben Holzweg“ (S. 51). Das Deutungsmuster behält seine Funktion: „um einen anderen ungestraft berauben und totschlagen zu können, muss man ihn nur zum Barbaren oder Menschenfresser machen“ (S. 51). Der konfliktträchtige Zustand – die Anwesenheit des Fremden – wird durch das Gastrecht nicht beendet, sondern suspendiert, also zeitlich begrenzt: einen Gast auf Dauer kann es nicht geben. Sobald das Fremde sich dauerhaft ansiedelt, ist es eine beständige Irritation und „eine Provokation für die Inhaber der jeweiligen Herrschaftsgewalt“ (S. 55).
Eine semiotisch orientierte Kulturtheorie bildet auch die Basis des Beitrages von Schäfer (Bildungsethnologie): Unterscheidungen zwischen Kulturen beruhen nicht auf essentiellen Differenzen; vielmehr werden solche gesetzt, um zu einer Bestimmung des Eigenen gegenüber dem Fremden zu kommen. Ethnologie und Bildungsforschung – deren Verhältnis zueinander an den Beispielen 'Tourismuserfahrungen' und 'Initiationsprozess in einem Vodoo-Maskenbund' verdeutlicht wird – werfen die grundsätzliche Frage nach Möglichkeit und Grenzen eines erkennenden Zugangs auf: „Die angestrebte Repräsentation des Fremden verstrickt sich in die Paradoxie, dass eine adäquate Repräsentation des Fremden ihren Gegenstand auflösen würde.“ (Rauh in der Einleitung, S. 11-12).
Heidi Keller verdeutlicht in ihrem Beitrag (Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben), dass kulturelle Einflüsse auf Entwicklungsprozesse komplex sind und ihre Kenntnis substantiell für das Verstehen von Entwicklung sind. Wenn Therapie, Beratung, Intervention und Erziehung ausschließlich am westlichen Modell der psychologischen Autonomie ausgerichtet sind, kann es zu bedenklichen Konsequenzen führen, etwa, wenn Migranten Mentalisierungsfähigkeiten abgesprochen wird, ohne zu berücksichtigen, dass es unterschiedliche Formen psychischen Funktionierens geben kann.
Neubert stellt die universelle Gültigkeit des westlichen Begriffs der Behinderung in Frage (Behinderung, Handicap, Andersartigkeit …). Die Definition der Weltgesundheitsorganisation umfasst Schädigung, Beeinträchtigung der Aktivität und Beschränkung von Partizipation und beansprucht weltweite Geltung. Der Bezug auf wissenschaftliche, biomedizinische Kategorien unterstellt – so Neubert –, dass diese universelle Kategorien sind. Neubert zeigt anhand ethnographischer Studien, dass es einerseits einen universellen Kern im Verständnis von „Behinderung“ gibt, andererseits aber auch kulturbedingte Abweichungen in Normalitätserwartungen. Das wichtigste Ergebnis jedoch betrifft die soziale Reaktion auf Andersartigkeit; es gibt keine universellen Formen des Umgangs mit Abweichungen von Normerwartungen.
Interkulturelle Kompetenz (Egger) wird als eine Schlüsselqualifikation unserer Zeit angesehen, zugleich findet sich eine „gewisse Ignoranz“ (S. 124) gegenüber diesem theoretischen Konstrukt. Listenartige Aufzählungen von Fähigkeiten, die zu diesem gehören sollen, basieren häufig auf alltagsweltlichen Vorannahmen und intuitiven Plausibilitätskriterien. Egger begegnet dem zunächst mit einer Betrachtung des Kompetenzbegriffes, der häufig als eine effizienzorientierte Kombination von Fähigkeiten, Eigenschaften usw. verstanden wird. Die Dimensionen Ethik oder Moral spielen im Zusammenhang mit interkultureller Kompetenz eher implizit und seltener explizit eine Rolle; „Achtung“, „Anerkennung“ oder „Toleranz“ verweisen auf eine Bedeutungsebene, die den effizienzbezogenen Rahmen sprengt.
Eng verbunden mit dieser Definitionsproblematik ist die Frage, wer eigentlich Träger interkultureller Kompetenz ist. Verstanden wird dies meist als Aspekt personalen Könnens, Ansätze, die auch Organisationen als interkulturelle Handlungssubjekte verstehen, gibt es kaum.
Neben der Frage nach dem Handelnden ist weiter die Frage nach dem Anwendungsgebiet interkultureller Kompetenz bedeutsam. Egger differenziert zwischen internationaler Interaktion (zwischen verschiedenen Kulturen) und interkollektiver Interaktion (zwischen Gruppen innerhalb einer Kultur).
Nicht nur über Inhalte und Begriffe, sondern auch über die Ziele interkultureller Kompetenz gibt es Differenzen. Massiver Kritikpunkt an effizienzorientiertem Verständnis ist der Vorwurf der Manipulation, die Durchsetzung eigener Standpunkte und Vorteile. Demgegenüber steht eine Konzeption, die das Gelingen in der persönlichen Weiterentwicklung aller Beteiligten sieht.
In seinem abschließenden Kapitel zeigt Egger am Beispiel eines Lehrprojekts an der Würzburger Universität, wie ein so heterogenes Themengebiet im Rahmen eines akademischen Studiums gelehrt werden könnte.
Diskussion und Fazit
Die Beiträge dieses Bandes analysieren die Aufgaben, die sich aus dem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen ergeben, aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und sind daher geeignet, den Blick auf Probleme und Lösungsansätze im Kontext kultureller Differenzen zu schärfen.
Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied
und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der
FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische
Psychotherapie.
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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 06.11.2017 zu:
Andreas Rauh (Hrsg.): Fremdheit und Interkulturalität. Aspekte kultureller Pluralität. transcript
(Bielefeld) 2017.
ISBN 978-3-8376-3910-0.
Edition Kulturwissenschaft, Band 137.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23037.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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