Daniela Holzer: Weiterbildungswiderstand
Rezensiert von Prof. Dr. Ulla Klingovsky, 26.10.2017
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Daniela Holzer: Weiterbildungswiderstand. Eine kritische Theorie der Verweigerung. transcript (Bielefeld) 2017. 575 Seiten. ISBN 978-3-8376-3958-2. D: 49,99 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 61,00 sFr.
Thema
Der Titel der von Daniela Holzer vorgelegten Habilitationsschrift ist klug gewählt: Weiterbildungswiderstand markiert in den bisherigen wissenschaftlichen Bearbeitungen einerseits das Phänomen, wonach Menschen sich der Weiterbildung verweigern. Andererseits wird Widerstand auch als Ziel und Inhalt von Bildung diskutiert und als „sehnsuchtsgeladene Metapher“ (S. 366) vorgestellt, um zu erkunden, wie Widerstand durch Bildung und als kritische politische Praxis gefördert werden kann. Im Zentrum dieser Betrachtungen steht die Frage, wie sich die Grundlage der bürgerlichen Bildungsidee zwischen notwendiger Anpassung an und gleichzeitiger Widerständigkeit gegenüber der gesellschaftlichen Vereinnahmung in der Erwachsenen- und Weiterbildung ausbalancieren ließe.
Daniela Holzer wählt demgegenüber einen radikal divergierenden, dritten Ausgangspunkt: Auf den knapp 600 Seiten ihrer anspruchsvollen, weil dichten Analyse soll nicht weniger als eine kritische Theorie des Widerstands gegen Weiterbildung entfaltet werden. In der wissenschaftlichen und praktischen Fachöffentlichkeit sei die Vorstellung, wonach Widerstand sinnhafter Weise auch gegen Weiterbildung und ihre verwertbarkeitsorientierten Formen und Inhalte selbst gewendet werden kann, nahezu tabuisiert. In Zeiten einer (neuen) allgemeinen Begeisterung für Weiterbildung und gleichzeitiger Verschärfung von Weiterbildungsverpflichtungen sowie mit Blick auf eine marktorientierte Bildungsmaschinerie ist die dezidiert weiterbildungskritische Problematisierung von Widerstand ein überraschend mutiges Unterfangen.
Die Autorin entfaltet ihre theoretische Annäherung an Widerstand gegen Weiterbildung als negativ-dialektische Suchbewegung mit dem Ziel, Ansatzpunkte, Möglichkeiten und Äußerungsformen von ‚Weiterbildungswiderstand‘ als kollektivierte kritische Praxis zu erkunden. Dabei ist sie weder am Aufschluss von individualisierten Lernbarrieren, Lernblockaden oder Lernwiderständen, noch an der erwachsenenpädagogischen Bearbeitung von Widerstandsformen in der Bildungspraxis interessiert. Im Gegenteil: Holzer versteht die in den vergangenen Jahren in der erwachsenenpädagogischen Widerstandsforschung erkennbare Hypostasierung individualisierbarer Lernstörungen sowie die gegenwärtige Fokussierung auf das mikrodidaktische Handlungsgeschehen als neuerlichen Ausdruck einer De-Thematisierung des gesellschaftskritischen Potenzials von Widerstand.
Aufbau und Inhalt
Auf der Homepage der Deutschen Nationalbibliothek ist das vollständige Inhaltsverzeichnis einsehbar.
Die Untersuchung setzt nach der Einleitung mit dem 2. Kapitel („Ankerpunkte“) ein, das insbesondere der theoriebasierten Darlegung der eigenen Forschungsperspektive dient. Geleitet von einem grundlegend kritisch-emanzipatorischen Erkenntnisinteresse sucht die Autorin nach forschenden Wegen und Möglichkeiten einer kritischen Erwachsenenbildungswissenschaft.
Hierfür wird in Kapitel 3 präzise und souverän argumentierend die Negative Dialektik Adornos als spezifische Denkform und erkenntnisleitende Methode der Theorieentwicklung ausgearbeitet. Unter dem Primat der Gegenstände und Inhalte soll das ‚Lesen‘ und ‚Denken‘ von Weiterbildungswiderstand als „Kehrseite einer manifesten Weiterbildungsaufforderung, als Negation der Weiterbildung“ bzw. „als negative Stellungnahme zu den gesellschaftlichen Verhältnissen“ (S. 16) ermöglicht werden. Entlang der etwas kunstvoll geratenen Metapher der ‚Navigationsstützen‘ (S. 150) wird nachvollziehbar expliziert, wie negativ-dialektisches Denken sich denken lässt. Im Anhang findet sich denn auch eine übersichtliche Darstellung der ausgearbeiteten methodischen Werkzeugkiste.
Derart ausgerüstet begibt sich die Autorin in Kapitel 4 auf den Weg, die Geschichte der Widerstandsforschung in (Weiter-)Bildungskontexten systematisch zu rekonstruieren und zentrale Entwicklungslinien für eine negativ-dialektische, kritische Theorie von Weiterbildungswiderstand zu erkunden. Ausgehend von Tolstoi, Willis, Giroux, Axmacher, Bolder und Hendrich sowie ihren eigenen Vorarbeiten setzt sie sich mit den Widerstandskonzeptionen einschlägiger Lerntheorien (Jarvis, Illeris, Holzkamp, Faulstich, Haug) auseinander und dechiffriert schließlich die problematischen Verkürzungen in der gegenwärtigen Diskussion von Widerstand.
Im Anschluss an Axmacher (1990) wird der Spur der gesellschafts- und kulturkritischen Funktion des ‚Unterlassungshandelns‘ als potentiell kritischem Gegen-Handeln systematisch gefolgt, um nicht mehr nur Widerstandsformen von Teilnehmenden in institutionalisierten Weiterbildungsveranstaltungen oder Fragen von Bildungsabstinenz als lediglich strukturell verursacht in den Fokus zu rücken, sondern Äußerungsformen von Widerstand in ihrer ganzen Breite analytisch und empirisch fassbar zu machen.
Kenntnisreich und zielsicher werden in Kapitel 5 „Ausflüge in Nachbardisziplinen“ unternommen. In einer breiten Auswahl gegenwärtig verhandelter Widerstandskonzeptionen werden Themenfelder und Anknüpfungspunkte mit dem Ziel aufgespürt, notwendige Ergänzungen einer Theorie von Weiterbildungswiderstand herauszufiltern.
Derart theoretisch informiert werden in Kapitel 6 neun Eckpunkte skizziert, mit denen die Autorin die Leerstellen der bisherigen Widerstandsforschung in der Erwachsenen- und Weiterbildung füllen und den Begriff ‚Weiterbildungswiderstand‘ theoretisch fassen will. Die Lektüre dieses Schlusskapitels stellt zweifelsfrei eine intellektuelle Herausforderung dar, da sich die negativ-dialektische Lesart der Autorin gegen jeglichen endgültig identifizierenden oder definierenden Zugriff sperrt. Der Clou der in der Arbeit eingenommenen Perspektive besteht allerdings darin, das kritische Potenzial von Weiterbildungswiderstand eben gerade nicht vorauszusetzen, sondern dieses allererst sichtbar machen zu wollen. Was die Autorin an kritischem Potenzial aufzuspüren beabsichtigt scheint dabei weder an bestimmte Widerstandsformen noch an bestimmte Personen(gruppen) oder Handlungsräume gebunden zu sein (S. 473). Gesucht sind all jene Handlungen und Praxen, die (auch) jenseits individueller Intentionen strukturell bedeutsame Effekte erzeugen (können) und damit radikal kritische Anfragen an die gegenwärtigen Weiterbildungsverhältnisse ermöglichen.
Diskussion und Fazit
Es ist das besondere Verdienst der von Daniela Holzer vorgelegten Analyse, dem Drang einer positiven Wendung des Weiterbildungswiderstands bis zum Ende zu widerstehen. Auf diese Weise leistet die Arbeit zwar keinen definitorischen Beitrag zu der Frage, „wofür sich dieser Widerstand einsetzt“ (vgl. Holzer 2004), sondern bleibt in seiner Anlage durchgängig der Kraft der Negation verpflichtet – zugleich eröffnet die negativ-dialektische Suchbewegung über die Denk- und Sichtbarmachung möglicher Erscheinungsformen eines kritischen ‚Weiterbildungswiderstand‘ allerdings Aufschlüsse über die vorhandenen Machtverhältnisse im Feld der Erwachsenen- und Weiterbildung.
Streng genommen könnte der von Daniela Holzer theoretisch konzipierte Weiterbildungswiderstand wohl lediglich empirisch als Verweigerung, Gegen-Handeln bzw. kritische Stellungnahme gegen grundlegende Funktionen einer verwertbarkeitsorientierten Weiterbildung innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft weitergetrieben werden. Sollten allerdings die Effekte von weiterbildungswiderständigen Handlungen ohne Bezug auf individuelle Intentionen empirisch erhellt werden, wäre möglicherweise ein Rückgriff auf die das Subjekt dezentrierenden Analyseinstrumente poststrukturalistischer Theorieeinsätze aufschlussreich. Daniela Holzer liefert – am Rande bemerkt – mit ihrem beeindruckenden Werk eine fundierte Grundlage um die Theorie und Praxis der Kritik aus (noch) vorhandenen Unterscheidungen und Abgrenzungen zu entbinden.
Rezension von
Prof. Dr. Ulla Klingovsky
Professur für Erwachsenenbildung und Weiterbildung
Pädagogische Hochschule FHNW Basel
Website
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Zitiervorschlag
Ulla Klingovsky. Rezension vom 26.10.2017 zu:
Daniela Holzer: Weiterbildungswiderstand. Eine kritische Theorie der Verweigerung. transcript
(Bielefeld) 2017.
ISBN 978-3-8376-3958-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23038.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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