Christian Palentien: Kinder- und Jugendarmut in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 31.05.2005

Christian Palentien: Kinder- und Jugendarmut in Deutschland.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2004.
342 Seiten.
ISBN 978-3-531-14385-9.
36,90 EUR.
CH: 63,50 sFr.
Reihe: Kindheitsforschung, Band 16
Empirische Grundlagen des Buchs
Den Kern des Buches bilden zwei empirische Studien über "kommunale Armutsstrukturen" und - daran anknüpfend - über "sozialraumbezogene Armutsprävention". Beide Studien wurden im Auftrag der Stadt Gütersloh in eben dieser Stadt durchgeführt und basieren auf einer für Gütersloh repräsentativen Befragung von Personen über 18 Jahren (Kinder werden also nicht aktiv in die Untersuchung einbezogen).
Inhalt
Eingangs wird die in Deutschland geführte sozialwissenschaftliche Diskussion zu Armut und sozialer Benachteiligung bündig zusammengefasst und es werden bisherige Forschungsergebnisse zu monetären und nicht-monetären Dimensionen von Armut vorgestellt. Bei der Gütersloher Untersuchung werden drei theoretische Ansätze der Armutsmessung miteinander kombiniert:
- der Ansatz des "äquivalenzgewichteten Durchschnittseinkommens" (also der Einkommensaspekt),
- der Lebenslagenansatz (bezogen auf Wohnung, Bildung und Erwerbsarbeit)
- und der Ansatz der "subjektiven Deprivation", der von der Selbsteinschätzung der Interviewten ausgeht.
Soweit der Autor auf Fragen der Kinder- und Jugendarmut eingeht, bezieht er sich kaum auf die eigenen Studien, sondern zieht vor allem andere Daten und Untersuchungen der letzten Jahre heran. So finden sich Kapitel über "Strukturen und Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen", über "Bedingungsfaktoren und Folgen von Armut im Kindes- und Jugendalter" und über "Kinder und Jugendliche im Fokus kommunaler Armutsprävention". Am Ende des Buches werden Entwicklungstrends sowie politische und pädagogische Folgerungen zur Prävention von Kinder- und Jugendarmut aufgezeigt.
Insoweit sich das Buch auf andere Untersuchungen stützt, überrascht der Befund nicht, dass in erster Linie Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende von Armut betroffen sind - ebenso wie die Bezieher/innen von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld/-hilfe. Dies gilt in besonderem Maße für Migrant/innen und diejenigen, die über niedrige bzw. keine Bildungsabschlüsse verfügen. Die Auswirkungen, die das Aufwachsen in Armut für Kinder und Jugendliche hat, werden mit Blick auf die Lebensbereiche Familie, Bildung und Ausbildung sowie Freizeit und Konsum diskutiert, wobei hervorgehoben wird, dass Armut von Kindern und Jugendlichen nicht nur erfahren, sondern auch "subjektiv empfunden" wird. Unter Bezug auf sozialisations- und stresstheoretische Überlegungen wird versucht, das Zusammenwirken psychischer und sozialer Faktoren zu erklären. Auf diese Weise kommt der Autor zu dem Schluss, dass Armutserfahrungen für Kinder und Jugendliche eine "Verkettung von Desintegrationserfahrungen" nach sich ziehen.
Der Autor meint bei Kindern und Jugendlichen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen "ungünstigen materiellen und wohnlichen Bedingungen" und "kriminellen Verhaltensweisen" bzw. "demonstrativer Devianz" zu erkennen: "Kriminalität bildet vielfach den Endpunkt einer langen Kette von Belastungen durch ungünstige Sozialisationsbedingungen in der Familie, geringen Schulerfolg, fehlenden Schulabschluss, mangelhafte oder fehlende Berufsausbildung und Arbeitslosigkeit" (S. 218). Er deutet dies als Ergebnis der wachsenden Diskrepanz zwischen Arm und Reich und der von Werbung und Massenmedien verstärkten Neigung der Kinder und Jugendlichen, "ihre Teilhabechancen in Konsum und Freizeit an einer sozialen Welt (zu) orientieren, die ganz überwiegend dem Lebensstil der oberen Hälfte des sozialen Spektrums entspringt" (S. 195). Da sie ihre Situation wenig beeinflussen könnten, nähmen ihre Armutserfahrungen "oftmals einen schicksalhaften Charakter" (ebd.) an und führten selbst bei Kindern und Jugendlichen mit hohen "individuellen Bewältigungskompetenzen" letztlich zu Stress, Überforderung und "untauglichen" bzw. "fehlgeleiteten" Formen der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenslage (S. 217).
Bei diesen Schlussfolgerungen fragt sich, warum der Autor gerade in den bei Kindern und Jugendlichen bemerkten "aktiven" Bewältigungsstrategien nur negative Seiten wahrnimmt. Zu vermuten ist, dass dies der Orientierung an Theorien geschuldet ist, die den Handlungskompetenzen der Subjekte wenig Bedeutung beimessen. Da sie Kinder und Jugendliche in erster Linie unter dem Aspekt ihrer "Entwicklungsaufgaben" betrachten, können sie Verhaltensweisen, die von vorherrschenden Bewältigungsmustern abweichen, nur als "desintegrierende" Effekte deuten.
So sind auch die Konsequenzen, die für Präventionskonzepte gezogen werden, vor allem auf die Kompensation von vermeintlichen Defiziten gerichtet. Von der Jugendhilfe wird erwartet, dass sie den "unproduktiven Formen der Problembewältigung bereits im Vorfeld ihrer Entstehung entgegenwirken" oder die Handlungskompetenzen zu aktivieren versuchen, um den Kindern und Jugendlichen "einen 'produktiven' Umgang mit bzw. einen Ausstieg aus der Armut zu ermöglichen" (S. 12). Als Ziel einer "sozialraumbezogenen Armutsprävention" wird bestimmt, "der Entstehung neuer Quantitäten am Armuts- und Reichtumspol der sozialen Ungleichheit entgegenzuwirken, um frühzeitig einer neuen, fragmentierten Qualität der Sozial- und Systemintegration vorzubeugen" (S. 14). Was immer das heißen mag.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 31.05.2005 zu:
Christian Palentien: Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2004.
ISBN 978-3-531-14385-9.
Reihe: Kindheitsforschung, Band 16.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2304.php, Datum des Zugriffs 17.05.2022.
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