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Inge Seiffge-Krenke: Die Psychoanalyse des Mädchens

Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 05.02.2018

Cover Inge Seiffge-Krenke: Die Psychoanalyse des Mädchens ISBN 978-3-608-94952-0

Inge Seiffge-Krenke: Die Psychoanalyse des Mädchens. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2017. 422 Seiten. ISBN 978-3-608-94952-0. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Nachdem Hans Hopf 2014 seine Anthologie über die „Psychoanalyse des Jungen“ (2014) vorgelegt hat, entstand gemeinsam die Überlegung, eine entsprechende Arbeit über die „Psychoanalyse des Mädchens“ zu verfassen. Und da es viele entwicklungspsychologische Befunde zu Mädchen gibt, ist es wenig verwunderlich – dennoch mutig und dankenswert –, dass sich eine Entwicklungspsychologin und Psychoanalytikerin daran wagt, diese beiden Perspektiven näher zusammenzubringen.

Ein formulierter Antrieb für die Autorin war es, für jene „Lebensbereiche des Mädchens, die in der Psychoanalyse gar nicht so bekannt sind – wie Freundschaftsbeziehungen, körperliche Entwicklung, die erste Liebe –, aber auch für die Mädchenspiele, die aggressiven Auseinandersetzungen mit den wichtigen Bezugspersonen“ zu sensibilisieren.

Zum anderen war das Bestreben, die bisherige „zu starke Konzentration auf die Eltern, speziell der Mutter als Dritte im Bunde des therapeutischen Geschehens“, durch weitere Wissensbestände zu relativieren und allgemein Rahmendaten über nicht klinisch auffällige Mädchen zu formulieren, die es Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erleichtern mögen, krankheitswertige Störungen des Mädchens besser einschätzen zu können.

Autorin

Inge Seiffge-Krenke, Dr. phil., ist em. Professorin für Entwicklungspsychologie und Gesundheitspsychologie an der Universität Mainz mit Schwerpunkt Jugendforschung und Gastprofessorin an der International Psychoanalytic University in Berlin und der Universidad Catolica Lima, Peru. Sie ist Psychoanalytikerin und in der Lehre für und Supervision von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen im ambulanten und stationären Bereich tätig. Sie ist Sprecherin der Konfliktachse der OPD-KJ-2 und des Wissenschaftlichen Beirats der Lindauer Psychotherapiewochen. (Angaben im Buch)

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in 15 Kapitel mit je 5-12 Unterpunkten unterteilt. Es beginnt mit einer Übersicht über bisherige Theorien über Weiblichkeit in der Psychoanalyse, nimmt dann das Aufwachsen von Mädchen ab dem Babyalter bis zur Adoleszenz in den Blick. Anschließend liegt die Konzentration der Darstellung auf die verschiedenen intersubjektiven Räume der Mädchen (einschließlich klinisch relevanter Konflikte), gefolgt von – für die Psychotherapie bedeutsamen – klinischen Beobachtungen und Befunden u.a. in Bezug auf Körper, Bindung, Aggression von Mädchen.

Kapitel 1 „hurra – ein Mädchen?! Der Wunsch nach einem Mädchen und das Verhalten von Eltern gegenüber Töchtern“ (16) wirft einen ersten Blick auf einige jener Länder, in denen die Sohnpräferenz (u.a. staatlich verordnet) dazu führt(e), dass die Geburt eines Mädchens als Makel und Belastung galt (noch zu Zeiten Freuds) bzw. die Zuschreibung einer Minderwertigkeit von Mädchen und Frauen nach wie vor in vielen Gesellschaften verbreitet ist, und die sich nachteilig auf die Lebensbedingungen und den Gesundheitsstatus von Mädchen auswirken. Im Weiteren werden facettenreiche Bedeutungen der elterlichen Phantasien auch über das Geschlecht des noch ungeborenen Kindes erörtert, ein Sachverhalt, der den Eltern – bei erwartbarer Enttäuschung – Trauerarbeit abverlangt. Im Unterkapitel „Ein Mädchen wird ‚gemacht‘“ (29) greift die Autorin anthropologische Wissensbestände über die Entwicklung der Biologie und Morphologie des Menschen auf, zeichnet in (notwendig) knapper Weise den kulturellen Einfluss auf die biologische Ausstattung nach und betont das unhintergehbare und wirkmächtige Gewicht der jeweiligen Kultur, in denen Mädchen aufwachsen einschließlich der mehr oder weniger subtilen elterlichen Erwartungen, die bereits das manifeste Geschlechtsrollenverhalten ihres Kindes konstituieren.

In Kapitel 2 „Konzepte über Weiblichkeit in der Psychoanalyse“ (34) lädt Seiffge-Krenke die Leserin zu einem historischen Streifzug über die Weiblichkeitsbilder in der Geschichte der Psychoanalyse ein. Historische Bezüge zu Biografien von wichtigen Frauen der Psychoanalyse (Anna und Sophie Freud, Melanie Klein, Karen Horney u.a.) werden hergestellt und Verbindungen zwischen ihren jeweiligen psychoanalytischen Entwicklungstheorien und eigener Lebensgeschichte beleuchtet. In dieser Sichtung von frühen Theorien über Mädchen wird nicht nur einmal mehr deutlich, dass das kleine Mädchen, in den Anfängen der psychoanalytischen Theoriebildung, entweder gar nicht oder als Mängelwesen bzw. als unvollständiger Junge vorkam. Sondern auch, wie lange es dauerte, bis – mit Ausnahme von Karen Horney ­- souveräne französische Analytikerinnen, dieser eklatanten Defizitperspektive eigenständige Überlegungen entgegensetzten. Im Weiteren werden die Weiblichkeitskonzepte u.a. von Chasseguet-Smirgel (1979) und Olivier (1980) und Maria Torok (1979) skizziert, wobei es – so die Autorin – bis heute keine genuine psychoanalytische Sicht auf das Mädchen gibt. Das Anliegen von Seiffge-Krenke ist der Versuch, in den folgenden Kapiteln „ein etwas ‚runderes Bild‘ vom Mädchen zu vermitteln.“ (53)

In Kapitel 3 „Die Entwicklung des Mädchens aus psychoanalytischer Sicht: Das Babymädchen“ (54) unternimmt die Autorin die Anstrengung der Integration von psychoanalytischen Ansätzen über das Mädchen, „die über die letzten drei Jahrzehnte vorherrschend und mit Konzepten der Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie und der Intersubjektivität oder relationalen Psychoanalyse verbunden waren.“ (54) Der Blick auf das vermutliche Erleben und auf die Entwicklung des Babymädchens erfolgt insbesondere unter Bezugnahmen auf Donald D.Winnicott, Melanie Klein, Margaret Mahler und John Bowlby sowie der Ergebnisse der Säuglingsforschung von Daniel Stern. Dabei werden in den Unterkapiteln die grundsätzliche Bezogenheit des Säuglings zur „Mutter“ dargelegt und Erläuterungen zu den Stadien der frühen Objektbeziehungen sowie Konzeptionen prägenitaler Bestrebungen gegeben. Weitere Abschnitte betrachten Ergebnisse der ersten Säuglingsbeobachtungen (René Spitz, Esther Bick) sowie die späteren Forschungsbefunde von Stern, der die koordinierte Interaktion zwischen Mutter und Baby als Grundlage der Entwicklung des Selbstempfindens sieht, und es wird herausgearbeitet, in welcher Weise die Integration der Ergebnisse der Säuglingsforschung eine Veränderung der psychoanalytischen Sicht auf das Baby bewirkte. Obgleich die Befunde der Kleinkindforschung bezüglich der Geschlechterdifferenzierung keineswegs einheitlich sind, gelingt es Seiffge-Krenke die Besonderheiten des Mädchenbabys als „aktiv, differenziert und besonders beziehungsfähig“ zu begründen.

Kapitel 4 „Die Psychoanalyse des Kindergartenmädchens“ (79) beschäftigt sich zu Beginn mit der Frage nach der aktuellen theoretischen Bedeutung der Prägenitalität für kleine Mädchen, zumal Vertreter_innen der Objektbeziehungstheorie, der Selbstpsychologie, der Intersubjektivität aber auch der Entwicklungspsychologie die triebhaft-sexuelle Dimension der frühen Beziehungserfahrungen weitestgehend ausklammern. Demgegenüber schreibt die Verfasserin den spezifischen leiblichen Erfahrungen des Mädchens, mithin ihren oralen, analen, urethalen und genitalen Erfahrungen, einen hohen Rang zu und betont die Wichtigkeit der Differenzierungsprozesse des ödipalen Begehrens für der Identitätskonstitution, wobei Bisexualität und Phantasien über das andere Geschlecht in der gesamten Vorschulzeit virulent sind. Das Erleben der elterlichen Paarbeziehung sowie mögliche Störungen, das Akzeptieren des Ausgeschlossenseins mithin die Anerkennung von Grenzen und die Identifizierung mit beiden Eltern werden ebenso in den Blick genommen wie zahlreiche entwicklungspsychologische Befunde bezüglich kognitiver Reife, beschleunigte Empathie- und Schamentwicklung und die bereits in dieser Lebensphase hohe Bedeutung von Beziehungen zu Gleichaltrigen.

„Das Latenzmädchen: Das Mädchen in der mittleren Kindheit“ ist Thema von Kapitel 5 (104). Auch in diesem Abschnitt informiert die Autorin, auf der Basis von psychoanalytischen, aktuellen entwicklungspsychologischen Forschungsbefunden aber auch klinischen Erfahrungen, über notwendige Revisionen und Ergänzungen bisheriger Sichtweisen auf die sogenannte Latenzphase. Nicht nur wird erläutert, warum keineswegs von einer Ruhezeit bezüglich der Sexualität in dieser Zeit die Rede sein kann, sondern auch die beschleunigte Entwicklung des Mädchens in Bezug auf Schuld- und Schamgefühle sowie ihrer intellektuellen und sozialen Fähigkeiten werden erörtert und Einblicke – flankiert durch kurze Vignetten – in Überlegungen zu „Selbsterleben, Gefühlswelt und Intersubjektivität des Latenzmädchens“ (112) gegeben, in denen Anforderungen einer Leistungsgesellschaft, die stärkere Überwachung, Kontrolle und Einschränkungen der Mädchen durch die Eltern, lebensweltliche Narrationen von Mädchen sowie den entwicklungsfördernden wie auch -hemmenden Bedeutungen von Mädchengruppen Berücksichtigung finden.

In Kapitel 6 „Die weibliche Jugendliche: Kind bleiben oder Frau werden?“ (129) wendet sich Seiffge-Krenke jener Entwicklungsphase zu, die bekanntlich für Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Soziologie als eine besonders konfliktreiche Phase des Lebenslaufs – auch für weibliche Jugendliche – gilt, obgleich auch in diesem Lebensabschnitt die Konzentration bisheriger Forschungsanstrengungen auf die Jungen gerichtet wurde. Hervorgehoben werden die mädchenspezifischen biologischen Reifungsprozesse einschließlich der einschneidenden und verwirrenden Veränderungen im Körperkonzept, in der Identität und den Beziehungen zu Eltern und Freunden, deren Entwicklungsgegebenheiten ebenfalls im Kontext gesellschaftlicher Veränderungsdynamiken – einschließlich des Verweises auf das Fehlen von Markern und Riten für den Übergang zur Frau – gesehen werden. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet die Autorin auf die große Bedeutung der intersubjektiven Bezogenheit von Mädchen in der Adoleszenz, die u.a. in den Selbstexplorationen in Tagebüchern und neuerdings digitalen Medien ihren Ausdruck finden. Zudem wird die „Entwicklungshelferfunktion“ von Freund_innen und Partner_innen für die weibliche Identitätsentwicklung betont. Auch in diesem Kapitel nutzt die Autorin Sequenzen aus ihrem reichhaltigen klinischen Material zur Bebilderung diverser Konfliktpotenziale, die die Individuation in der Familie sowie das Aushandeln von Autonomie für Mädchen belasten.

Kapitel 7 „Mütter und Töchter“ thematisiert die „produktive, entwicklungsfördernde Funktion der großen Nähe von Mutter und Tochter“ (S. 158), die sich „aus der Gleichgeschlechtlichkeit“ ergibt, die aber zugleich auch ein Potenzial möglicher Risiken beinhaltet. Identifikatorische Prozesse, frühe Aggression und die Kontamination von oraler und genitaler Erregung sowie sexuelle Verschmelzungsphantasien und Sexualität als trennendes Element werden ebenso erörtert wie Prozesse einer misslingenden Differenzierung (einschließlich der Verschiebung aggressiver Abgrenzungen von der Mutter); Symbiose als Abwehr einer Beziehung zum Vater und die Folgen für die Entwicklung des Mädchens, wenn die Tochter als Verlängerung des (Mutter)Selbst angesehen wird. Weitere Kapitel widmen sich den Gefahren, wenn Mädchen aufgrund einer depressiven Erkrankung der Mutter zum Bewältigungsmechanismus der Parentifizierung greifen (müssen), dem Tabu der Mutter-Tochter-Aggression sowie den Neid und Rivalitätskonflikten zwischen Mutter und Tochter und den möglichen positiven und konflikthaften Besonderheiten in den Beziehungen zwischen berufstätigen und nichtberufstätigen Müttern und ihren Töchtern.

In Kapitel 8 konzentriert sich die Autorin auf „Die Beziehung zum Vater“ (196), wobei sie ausdrücklich der in der Psychoanalyse zu wenig wahrgenommenen positiven Seite der Vater-Tochter-Beziehung in „normalen“ Familien ihre Aufmerksamkeit widmet, „denn Väter üben von Geburt an und über die verschiedenen Altersstufen hinweg für die psychische und körperliche Entwicklung ihrer Töchter bedeutsame, sich verändernde distinktive Funktionen aus.“ (ebd.) Hervorgehoben wird seine Spielfeinfühligkeit und die triadische Kompetenz der Tochter, die Bedeutung seines liebevollen Blicks, seine Autonomieförderung sowie die notwendige (Teil)Identifizierung der Tochter mit ihm – auf der Basis einer erotisch-zärtlichen Beziehung zwischen Vater und Tochter –, Merkmale, die insgesamt für die Entwicklung der Weiblichkeit des Mädchens zentral ist. Zudem thematisiert Seiffke-Krenke häufig auftretende Probleme der Väter mit adoleszenten Töchtern und die daraus sich entwickelnden Dynamiken: Überreaktionen zum Schutz, Eifersucht und Kontrolle ­etc., wenn Töchter in der Adoleszenz sich anderen Männern zuwenden. Weitere Unterkapitel bedenken die sexuell-erotischen Konnotationen im Beziehungsdreieck Vater-Mutter-Tochter und die Folgen für die psychische Entwicklung des Mädchens, wenn der Vater aus den unterschiedlichen Gründen für sie nicht präsent ist.

Mit Kapitel 9 greift die Verfasserin ein von der Psychoanalyse bisher deutlich unterbelichtetes Thema auf „Das Mädchen im Kreis von Freundinnen und Geschwistern“ (227) und bebildert entlang zahlreicher historischer Bezüge zu Biographien von bekannten Frauen der Psychoanalyse die zentralen Themen von Neid, Rivalität und Eifersucht zwischen Geschwistern in unterschiedlichen Konstellationen (älter, jünger, Bruder, Schwester), die sowohl als ein „horizontales Trainingsfeld“ (238) für die Identitätsentwicklung imponieren aber auch durch inzestuöse Unterströme gefärbt sein können. Weitere Unterkapitel behandeln den hohen intimen Wert, den Freundinnen als „Entwicklungshelferinnen“ für Latenzmädchen und in der Entwicklungsstufe der Adoleszenz haben, die sich aber auch konfliktreich gestalten können und somit zu einem Risikofaktor werden.

Kapitel 10 „Romantische Beziehungen und der Gebrauch des Körpers als Wege zur Loslösung und Individuation“ (256) nimmt sich der wichtigen Entwicklungsimpulse – als Wendepunkte – von ersten schwärmerischen Liebesbeziehungen für Mädchen an und stellt dar, welche Bedeutung das Einsetzen ihres „jugendlich-attraktiven Körpers“ hat, „um frühe Erfahrungen […] wiederzubeleben und gegebenenfalls zu korrigieren.“ (ebd.) Erörtert werden sowohl „typische“ Entwicklungsphasen solcher Paarbeziehungen, verwirrende Gefühle als auch homosexuelle Komponenten der weiblichen Sexualität und damit verbundene klinisch relevante Problemfelder der Identitätsentwicklung.

Kapitel 11 greift noch einmal die Bedeutung der Bindung des Mädchens an die Eltern auf, die im Zusammenhang der besonderen Beziehungsorientierung von Mädchen gelesen werden. (288) Auch in diesem Kapitel werden beispielhaft Bezüge zu Biografien von bedeutsamen Frauen der Psychoanalyse hergestellt. Obgleich es in Bezug auf die Relevanz von Bindungserfahrungen zwischen den Geschlechtern nicht viele Unterschiede gibt, werden für die klinisch-therapeutische Praxis wesentliche Zusammenhänge zwischen Bindungsstil und Krankheitsbilder aufgezeigt und aktuell gängige therapeutische Zugangsweisen mit dem Ziel der Vermittlung von Bindungssicherheit referiert.

In Kapitel 12 „Mädchenkörper, Sexualität und Krankheit“ (307) konzentriert sich Seiffge-Krenke auf die Relevanz der Entwicklung einer innergenitalen Sexualität des Mädchens. Dazu werden differente Überlegungen von Psychoanalytikerinnen in – mehr oder weniger ‚gewagten‘ – Abgrenzung zur Freudschen Theorie der Weiblichkeit referiert. Aufgeführt werden zudem empirische Studien über die negative Sicht von Mädchen auf ihren Körper und ein Zusammenhang zur kapitalistische Vermarktung des weiblichen Körpers angeschnitten. In weiteren Abschnitten erörtert die Verfasserin die mit der Entwicklung der Innergenitalität eng verbundene „Janusköpfigkeit“ im Erleben der ersten Menstruation, stellt diese u.a. in Bezug zur Mutter-Tochter-Beziehung und thematisiert mögliche Funktionen von pathologischen Körperinszenierungen sowie therapeutisch relevante Befunde zu körperlich (chronisch) kranken Mädchen.

In Kapitel 13 „Das friedfertige Mädchen? Mädchen als Täterinnen und die Bedeutung der Beziehungsaggression“ (341) geht es sowohl um die „positive, entwicklungsfördernde Funktion von Aggression“ als auch um die „dunklen, zerstörerischen Seiten, wenn Mädchen wirklich zu Täterinnen werden, und um die Bedingungen, die dazu führen.“ (ebd.) Auf der Basis der – empirisch verifizierten – sozialen Tatsache, dass Mädchen seltener als Jungen offene Aggressionen zeigen, wird sowohl auf eine häufige Kombination mit anderen Störungen (Ängstlichkeit, depressive Episoden) eingegangen als auch auf Situationen, die ein berechtigtes Zeigen von offener Wut erkennbar werden lassen. Demnach wird Aggression auch von Mädchen als positive Durchsetzungsfähigkeit (u.a. zur Loslösung und Individuation, im Kampf um Autonomie) in ihr Recht gesetzt. Weitere Unterkapitel behandeln Themen der Beziehungsaggression und Mobbing sowie Aggression im Missbrauchskontext. Zudem wird auf unterschiedliche soziale Bewertungsmaßstäbe von Aggression bei Jungen und Mädchen hingewiesen.

Das Kapitel 14 „Andere Kulturen: Vernachlässigung und gesundheitliche Gefährdung von Töchtern“ (367) thematisiert die Belastungen jener Mädchen, die in ihrer Entwicklung durch den Zwang zur Flucht einschließlich traumatisierender Verlust- und Gewalterfahrungen, durch Migration und damit verbundener psychosozialer Verunsicherungen, aber auch durch Widerfahrnisse der traditionell legitimierten Genitalverstümmelungen und Zwangsverheiratung massiv eingeschränkt werden. Ausdrücklich weist die Autorin zu Beginn auf die Vielzahl geglückter Entwicklungen von Mädchen im Kampf um die Integration ihrer „verschiedenen Identitäten“ hin, bevor sie ausgewählte Facetten einer notwendig kultursensiblen therapeutischen Arbeit mit Mädchen in den Blick nimmt. Entlang internationaler empirischer Befunde werden die nachhaltig gesundheitsschädlichen Auswirkungen von länderspezifischen Sohnpräferenzen auf das Aufwachsen von Mädchen beschrieben sowie die Einflüsse der Weltreligionen auf die (sexuelle) Autonomiebestrebungen von Mädchen (ohne das Christentum unkritisch auszunehmen) veranschaulicht und die Schwierigkeit der Integration von religiösen Werten und westlichen Erziehungsvorstellungen für die Eltern von Mädchen – unterlegt mit Fallvignetten, die auch die Hilflosigkeit von Beraterinnen und Psychotherapeuten skizzieren – umrissen. Des Weiteren werden zentrale Herausforderungen in der psychotherapeutischen Praxis mit adoptierten Mädchen aus anderen Kulturkreisen sowie bei Zwangsverheiratung dargestellt und die dringende Vermittlung von rechtlichen und psychosozialen Wissensbeständen für die psychotherapeutischen Praxis mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingsmädchen eingefordert – nicht zuletzt, um eine einseitige Fokussierung auf Symptome der PTBS zu vermeiden.

In Kapitel 15 „Überlegungen zur Behandlungstechnik bei Mädchen“ (391) fasst die Autorin ihre bisherigen Ausführungen bezüglich eines therapeutischen Umgangs mit Mädchen, mit einer Fokussierung auf die besondere Beziehungsorientierung von Mädchen, vertiefend zusammen. Grundsätzlich gilt – so die Autorin – „vom Symptom, der biografischen Situation und den strukturellen und emotionalen Defiziten des Mädchens“ auszugehen – „was ein sehr individuelles Vorgehen erfordert – aber zugleich die Ressourcen nicht vergisst.“ (ebd.) Im Weiteren wird die Leserin über die Bedeutung der begleitenden Elternarbeit und Nebenübertragungen der Mutter, über das besondere Vorgehen der mentalisierungsbasierten Psychotherapie (MBT) ebenso informiert wie über die differenzierte psychotherapeutische Arbeit anhand der Struktur- und Konfliktachse im Sinne der OPD-KJ-2. Zudem wird noch einmal auf die Relevanz der Mentalisierung der Körpererfahrungen des Mädchens, einschließlich der Entwicklung seiner Weiblichkeit, die Nutzung der Fähigkeit von Mädchen zur „Symbolisierung, Spiel und Selbstreflexion“ (400) betont und unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Daniel Stern und der Boston Chance Process Study Group die Bedeutung von „Jetzt-Momenten“ und den notwendigen entwicklungsförderlichen Abstimmungsbedarfen zwischen Therapeutin und Patientin zur „Reparatur“ des Dialogs hervorgehoben.

Diskussion

Inge Seiffge-Krenkes umfangreiches Werk über die Psychoanalyse des Mädchens bietet einen profunden Einblick in die Entwicklung der psychoanalytischen Wissensbestände über Weiblichkeit sowie in aktuelle psychoanalytische und entwicklungspsychologische Forschungsbefunde und liefert darüber eine, bisher tatsächlich nicht vorliegende, vollständigere und umfassendere Sicht auf die innere (sexuelle) und intersubjektive Welt des Mädchens, ohne gesellschaftliche Einflüsse sowie soziokulturelle Gegebenheiten aus dem Blick zu verlieren. Bereits die meines Erachtens gelungene Gliederung ihres Bandes macht die Leserin neugierig auf das von ihr kreativ angebotene Spektrum in den jeweiligen Entwicklungsphasen und Lebensthemen von Mädchen als eigenständigem Subjekt und – ihr Wissen wird durch die präzisen Ausführungen zu diversen Theorien und empirischen Befunden enorm bereichert.

Durch die detaillierten fachlich einschlägigen theoretischen und empirischen Kenntnisse von Seiffge-Krenke und ihrem gekonnt didaktischen Geschick gelingt der Autorin der mutig gewagte Spagat zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie, aber auch Epigenetik und Neurobiologie und beweist damit das konstruktive Potenzial eines Dialogs zwischen den Disziplinen. Indem die Verfasserin die grundlegenden drei Dimensionen der Psychoanalyse, das Somatische, das Soziale und das dynamische Unbewusste konsequent im Blick behält, kann sie durch ihre Materialfülle zahlreiche bisherigen Leer- und Blindstellen über Mädchen bezüglich ihrer Beziehungen, Wahrnehmungen, Gefühle und unbewusste Prozesse einschließlich klinisch relevanter psychischer Fehlentwicklungen vervollständigen und korrigieren. Und auch wenn Seiffge-Krenke, indem sie über Mädchen und Weiblichkeit schreibt, nicht verhindern kann Macht auszuüben, da sie durch ihre Ausführungen unweigerlich Bilder in der Leserin erzeugt, so gelingt es ihr immer wieder, die Gefahr vorschneller Verabsolutierungen zu bändigen.

Fazit

Wenngleich sich die vorliegende detaillierte Anthologie von Inge Seiffge-Krenke vor allem an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten richtet und ein „Muss“ für alle Akteur_innen ist, die in klinischer und beraterischer Praxis mit Mädchen arbeiten, so imponiert das Buch durch seinen umfangreichen Forschungsüberblick über die innere (sexuelle) und intersubjektive Welt von Mädchen, und ist daher ebenso dank einer prägnanten, gut verständlichen Sprache und ihren zahlreichen Fallsequenzen für soziologisch, (sozial)pädagogisch, medizinisch wie psychoanalytisch interessierte Leser_innen eine theoretische Fundgrube.

Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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Zitiervorschlag
Margret Dörr. Rezension vom 05.02.2018 zu: Inge Seiffge-Krenke: Die Psychoanalyse des Mädchens. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2017. ISBN 978-3-608-94952-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23069.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.


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