Christine Trültzsch-Wijnen (Hrsg.): Medienpädagogik. Eine Standortbestimmung
Rezensiert von Prof. Dr. Anna Zembala, 07.02.2018

Christine Trültzsch-Wijnen (Hrsg.): Medienpädagogik. Eine Standortbestimmung. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2017. 209 Seiten. ISBN 978-3-8487-3638-6. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Thema
Die Veröffentlichung „Medienpädagogik. Eine Standortbestimmung. erscheint 2017 als erster Band der neuen Schriftenreihe Medienpädagogik| Media Education“ im Verlag Nomos (www.nomos-shop.de). Die Herausgeberinnen der Nomosreihe, Prof. Dr. Anja Hartung-Griemberg und Prof. Dr. Christine Trültzsch-Wijnen, möchten somit ein neues Vorhaben etablieren, mit dem sie Theorie, Empirie und Praxis medienpädagogischer Themen aufgreifen und diese im multidisziplinären Kontext darstellen. Demnach sollen Fragen breit verstandener Mediensozialisation, Medienbildung und Medienerziehung in ihrer theoretischen Fundierung sowie in ihrer starken Relevanz und Konsequenz hinsichtlich medienpädagogischen Handelns aufgegriffen werden. So eröffnet die Buchreihe eine Diskussion über den aktuellen Status quo der Medienpädagogik.
Dazu haben Trültzsch-Wijnen und Hartung-Griemberg namhafte Autorinnen und Autoren eingeladen, Einblicke in die aktuellen medienpädagogischen Fragestellungen, Projekte und Konzepte zu geben. Dieser erste medienpädagogische Nomosband ist zugleich die Dokumentation zweier Tagungen: Der Jahrestagung der Fachgruppe Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) und der Fachtagung anlässlich des 60. Geburtstags des Instituts für Medienbildung in Salzburg, die im April 2016 in Burg Mauterndorf (Salzburg, Österreich) stattfanden.
Herausgeberin
Prof. Dr. Christine Trültzsch-Wijnen widmet sich an der Pädagogischen Hochschule Salzburg der medienpädagogischen Grundlagenforschung sowie der angewandten medienpädagogischen Forschung. Des Weiteren leitet sie das Centre of Competences Medienpädagogik und E-Learning sowie das Education Innovation Studio (EIS) für Robotik, kindgerechte Programmierumgebungen und digitale Technologien (www.phsalzburg.at/). Jahrelang war sie darüber hinaus Sprecherin derFachgruppe Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK).
Entstehungshintergrund
Die Fachzeitschrift „medien + erziehung“ veröffentlichte im Jahre 1976 eine Vielzahl von zeitgenössischen Meinungen zur Frage „‚Medienpädagogik‘ – was ist das?“. Angesicht der digitalen und medialen Entwicklungen ist es heute berechtig und spannend zu fragen: Was hat sich in den letzten 50 Jahren geändert? Wie wird die Medienpädagogik heute definiert? Vor diesem Hintergrund sollte die Definition der Medienkompetenz, die Dieter Baacke 1996 vorschlug, ebenfalls kritisch hinterfragt werden. Neben den theoretischen Diskursen des deutschsprachigen Raums standen zugleich auch die internationalen Diskurse, die das Recht auf Medienerziehung zum Thema machen, Pate für die Veröffentlichung von „Medienpädagogik. Eine Standortbestimmung“.
Aufbau und Inhalt
Mit zwölf Beiträgen, einer umfangreichen Einführung mit Darlegung des Erscheinungshintergrunds und einer Vorstellung aller Autorinnen und Autoren wird der heutige Stand der Dinge in der Medienpädagogik wiedergegeben. Hier kommen sowohl anerkannte Forscher und Wissenschaftler, junge Akademiker, als auch Beteiligte aktueller politischer und gesellschaftlicher Initiativen zum Wort, sodass ein umfangreiches, vielfältiges und multiperspektivisches Bild wiedergegeben wird. Der Band besteht aus den Beiträgen von Sandra Aßmann, Alessandro Barberi, Patrick Bettinger, Niels Brüggen, Valentin Dander, Harald Gapski, Nina Grünberger, Franziska Linke, Ingrid Paus-Hasebrink, Manuela Pietraß, Anu Pöyskö, Wolfgang B. Ruge, Gerda Sieben, Daniel Süss, Angela Tillmann, Christine Trültzsch-Wijnen, Ralf Volbrecht und Isabel Zorn.
Ingrid Paus-Hasebrink weisst in ihrem Beitrag („Plädoyer für eine praxeologisch-milieuorientierte Perspektive der Medienpädagogik“, S. 25-37) drauf hin, dass vor 15 Jahren schon einmal ein wissenschaftlicher Austausch über die Themen der Medienpädagogik und der Kommunikationswissenschaft (Paus-Hasebrink, Ingrid/ Lampert, Claudia/ Süss, Daniel (Hrsg.) (2002): Medienpädagogik in der Kommunikationswissenschaft. Positionen, Perspektiven, Potenziale. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.) erfolgte. Jetzt sei in der Tat die Zeit gekommen, die damaligen Positionen im Kontext eingetretener gesellschaftlicher Veränderung zu überprüfen. Zu den Kernaufgaben zählt weiterhin, die Förderung kommunikativer Kompetenzen und Partizipation, so wie Dieter Baacke diese formulierte. Paus-Hasebrink schlägt vor, den Blick um die lebensweltlichen Hintergründe von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zu erweitern. „Eine derartig ausgerichtete, lebensweltorientierte Medienpädagogik muss ihre Aufmerksamkeit daher stets auf die sozio-strukturellen Bedingungen von Leben richten, die sich in spezifischen sozialen Milieus niederschlagen, und einen offenen Blick dafür haben, wie sich kommunikative Kompetenz im Rahmen von lebenslangen Sozialisationsprozessen entwickelt bzw. entwicklen kann.“ (S. 30-31). Diesem Ansatz folgend fordert die Autorin die Medienpädagogik auf, evidenzbasierte und milieubezogene Praxiskonzepte zur Stärkung der Medienkompetenzen herauszuarbeiten. Dabei sollten die Handlungsoptionen, Handlungsentwürfe und Handlungskompetenzen von Menschen berücksichtig werden. Auf diesem Wege könne die Medienpädagogik dazu beitragen, Antworten auf die Frage zu geben, wie Menschen ihrem Leben Sinn verleihen.
Daniel Süss stellt in seinem Diskussionsbeitrag („Medienpädagogik – Trends und Herausforderungen aus Sicht der Positiven Psychologie“, S. 39-51) aktuelle Herausforderungen vor. Der Autor findet Antworten auf diese in der Positiven Psychologie, wie sie Martin Seligman konzipiert: „Life Domain Balance in einer Mediengesellschaft ist ein Rahmenkonzept für Medienkompetenzförderung und psychologische Lebensberatung. Dabei sollte der Blick im Sinne der Positiven Psychologie auf die Voraussetzungen des Gelingens gelegt werden“ (S. 49).
Als Herausforderungen macht Süss sieben Kategorien aus, denen mit der Positiven Psychologie begegnet werden könne.
- Erstens sei inzwischen die sogenannte Digital Natives Generation erwachsen und stehe selbst vor neuen Problemen, wie sie z.B. ihre Kinder erziehen möchte.
- Zweitens würden die digitalen medialen Möglichkeiten für die heutigen Senioren immer attraktiver und sie erobern die neuen Welten.
- Drittens sei auf die zunehmende Professionalisierung der Medienpädagogik als eine Lehr- und Fachdisziplin zu verweisen.
- Viertens etablierten sich die medienpädagogischen Themen in benachbarten Fachdisziplinen, wenn z.B. die Germanistik die Medienkompetenz von Kindern zu ihrem eigenen Forschungsschwerpunkt hebe.
- Fünftens seien heute aufgrund zahlreicher Studien die Chancen und Risiken der Nutzung digitaler Medien bekannt, was einen „differenzierten Blick auf die personalen und situativen Variablen“ im Umgang mit Medien (S. 47) erlaube.
- Sechstens veranschauliche das Problem mit Big Data, dass mit Selftracking als Lebensstil den Medienkompetenzen eine besondere Bedeutung zukomme.
- Siebtens bleibe der Umgang mit der ständigen Erreichbarkeit sowohl in der Familie, im Freundeskreis, in Arbeitsteams oder ganzen Arbeitswelten weiterhin ungeregelt.
In dem Artikel von Ralf Vollbrecht („Identitas fragilis – Über die Identität der Medienpädagogik als Disziplin“, S. 53-70) findet man neben der vertiefenden Einführung in die Geschichte der Konzepte der Medienpädagogik einen breiten Überblick der aktuellen Bezüge der Medienpädagogik zum E-Learning, zum IT-Unterricht sowie zur digitalen Bildung. Der Autor verweist auf die Gefahren der Marginalisierung der Disziplin, als auch einer Aushöhlung ihres zentralen Begriffs, der Medienkompetenz.
Unter dem Titel „Von der disziplinären »Zweiteilung« zur interdisziplinären Einheit der Medienpädagogik“ (S. 71 -85) setzt sich Manuela Pietraß mit einer „Zweiteilung“ der Medienpädagogik kritisch auseinander. Die zwei Perspektiven medienpädagogischer Betrachtung – einerseits basierend auf ihrem kommunikationswissenschaftlichen und andererseits auf ihrem erziehungswissenschaftlichen Hintergrund – sollten zu einer interdisziplinären, integrativen Sichtweise geführt werden. Die Vermittlungsbeziehungen im Dreieck Medien-Rezipient-Welt sollen dafür eine geeignete theoretische Grundlage bieten.
Patrick Bettinger („Medienpädagogik: Ein Kampfsport? Diskursive Positionierungen als Antworten auf die Frage nach dem disziplinären Selbstverständnis“, S. 87 - 102) fokussiert sich auf drei Beispiele.
- Erstens führt er vor, wie anhand der Diskurse um das Definieren von Begriffen – Medienkompetenz und Medienbildung – die Bedeutung der Bergriffe für die Disziplin essenziell wird und zugleich aber auch Machtverhältnisse und Positionierungskämpfe in der Science Community ausgetragen werden.
- Zweitens wird auf die Multidisziplinarität der Medienpädagogik hingewissen, da markante Überschneidungen in der Auseinandersetzung mit den Themen der Mediatisierung und Mediensozialisation in unterschiedlichen wissenschaftlichen Beiträgen zu finden seien.
- Drittens werde anhand der Initiative Keine Bildung ohne Medien (KBoM) deutlich, dass öffentliche und politische Diskurse Medienpädagogik stark betreffen. Bettinger zeigt auf, wie eine konstitutive Kraft entfalten werden könne, die Medienpädagogik als wissenschaftliche Disziplin weiterzuentwickeln.
Bettinger zeigt auf, wie eine konstitutive Kraft entfalten werden könne, die Medienpädagogik als wissenschaftliche Disziplin weiterzuentwickeln.
Im Anschluss überlegen Nina Grünberger („Medienpädagogik?! Ein Suchen nach einer kontemporären Disziplin“ S. 103 - 114) Wolfgang B. Ruge („Keine Disziplin in Schlumpfhausen. Anmerkungen zu einer Wissenschaftstheorie der Medienpädagogik“, S. 115- 128) und Franziska Linke („Medienpädagogik als erziehungswissenschaftliche Querschnittsaufgabe: Zur Bedeutung medienpädagogischer Professionalisierung für die Erwachsenenbildung“, S. 129 - 142), womit die Besonderheiten der Disziplin zu begründen wären. Für Nina Grünberger sei es vordergründig die Interdisziplinarität der Medienpädagogik, die einerseits im Kontext ihrer Bezüge zur Allgemeinen Pädagogik und andererseits infolge der Komplexität ihres facheigenen Forschungsfelds, der Medialität, zustande komme. Für Wolfgang B. Ruge sei es primär die Notwendigkeit eines fortlaufenden wissenschaftlichen Diskurses um ein Selbstbild der Medienpädagogik. Lediglich auf diesem Wege könne sie sich als Disziplin ihren eigenen internen inkonsistenten, divergenten und zum Teil auch konträren theoretischen Ansätzen stellen, sowie die unterschiedlichen Bestrebungen aus der Praxis und Politik abwenden, die medienpädagogischen Themen vorzugeben. Das ständige Hinterfragen eigener Tätigkeitsfelder, erarbeiteter Begriffe oder des wissenschaftlichen Habitus würden sich als hilfreiches Steuerungs- und Orientierungswissen erweisen. Auf dem Beispiel der Erwachsenenbildung verdeutlich Franziska Linke, dass die Medienpädagogik ausschließlich aus dem Verständnis um das erziehungswissenschaftliche Querschnittsthema und die erziehungswissenschaftliche Querschnittsaufgabe zu denken sei. Dies spiegele sich sowohl in den Fragestellungen um die Teilnehmer und Programme der Erwachsenenbildung, als auch um die Professionalisierung der angehenden Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildner selbst.
Die zwei darauffolgenden Beiträge von Alessandro Barberi („Von Kompetenz, Medien und Medienkompetenz. Dieter Baackes interdisziplinäre Diskursbegründung der Medienpädagogik als Subdisziplin einer sozialwissenschaftlich orientierten Kommunikationswissenschaft“, S. 143-162)und Christine W. Trültzsch-Wijnen („Über das Primat der (Medien-)Kompetenz“ S. 163- 182) widmen sich der Problematik der Medienkompetenz nach Dieter Baacke. Während Barberi die Inter- und Transdisziplinarität des Fachs auf die persönlichen, geschichtlichen und theoretischen Hintergründe der Entstehung des Begriffs legt, verortet Trültzsch-Wijnen die theoretische Fundierung des Begriffs in den sprachphilosophischen Diskursen der 1970er Jahre. Außerdem setzt sich die Autorin mit der Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz auseinander, um auf den medialen Habitus hinzuweisen und somit auf eine sozial gerechte Medienpädagogik.
Die abschließenden zwei Beiträge thematisieren aktuelle Entwicklungen und die durch technische, gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen entstandene Herausforderungen medienpädagogischer Handlungen. Sandra Aßmann et al. („Digitale Datenerhebung und -verwertung als Herausforderung für Medienbildung und Gesellschaft. Ein medienpädagogisches Diskussionspapier zu Big Data und Data Analytics“, S. 183- 192) stellt die Bemühungen der GMK (Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikation) und der KBoM (Initiative Keine Bildung ohne Medien) vor. Den Herausforderungen, die mit Big Data einhergehen, werden hier konkrete medienpädagogische Maßnahmen entgegengehaltenen, die demnach zugleich neustrukturierte Schlüsselfunktionen und Aufgabenfelder der Fachdisziplin bestimmen.
Der Einblick in eine enge Verzahnung der wissenschaftlichen Diskurse mit bildungspolitischem Handeln wird von Anu Pöyskö („Medienbildung in Bildungsdiskursen – zentral und marginal zugleich. Die österreichische Vernetzungsinitiative Medienbildung JETZT! zieht Bilanz“, S. 193-204) fortgeführt, indem die in Österreich ins Leben gerufene Initiative Medienbildung JETZT! vorgestellt wird.
Fazit
Dank der Vielfalt der Beiträge findet man einen umfassenderen Überblick über die aktuellen Themen der Fachdisziplin. Insbesondere geben die geschichtlich fundierten Beiträge eine Garantie für das Eintauchen in die durchgeführten wissenschaftlichen Diskurse, die noch bis heute die Science Community prägen. Schaut man auf die Regelmässigkeit in der Entwicklung der theoretischen Ansätze der Medienpädagogik, ist in der Tat die Zeit gekommen, neue Ansätze zu etablieren. Die Beiträge über den medialen Habitus, Medienmilieus und ein sozial gerechtes Handeln, können hierfür richtungsweisend sein.
Eine Lektüre des Buches ist aufgrund dieser Überlegungen absolut empfehlenswert. Darüber hinaus wird man mit Beschreibungen kleinerer persönlicher Ereignisse, die der Jubiläumsschrift eine sympathische offene Note verleihen, belohnt. Nach diesem ersten Band ist es noch zu früh die Entwicklung der Schriftenreihe zu prognostizieren. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass der neue Nomosband bahnbrechende Spuren hinterlässt und der Medienpädagogik neue, nachhaltige Impulse zur Weiterentwicklung gibt. Den Grundstein hierfür setzt das vorliegende Werk.
Rezension von
Prof. Dr. Anna Zembala
Kultur- und Medienpädagogin sowie Professorin an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) in Köln
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