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Manfred Liebel: Postkoloniale Kindheiten

Rezensiert von Agata Skalska, 06.11.2017

Cover Manfred Liebel: Postkoloniale Kindheiten ISBN 978-3-7799-3654-1

Manfred Liebel: Postkoloniale Kindheiten. Zwischen Ausgrenzung und Widerstand. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 280 Seiten. ISBN 978-3-7799-3654-1. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Das Buch „Postkoloniale Kindheiten. Zwischen Ausgrenzung und Widerstand“ schließt an die derzeitig hochaktuelle Diskussion um postkoloniale Phänomene an. Der Fokus liegt hier auf dem Begriff der „Kindheit“ aus postkolonialer Perspektive und vereint diesen mit dem Bild vom Kind und den Vorstellungen von Kindheit.

Während in der heutigen Pädagogik im deutschsprachigen Raum ein Bild vom Kind vorherrscht, dass das Kind als kompetenten Interaktionspartner und Konstrukteur seiner Selbst und seiner Entwicklung betrachtet, fokussiert sich Liebel auf die Kindheit als Konstrukt von Erwachsenen, in das unter anderem Theorien von Entwicklung, gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen sowie seine eigene Erfahrungen eingehen.

Autor

Manfred Liebel, ehemals Professor für Soziologie an verschiedenen Universitäten in Deutschland, setzt seine thematischen Schwerpunkte auf Kinder- und Kinderkulturen, Kindheit und Gesellschaft sowie Kinderrechte. Weiterhin ist er maßgeblich an der Gründung des Masterstudienganges „European Master in Childhood Studies and Children´s Right“ an der Freien Universität Berlin sowie an der Fachhochschule Potsdam beteiligt.

Seine Arbeitsschwerpunkte bearbeitet Liebelnicht nur theoretisch, sondern hat durch zahlreiche Studien langjährige Erfahrungen im konkreten Feld, insbesondere in Lateinamerika und Afrika.

Entstehungshintergrund

Das vorliegende Buch ist aus der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Postkolonialismus, den Kinderrechten und insbesondere aus den Studien mit Kindern in diversen Ländern hervorgegangen. Durch die Nähe zu den Kindern und der Möglichkeit sich intensiv mit ihrem Handeln zu beschäftigen, ist Liebelzu der Einsicht gekommen, das bisherig westlich geprägte Bild von Kind und Kindheit revidieren zu müssen.

Aufbau

Liebelteilt sein Buch in zwei Teile auf.

Im ersten Teil führt er in fünf Kapiteln die „Wege zum Verständnis postkolonialer Kindheiten“ aus. Hier führt er die Debatten in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung aus und geht insbesondere darauf ein, ob von einer oder vielen Kindheiten gesprochen werden kann und muss. Dieser Teil enthält folgende Kapitel:

  • Kindheiten und postkoloniale Perspektive
  • Gordian Troeller und die Filmserie „Kinder der Welt“
  • Wider den Eurozentrismus in der Kindheits- und Jugendforschung
  • Kolonialismus und die Kolonisierung von Kindheit
  • Postkoloniale Theorien aus dem Globalen Süden

Im zweiten Teil des Buches werden die zuvor erarbeiteten Inhalte an konkreten Beispielen erörtert. Die fünf Kapitel dieses Teils lauten:

  • Koloniale und postkoloniale Staatsgewalt gegen Kinder. Fallstudien zum Britischen Empire, Australien und Israel
  • Lateinamerikanische Kindheiten. Rassistische „Zivilisierung“ und „soziale Säuberung“
  • Afrikanische Kindheiten und Fallstricke postkoloniale Bildungs- und Kindheitspolitik
  • Inszenierung postkolonialen Wohlwollens. Kinderpatenschaften, Spendenwerbung, Freiwilligentourismus
  • Postkoloniale Dilemmata der Kinderrechte

Abschließend wird ein Ausblick unter dem Titel „Kindheiten und Kinderpolitik jenseits des postkolonialen Paternalismus“ gegeben.

Zum ersten Teil

Nach Liebel kann bei Kindern auf keine gemeinsamen Eigenschaften als Grundtatsache verwiesen werden (außer den Grundbedürfnissen). Demnach plädiert Liebel dafür, nicht von der Kindheit zu sprechen, sondern von verschiedenen Kindheiten. Selbst dann ist es zu bedenken, dass es sich um ein Abstraktum handelt, „welches individuell verschiedene Kinder unter einem einzigen Begriff zusammenfasst und abbildet“ (Liebel, 2017, S. 23). Es soll vermieden werden, mit dem Begriff der Kindheit die Vorstellung von einer sozialen Erscheinung, die an sich existiert, zu verbinden.

Weiterhin kritisiert Liebel die Abwertung der Kinder und ihrer Kompetenzen gegenüber der Erwachsenen aufgrund ihres Alters und Mangel an Erfahrung. Ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht wird Kindern im eurozentrischen Kindheitsmuster nur dann zugestanden, wenn es sich um Tätigkeiten handelt, die als zweckfrei gewertet werden, keineswegs aber für die Gestaltung der Gesellschaft relevant sind, sodass die Tätigkeitsräume von Kindern strikt von denen der Erwachsenen einhergehen. Liebel belegt mit dem UNICEF Bericht von 2006, dass nach dem „westlichen“ Kindheitskonzept gerade diese strikte Trennung ein Qualitätsmerkmal einer „guten“ Kindheit sei.

Der Schutz des Kindes davor, die Rolle des Erwachsenen übernehmen zu müssen, hat zur Folge, dass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen manifestiert wird, in dem kein Raum für Lebensformen gelassen wird, in denen eine „selbst gewählte Übernahme von Aufgaben im Sinne geteilter Verantwortung oder gegenseitiger Unterstützung“ (Liebel, 2017, S. 27) möglich ist.

Hier stellt Liebel die These auf, dass das westliche Bild einer unselbstständigen und rundum versorgten Kindheit als Maßstab für die Bewertung von Kindheiten in anderen Orten der Welt eine paternalistische und kolonisierende Funktion habe. Arbeitende Kinder seien demnach nicht per se unterdrückt. Im Gegenteil führe die Segregation von Kindern zu einer Unterdrückung und Missachtung ihrer Kompetenzen (Liebel, 2017, S. 27).

Die im zweiten Kapitel aufgeführten Filme von Troeller, die die unterschiedlichen Kindheiten aus aller Welt darstellen, dienen dazu, den LeserInnen zu verdeutlichen, dass Kinder selbst unter bedrohlichen Bedingungen in der Lage sind, ihre Kräfte zu mobilisieren und kompetent an Veränderungsprozessen mitzuwirken. Die Filme stellen dar, wie anderen Völkern und Kulturen die westliche Kindheitsideologie aufgedrängt wird. Damit wird das nächste Kapitel eingeläutet, womit der Eurozentrismus innerhalb der Kinder- und Jugendforschung entlarvt und kritisiert wird.

Im vierten Kapitel stellt Liebel Zusammenhänge zwischen der Entstehung des europäisch-bürgerlichen Kindheitsmusters und der Entstehung von Kolonialisierung fremder Erdteile dar.

Neben des zeitlichen Zusammentreffens der Entstehung des philosophischen Konzepts des Kindes und der Entstehung von „Rasse“ als Kategorie erläutert Liebel weitere Parallelen. Er sieht im Kolonialismus einen Erziehungskolonialismus, „der mit dem Anspruch daherkam, die Kolonialisierten von Tyrannei und geistiger Finsternis zu befreien“ (Liebel, 2017, S. 103). Der Vergleich zwischen den Kolonialmächten und den Kolonisierten auf der einen Seite und den Erwachsenen und den Kindern anderseits wird in diesem Kapitel weiter erörtert und ausdifferenziert.

Im fünften Kapitel geht Liebel auf die postkolonialen Theorien und ihre Grundgedanken ein. Er nimmt Bezug auf den Begriff der Macht und die Position der „Subalternen“ und beschreibt die afrikanischen sowie lateinamerikanischen Beiträge zur postkolonialen Theorie.

Zum zweiten Teil

Im zweiten Teil des Buches zeigt Liebel einige praktische Beispiele auf, in denen er den westlich geprägten Begriff von Kindheit aufdeckt und paternalistische sowie kolonialisierende Strukturen aufzeigt.

Im letzten Teil des Buches, dem Ausblick, führt Liebel in einigen Punkten aus, weswegen Kinder in der heutigen Welt paternalistisch kolonialisiert werden und weist darauf hin, dass sich weitere Forschungen anschließen sollten, um die Agency der Kinder noch näher in den Fokus zu rücken. Außerdem geht Liebel hier kurz auf die Frage ein, welche Anforderungen an die Politik gestellt werden müssen, um Kinder in ihrer sozialen Stellung zu stärken, ihre Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich gegen jede von ihnen empfundene Ungerechtigkeit zur Wehr setzen zu können.

Diskussion

Manfred Liebel stellt grundsätzlich den Begriff von Kindheit in Frage und kritisiert die westlich geprägte Kindheitsforschung mit dem kolonialen und paternalistischen Zugang, wodurch Kindern außerhalb des westlichen Raums diese bestimmte Kindheitsideologie aufgezwungen wird. Er kritisiert, dass die Qualität von Kindheit an eben dieser Kindheitsideologie gemessen und bewertet wird.

Er macht deutlich, dass Kindern dann eine Außenseiterrolle bescheinigt wird, wenn sie nicht die nötige Rücksicht und den Schutz erfahren, die sie aufgrund ihrer alterstypischen Bedürftigkeit benötigen. Dem gegenüber stellt er die Auffassung, dass Kinder dann ausgeschlossen sind, wenn sie nur als sich entwickelnde Wesen definiert werden, die erst als Erwachsene Anerkennung finden, woraus resultiert, dass ihnen erst als Erwachsene Partizipationsrechte zugestanden werden.

Liebel kritisiert, dass gerade dort, wo Kinder sich aktiv und handelnd in die Gesellschaft einbringen und verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen, ihnen eine Außenseiterrolle bescheinigt wird und sie gerettet werden müssten.

Kinder als kompetente Wesen und Interaktionspartner zu sehen, ist kein neuer Gedanke innerhalb der Kindheitsforschung. Diesen Gedanken aber so konsequent weiterzudenken, dass bspw. „Kinderarbeit“ nicht unbedingt negativ bewertet werden muss, sondern ein Ausdruck von eben dieser Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein sein kann, entspricht kaum der Auffassung der mainstream Kindheitsforschung.

Diese Kritik zieht sich unterschiedlich stark durch das ganze Buch hindurch und kann überwiegend nachvollzogen werden. Sie konkretisiert sich an den Beispielen im zweiten Teil des Buches.

Interessant sind hier die Parallelen zu der Radikalität der Gedanken des polnisch-jüdischen Pädagogen Janusz Korczak, der den Autor hier inspiriert zu haben scheint.

Auch Korczak betont, dass Kinder zwar weniger Erfahrungen haben, aber dadurch nicht weniger wert sind. Außerdem hebt er hervor, dass Kinder schon Menschen sind und nicht erst zu diesen erzogen werden müssen, um geachtet zu werden. Eine Diskriminierung von Kindern aufgrund des Alters lehnen beide strikt ab, sehen aber, dass Kinder fast durchgehend dieser ausgesetzt sind.

Fazit

Manfred Liebel diskutiert in diesem Buch den Begriff der Kindheit und wehrt sich gegen die Anerkennung einer globalen und einheitlichen Kindheit. Es kann höchstens von vielfältigen Kindheiten gesprochen werden. Er verdeutlicht den postkolonialen Aspekt des westlich geprägten Kindheitsbegriffs und zieht Parallelen vom Kolonialismus zur Kindheitsforschung.

Der kolonialistische und paternalistische Zugang der Kindheitsforschung wird ausführlich diskutiert und an Beispielen verdeutlicht.

Gerade weil diese Thesen nicht in den allgemeinen Abhandlungen zum Kolonialismus und der Kindheitsforschung Eingang gefunden haben, überraschen sie die/den LeserIn zunehmend und entlarven die eigene Sichtweise.

Daher ist dieses Buch unbedingt zu empfehlen und sollte zumindest in Teilen eine Pflichtlektüre im Wissenschaftsraum darstellen. Insbesondere für KindheitsforscherInnen oder (Kindheits-)pädagogInnen bietet dieses Buch viele neue Blickwinkel auf den Begriff der Kindheit.

Rezension von
Agata Skalska
Kindheitspädagogik M. A. wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin an der Hochschule Düsseldorf.
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Es gibt 4 Rezensionen von Agata Skalska.

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Zitiervorschlag
Agata Skalska. Rezension vom 06.11.2017 zu: Manfred Liebel: Postkoloniale Kindheiten. Zwischen Ausgrenzung und Widerstand. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. ISBN 978-3-7799-3654-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23078.php, Datum des Zugriffs 02.04.2023.


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