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Albert Lenz, Silke Wiegand-Grefe: Kinder psychisch kranker Eltern

Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 10.10.2018

Cover Albert Lenz, Silke Wiegand-Grefe: Kinder psychisch kranker Eltern ISBN 978-3-8017-2589-1

Albert Lenz, Silke Wiegand-Grefe: Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2017. 170 Seiten. ISBN 978-3-8017-2589-1. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 32,50 sFr.
Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Band 23.

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Thema

Ausgehend von Prävalenzstudien und Forschungsergebnissen zu Belastungsfaktoren beschreibt das Buch die Schwerpunkte und Besonderheiten des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens bei Kindern psychisch erkrankter Eltern. In 13 Leitlinien werden die diagnostischen Schritte und die möglichen Interventionen konkret und praxisnah beschrieben und mit Hinweisen auf Arbeitshilfen und eigenen Materialien untersetzt. Ein Fallbeispiel verdeutlicht die Umsetzung einiger im Buch enthaltener Leitlinien in der Praxis, zeigt aber zugleich auch die Schwierigkeiten in der Arbeit mit Familien auf, bei denen Belastungen auf unterschiedlichen Ebenen ineinandergreifen.

Zielgruppe

Das Buch wendet sich an Fachkräfte, die im Rahmen der Erwachsenenpsychiatrie, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder der Jugendhilfe mit Kindern aus psychisch belasteten Elternhäusern arbeiten. Es ist auch für Studierende geeignet

Autor und Autorin

Albert Lenz ist Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Paderborn und derzeit einer der aktivsten deutschen Forscher auf dem Gebiet „Kinder psychisch kranker Eltern“, allerdings im Übergang zum (Un-)Ruhestand

Silke Wiegand-Grefe ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der MSH Medical School Hamburg mit besonderer Expertise u.a. in den Bereichen Familienforschung und Familientherapie.

Aufbau

Das Buch umfasst nach der Einleitung fünf Kapitel:

  1. Stand der Forschung
  2. Leitlinien
  3. Verfahren zur Diagnostik und Interventionsprogramme
  4. Materialien
  5. Fallbeispiel

Am Ende findet sich ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

Rund ein Drittel aller stationär psychiatrischen Patienten sind – Schätzungen zu Folge – Eltern minderjähriger Kinder und etwa 175.000 Kinder machen im Verlauf eines Jahres die Erfahrung, dass ein Elternteil stationär psychiatrisch behandelt wird. Deutlich mehr Kinder – etwa 3 Millionen – erleben im Verlaufe eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung. Die Belastungen der Kinder wurden bereits häufig beschrieben und werden in dem vorliegenden Buch noch einmal – durch aktuelle Forschungsergebnisse untermauert – im Detail dargestellt. Hierbei gehen die AutorInnen insbesondere auf Risikofaktoren, krankheitsspezifische Besonderheiten und auf protektive Faktoren ein.

Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle die Risikofaktoren für Kindeswohlgefährdung. Bei den elterlichen Merkmalen betonen die AutorInnen

  • negative Emotionalität
  • Ängstlichkeit
  • Impulsivität und
  • geringe Bewältigungs- und Planungsfähigkeit,

bezüglich der Eltern-Kind-Interaktion

  • unangemessene Erwartungen
  • eingeschränktes Einfühlungsvermögen
  • Belastungserleben
  • feindselige Erklärungsmuster
  • Zustimmung zu harschen Bestrafungen und
  • mangelnde Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zurückzustellen.

Bei den kindlichen Merkmalen werden neben Alters- und Geschlechtsspezifischen Aspekten insbesondere Behinderungen, Regulations- und Verhaltensstörungen genannt und bezüglich der familiären Kontexte besondere Stressbelastungen, mangelnde soziale Unterstützung und Partnerschaftskonflikte und -gewalt.

An den Abschnitt zu protektiven Faktoren und Resilienz schließen sich Ausführungen zum besonderen situationsspezifischen Copingverhalten der Kinder an, hierbei wird aggressives Coping, kontrollierendes Coping und moderates Coping unterschieden. Beim familiären Coping verweisen die AutorInnen – in knapper Form – auf eine multizentrische Studie „Schizophrenie und Elternschaft“, bei der konstruktive und problematische Aspekte von emotions- und problembezogenen familiären Copingstrategien herausgearbeitet wurden und Bezüge zum „Expressed Emotions-Konzept“ hergestellt werden konnten.

Aus dem gesamten ersten Kapitel wird deutlich, welcher Bedarf an Diagnostik und Interventionsangeboten besteht und dass diese angesichts der vielschichtigen Problematik multimodal ausgelegt werden müssen:

So werden im 2. Kapitel die einzelnen Bausteine des multimodalen Vorgehens in Form von Leitlinien genau thematisiert:

  • L1 Exploration psychischer Störungen der Eltern
  • L2 Exploration der Auffälligkeiten jedes Kindes
  • L3 Exploration der Belastungen der Familie
  • L4 Exploration der Gefährdungen für Kinder
  • L5 Umgang mit Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung
  • L6 Ressourcenexploration des Kindes und der Familie
  • L7 Indikation und Interventionsplanung
  • L8 Besonderheiten im Säuglings- und Kleinkindalter
  • L9 kombinierte und aufeinander abgestimmte Interventionen
  • L10 Psychoedukation für Kinder (hier fehlen allerdings Kinder mit Behinderungen)
  • L11 begleitende Familientherapie
  • L12 Bindungsbezogene Interventionen
  • L13 Präventive familienorientierte Interventionen: Förderung von Bewältigungskompetenzen und familiärer Kommunikation und Aktivierung sozialer Ressourcen. Hier werden beispielsweise Krisenpläne thematisiert, Vorschläge für Patenschaften unterbreitet und Gruppenangebote angeregt.

In den folgenden beiden Kapiteln erhalten die Leser konkrete Hinweise für die Diagnostik und Skizzen mit weiterführender Literatur zu bereits etablierten Angeboten, wie z.B. das interaktionelle (videobasierte) Therapieprogramm für Mütter mit postpartalen Störungen, den gut evaluierten familienorientierten Beratungsansatz CHIMPS oder das AURYN Projekt aus Freiburg.

Diskussion

Die Leser erhalten Forschungsergebnisse und konkrete, gut ausgearbeitete Arbeitshilfen für die Diagnostik und Intervention mit Kindern aus psychisch belasteten Elternhäusern auf aktuellem Stand. Allerdings wird die Schere zwischen dem großen Bedarf an multimodalen Vorgehensweisen und der Zersplitterung und zahlenmäßigen Begrenztheit der Angebote nicht zentral thematisiert. Die Arbeitsgruppe im Auftrag des Bundestages zur Thematik bleibt unerwähnt, sodass offen bleibt, wann mit Ergebnissen bezüglich identifizierter Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern sowie förderlicher Rahmenbedingungen zu rechnen ist und welche konkreten Vorschläge dort erarbeitet werden. Dies ist vermutlich der Vorlaufzeit bei Buchpublikationen geschuldet. Auch wird der Widerspruch zwischen der Tatsache nicht thematisiert, dass bei psychiatrischen Mutter-Kind-Behandlungen die Kinder in der Regel als Begleitkinder aufgenommen werden und dass zugleich die (videobasierte) Unterstützung der Mutter-Kind-Interaktion ein ausgesprochen ressourcenintensives Vorgehen verlangt. Hier hätte ich mir konkretere Hinweise auf mögliche Kooperationen zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie gewünscht.

Unerwähnt bleiben die Etablierungschancen von Unterstützungsangeboten für Kinder psychisch kranker Eltern in Sozialpsychiatrischen Diensten, die beispielsweise im Oberspreewald-Lausitz Kreis seit vielen Jahren wahrgenommen wurden. Auch hätte der sich derzeit in der Jugendhilfe verbreitende marte meo Ansatz zur Unterstützung der Eltern-Kind-Interaktion Erwähnung finden können.

Die abschließende Fallgeschichte schildert einen Beratungsprozess mit zwölf Terminen in einer Sprechstunde für Familien mit psychisch kranken Eltern in einem Universitätsklinikum und macht deutlich, dass auch dort angesichts der Vielzahl der familiären Probleme nur einige Aspekte aufgegriffen werden können und insbesondere das Kleinkind und die behinderte Tochter weitgehend außen vor blieben, obgleich doch gerade Kleinkinder und behinderte Kinder eine besondere Risikogruppe für Kindeswohlgefährdungen darstellen und in der Familie über mehrere Generationen massive häusliche Gewalt aufgetreten ist. Hier fehlt die Kooperation mit der Jugendhilfe. Auch die katastrophale finanzielle Situation des drohenden Hausverlustes wird vornehmlich tiefenpsychologisch aufgegriffen, während konkrete Unterstützung durch Soziale Arbeit nicht thematisiert wird.

Der ein Jahr zuvor erschienene „Ratgeber Kinder psychisch kranker Eltern“ beider AutorInnen wurde bei socialnet rezensiert.

Fazit

Es handelt sich um ein aktuelles, wissenschaftlich fundiertes, zugleich praxistaugliches Arbeitsbuch für Fachkräfte, die mit Kindern psychisch kranker Eltern arbeiten. Damit die multimodalen Leitlinien Eingang in die Regelversorgung der Praxis finden, müssen noch dicke Bretter gebohrt werden.

Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 145 Rezensionen von Annemarie Jost.

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ISSN 2190-9245