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Benjamin Krasemann: Lernen aus biographischer Perspektive

Rezensiert von Erna Dosch, 23.03.2018

Cover Benjamin Krasemann: Lernen aus biographischer Perspektive ISBN 978-3-658-15584-1

Benjamin Krasemann: Lernen aus biographischer Perspektive. Untersuchung zu gemeinschaftlichen Wohnformen alter Menschen. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 365 Seiten. ISBN 978-3-658-15584-1. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 51,50 sFr.

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Thema

Das Buch setzt sich vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft mit den in der Öffentlichkeit immer stärker diskutierten selbstorganisierten gemeinschaftlichen Wohnformen älterer Menschen auseinander. Hierbei wird das gemeinschaftliche Wohnen als biographischer Lernprozess der Akteur_innen betrachtet, das eng mit biographischen Erfahrungen des bisherigen Lebensverlaufs verknüpft ist. Die qualitative Interviewstudie befasst sich insbesondere mit dem Konzept der Biographizität, das an der Kompetenz der Menschen zum eigenständigen Lernen in Wohnprojekten anknüpft.

Autor

Benjamin Krasemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel, Fachbereich Humanwissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fallarbeit in der Lehrer_innenbildung, biographische Zugänge im Kontext der Lehrer_innenbildung sowie Lebenslanges Lernen.

Aufbau

Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, beginnt mit der Einleitung und endet mit den Literaturangaben. Die nummerierten Kapitel enthalten Unterpunkte und haben folgende Bezeichnungen:

  1. Lebensplanung – auch im Alter(n)
  2. Selbstorganisierte gemeinschaftliche Wohnprojekte älterer Menschen als Lernumfeld
  3. Der figurationssoziologische Ansatz als weitere theoretische Grundlage der Arbeit
  4. Methodischer Rahmen und methodisches Vorgehen
  5. Typ I: Gelegenheitsstruktureller Anschluss Interview mit Gerda Mertens – „Ich wollte nicht pflegen, ich wollte leben“
  6. Typ II: Sinnstruktureller Anschluss Interview mit Norma Karst – „warum soll 'n alter Mensch plötzlich im Ghetto leben“
  7. Typ III: Ideologiestruktureller Anschluss Interview mit Helga Johns – „Also ich finde es nach wie vor richtig für mich“
  8. Zusammenfassung der Ergebnisse
  9. Fazit

Inhalt

Im ersten Kapitel „Lebensplanung auch im Alter(n)“ zeigt der Autor auf, dass gemeinschaftliche Wohnformen eine Alternative zur Lebensgestaltung und –bewältigung in der Lebensphase Alter bieten können. Im nachfolgenden Unterkapitel wird eine „Systematisierung gemeinschaftlicher Wohnformen“ u.a. anhand von zwei Entscheidungssituationen vorgenommen: durch Zwang aufgrund von Erkrankungen und durch Selbstbestimmung und Selbstorganisation zur Altersvorsorge, vorgenommen. Des Weiteren erfolgen weitere Systematisierungen, z.B. zu den Formalien und zur Ausgestaltung gemeinschaftlicher Wohnformen. Ebenfalls werden typische „Entwicklungsverläufe gemeinschaftlicher Wohnprojekte“ ausgeführt. Von Interesse ist, dass gemeinschaftliche Wohnprojekte weiblich konnotiert sind, da sie vorwiegend von Frauen gestaltet werden. Ferner zeigt der Autor „Soziologische Perspektiven in Bezug auf das gemeinschaftliche Wohnen“ auf, indem er Begriffe und Konzepte zu „Wohnen“, „Gruppe“, „gemeinschaftlichem Wohnen – sozialer Raum und Sozialform“ darlegt. Hieraus geht die Überlegung hervor, dass sich durch den individuellen biographischen Möglichkeitsraum und durch den sozialen Raum der Projektbiographie des gemeinschaftlichen Wohnens ein erweiterter biographischer Möglichkeitsraum abzeichnet. Ebenfalls greift der Autor das Thema „gemeinschaftliches Wohnen im ‚lernenden Projekt‘“ auf, indem er u.a. permanente Aushandlungsprozesse von Wohngemeinschaften in allen Projektphasen als Lernprozesse versteht.

Im zweiten Kapitel „Selbstorganisierte gemeinschaftliche Wohnprojekte älterer Menschen als Lernumfeld“ legt der Autor dar, dass Lernen eng mit den Biographien der Akteur_innen verknüpft ist und insbesondere Handlungs- und Gestaltungsrepertoire in Form von Verhaltensweisen und Orientierungen in Bezug auf gemeinschaftliches Wohnen beinhaltet. Im nachfolgenden Unterkapitel „von lebenslangem Lernen zu biographischem Lernen“ zeigt der Autor auf, dass Lebenslanges Lernen als biographisches Lernen zu betrachten ist und alle Lebensphasen – nicht nur Alter – umfasst. Hierzu gehören nicht nur formale Kontexte des Lernens, sondern auch non-formale und informelle. Lebenslanges Lernen wird dabei als zentrale Perspektive betrachtet, um den Herausforderungen der Moderne und der Biographie und den damit in Zusammenhang stehenden sich häufig ändernden Lebensumständen des „homo biographicus“ adäquat begegnen zu können. Des Weiteren knüpft er an den Ansatz des „biographischen Lernens“ an und stellt das Konzept der „Biographizität“ vor, das Lernen als elementaren Bestandteil der Biographie und Bildung betrachtet, in dem Menschen die Kompetenz zum eigenständigen Lernen mit einer spezifischen Handlungspraxis auch in Bezug auf Wohnformen besitzen. Ferner erfolgt die Erläuterung des Ansatzes „Communities of Practice – gemeinschaftliches Wohnen als Lernort“, der vor allem am Wissensmanagement in sozialen Gruppen anknüpft. Im Unterkapitel „Die biographische Perspektive der Akteure als Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung“ thematisiert der Autor u.a. „die Frage der biographischen Anschlussfähigkeit und Passung im Sinne des biographischen Lernens und des biographischen Möglichkeitsraums“ (S. 71).

Im dritten Kapitel dient „Der figurationssoziologische Ansatz“ nach Norbert Elias zur weiteren theoretischen Fundierung der Arbeit. In den Unterkapiteln „Menschen im Plural“, „Figuration“ und „Figurationen gemeinschaftlichen Wohnens“ werden Wohngruppen als Figurationen beschrieben, in denen die interdependente Verwobenheit zwischen Individuum und Gesellschaft aufgezeigt wird. Gemeinschaftliche Wohnprojekte sind u.a. Figurationen, deren Veränderungstendenzen fast nicht vorhersagbar oder verallgemeinerbar und einem ständigen Prozess unterworfen sind. Interdependenzen können u.a. als enge Grenzen im biographischen Möglichkeitsraum der Akteur_innen erfahren werden. Dabei steht insbesondere der biographische Lernprozess der „Ausbalancierung zwischen Figurationen“ im Zentrum des Interesses. Der Autor schlussfolgert, dass die Besonderheit der Figuration gemeinschaftlicher Wohnprojekte u.a. „in der Relation verschiedener Biographien – und dem Prozess einer interdependenten permanenten Veränderung der Gruppe“ (S. 83) liegt.

In Kapitel vier „Methodischer Rahmen und methodisches Vorgehen“ begründet der Autor vor dem Hintergrund des Konzeptes des Lebenslangen Lernens die Wahl einer qualitativen Strategie der Biographieforschung. Aus den Unterkapiteln geht hervor, dass die „Grounded Theory als Forschungsrahmen bzw. Forschungshaltung“ und „Das narrative Interview“ als Erhebungsmethode gewählt wurden. In der Auswertung werden die narrationsstrukturelle Analyse und Grounded Theory miteinander verknüpft. Des Weiteren werden in Unterkapiteln das „Codierparadigma“, die „Kategorisierung und Codierverlauf“, die „Typenbildung und Konfiguration der Ankerfälle“, die „Analyse von Kernstellen“ und „Die Interviews der vorliegenden Untersuchung und (die) methodische Notiz“ vorgestellt. Insgesamt besteht die Untersuchung aus sechzehn narrativen Interviews mit Personen zwischen 64 und 90 Jahren, die in gemeinschaftlichen Wohnprojekten leben. Die Interviewpartner_innen sind überwiegend weiblich, nur ein Interviewpartner ist männlichen Geschlechts.

Der Autor legt in den Kapiteln fünf bis sieben seine Vorgehensweise bei der Entwicklung einer Typologie dar, die aus drei Typen „spezifischer biographischer Anschlüsse gemeinschaftlichen Wohnens“ besteht. Die Kapitel sind jeweils in verschiedene Unterkapitel gegliedert, die jeweils ein „Biographisches Portrait“ und entsprechende „Kernstellenanalysen“ (mit einer jeweiligen Untergliederung in vier Kernstellen) enthalten. Anschließend erfolgt eine „Zusammenfassung der Interviews“ sowie eine „Dokumentierende Interpretation“ des jeweiligen Typs etc.:

  • Kapitel fünf beschreibt Typ I: „Gelegenheitsstruktureller Anschluss Interview mit Gerda Mertens – ‚Ich wollte nicht pflegen, ich wollte leben‘“
  • Kapitel sechs stellt Typ II dar: den „sinnstrukturellen Anschluss Interview mit Norma Karst – ‚warum soll'n alter Mensch plötzlich im Ghetto leben‘“
  • Kapitel sieben beschreibt Typ III „Ideologiestruktureller Anschluss Interview mit Helga Johns – ‚Also ich finde es nach wie vor richtig für mich‘“.

In Kapitel acht erfolgt eine „Zusammenfassung der Ergebnisse“, die eine komprimierte Darstellung der Typologie, ein Vergleich der Typen und theoretische Bezüge zu den bisher ausgeführten Konzepten mit verschiedenen Unterkapiteln auch mit Bezug zur Praxis der Erwachsenenbildung enthält. Aus der Untersuchung resultieren folgende Typen, die „drei spezifische biographische Anschlüsse gemeinschaftlichen Wohnens“ mit entsprechenden biographischen Logiken aufweisen:

  • Typ I, „gelegenheitsstruktureller Anschluss“, zieht den Übergang in eine gemeinschaftliche Wohnform aus Altersgründen in Betracht. Die Einschätzung richtet sich „zweckrational an der Nützlichkeit“ aus. Dieser Typ ist durch ein „funktionales Regulativ“ gekennzeichnet und zeigt im Vergleich zu den anderen Typen eine größere Tendenz zur Individualität innerhalb der Gemeinschaft des Wohnprojekts.
  • Typ II „sinnstruktureller Anschluss“, wählt diese Wohnform ebenfalls aus Altersgründen, aber „aus einem vorhandenen Sinn für Gemeinschaftlichkeit“ heraus, der in der bisherigen Biographie von Relevanz war und zum Teil auch realisiert wurde. Hier stehen sowohl die Gemeinschaft als auch die gemeinsame Problembearbeitung im Vordergrund und es liegt eher ein „emotionales Regulativ“ zugrunde. Die verschiedenen Facetten der „Gemeinschaft“ resultieren aus Lern- und Bildungsprozessen der bisherigen Biographie.
  • Typ III zeichnet sich durch den „ideologiestrukturellen Anschluss“ aus, der gemeinschaftliches Wohnen ebenfalls aus Altersgründen als eine Idee betrachtet, nach der Gemeinschaftlichkeit als eine erstrebenswerte Lebensform anzusehen ist. Bei diesem Typ liegt ein „weltanschauliches Regulativ“ vor, indem gemeinschaftliches Wohnen generell als „richtige Lebensform“ betrachtet wird.

In einer vergleichenden Analyse der Typen Stellt der Autor mittels eines entwickelten Konzepts „die Verortung der Typen im figurativen Raum gemeinschaftlichen Wohnens“ (S. 316) dar. Hier zeigt sich mittels des Konzeptes der Biographizität, dass biographisches Lernen ein Prozess ist, der insbesondere mit der „Herstellung biographischer Anschlussfähigkeit verbunden ist“ (ebd.). Die entwickelte Typologie dient zur Veranschaulichung, um das Herstellen von biographischen Anschlüssen „zwischen sich verändernden biographischen Möglichkeiten und den sich verändernden Wohnprojekten“ (S. 321) aufzuzeigen.

Der Autor stellt fest, dass selbstorganisierte Wohnprojekte vorwiegend von Frauen gestaltet werden und dass sie trotz Benachteiligungen im Lebensverlauf eine biographische Flexibilität besitzen, die sie dazu befähigt ihre Wünsche und Vorstellungen in Wohnprojekten zu leben.

Des Weiteren stellt der Autor einen Bezug zur Erwachsenenbildung her und spricht sich u.a. dafür aus, Akteur_innen von Wohnprojekten dabei zu unterstützen, sich ihren eigenen biographischen Handlungsressourcen gewahr zu werden und diese selbst zu entdecken.

Die Arbeit schließt mit einem Fazit in Kapitel neun.

Diskussion

Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und einer Gesellschaft des langen Lebens ist die Auseinandersetzung mit der Selbstgestaltung und aktiven Planung von Wohnprojekten ein zunehmend relevantes Thema. Hinzu kommen die durch die Pluralisierung geprägten unterschiedlichen Lebensstile, die eine Einbeziehung der Biographie in Bezug auf Lebenslanges Lernen und Diskontinuitäten zur Identitätsentwicklung der Individuen immer wichtiger werden lässt. Obgleich zahlreiche Ratgeberliteratur zum Thema gemeinschaftliches Wohnen existiert, fehlen Untersuchungen, die biographisches Lernen bzw. die Biographizität als grundsätzliche Kompetenz zum selbstständigen Lernen von Menschen in Wohnprojekten analysiert. Der Autor widmet sich dieser Thematik aus einer lerntheoretischen Sicht und gestaltet die theoretische Rahmung der Arbeit insbesondere mittels der Konzepte Biographizität, Figuration und Communities of Practice. Insgesamt ist die Arbeit in sich kongruent und schlüssig geschrieben und trägt hierdurch zu einer Erweiterung des Forschungsstandes insbesondere in Bezug auf das Konzept der Biographizität in gemeinschaftlichen Wohnprojekten bei.

Fazit

Das Buch liefert insgesamt eine soziologische Perspektive auf gemeinschaftliches Wohnen von selbstorganisierten Wohnprojekten als Lernumfeld. Das Ziel des Autors, auf welche Art und Weise Lernprozesse in selbstorganisierten Wohnformen von älteren Menschen aus biographischer Perspektive wahrgenommen und eingestuft werden, wird umgesetzt. Ebenfalls werden Hinweise für die Arbeit der Praxis der Erwachsenenbildung u.a. für eine biographieorientierte Wohnprojektbegleitung gegeben. Die fundierte Abhandlung zeigt wertvolle Ergebnisse und ist insbesondere für Dozierende und Studierende der Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Gerontologie, Alter(n)sforschung und Biographieforschung geeignet.

Rezension von
Erna Dosch
Dipl. Sozialgerontologin, Diplom- Sozialarbeiterin, exam. Gesundheits- und Krankenpflegerin, Forschungsschwerpunkte: Beratungs- und Biografiearbeit, Genderspezifische Aspekte im Gesundheits- und Sozialbereich
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Es gibt 2 Rezensionen von Erna Dosch.

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Zitiervorschlag
Erna Dosch. Rezension vom 23.03.2018 zu: Benjamin Krasemann: Lernen aus biographischer Perspektive. Untersuchung zu gemeinschaftlichen Wohnformen alter Menschen. Springer VS (Wiesbaden) 2017. ISBN 978-3-658-15584-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23084.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.


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