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Michael Kunczik: Medien und Gewalt

Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 25.09.2017

Cover Michael Kunczik: Medien und Gewalt ISBN 978-3-658-16542-0

Michael Kunczik: Medien und Gewalt. Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und der Theoriediskussion. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 50 Seiten. ISBN 978-3-658-16542-0. 9,99 EUR.

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Thema

Das vorliegende „Essential“ liefert einen historischen Überblick über die Medienwirkungsforschung bezogen auf fiktionale Gewaltdarstellungen in Film und Fernsehen und damit einhergehende Theoriebildung. Die gängigen Konzepte „mittlerer Reichweite“ (Suggestions-, Habitualisierungs-, Kultivierungs-, Erregungstransfer-, Stimulationsthese) werden knapp in ihren historischen Bezügen dargestellt.

Aufbau und Inhalt

Der Autor favorisiert eine differenzierte Lerntheorie (Lernen am Modell), unter Berücksichtigung der Medieninhalte, der Persönlichkeitseigenschaften der Rezipienten, ihrer sozialen Einbettung, sowie der situativen Bedingungen der Mediennutzung als Einflussfaktoren. Neuere Entwicklungen werden kritisch beurteilt: „Viele neuere Untersuchungen zur Mediengewalt basieren auf dem General Aggression Model (GAM), das Lerntheorie, Priming-, Skript-, Erregungstransfer- und Habitualisierungsansatz integriert. … Das GAM bedeutet im Vergleich zur Lerntheorie nur eine kompliziertere Sprache, aber keinen Erkenntnisfortschritt. Das GAM ist wohl eine wissenschaftliche ‚Mode‘.“ (26) Thesen, die medialer Gewalt generelle Wirkungslosigkeit oder gar eine positive aggressionsmindernde Wirkung unterstellen (Katharsis-These) werden unter Bezug auf Forschungsergebnisse zurückgewiesen.

Das differenzierte Credo der Ausführungen an mehreren Stellen des Bandes lautet: „Die meisten Konsumenten von Mediengewalt sind ungefährdet. … Einfache Ursache-Wirkungs-Schlüsse vom Gewaltinhalt auf gewaltsteigernde Wirkungen sind falsch. Allerdings gibt es in ihrer Größe nicht zu ignorierende Risikogruppen, bei denen negative Effekte eintreten.“ (42/43)

Die wissenschaftlichen Ausführungen knüpfen an Alltagstheorien an, erläutert wird z.B. der sogenannte „Third-Person-Effekt“ (Andere-Leute- Effekt), das Phänomen, dass (negative) Medienwirkung immer anderen (i.d.R. Jüngeren) zugeschrieben wird, während man sich selbst für nicht gefährdet hält. Die Forschungen zur Medienwirkung werden in ihrem Zustandekommen kritisch reflektiert (z.B. Fragen der Operationalisierung von Wirkungen in Experimenten, kausale Interpretation von empirisch ermittelten Zusammenhängen).

Dem Praxisbezug dient auch ein Kapitel zur Wirksamkeit medienpädagogischer Maßnahmen. Auf die Frage, ob Wissen vor Wirkung schützt, wird resümiert „dass das Wissen um den fiktiven Charakter von Mediengewalt nicht zur Verhinderung negativer Wirkungen ausreicht. Erfolgreich sind dagegen kritische Kommentare. Allerdings reduzieren Hinweise auf den fiktiven Charakter von Gewalt das Auftreten medieninduzierter Angst.“ (37) Solche Kommentare werden Eltern beim gemeinsamen Medienkonsum mit ihren Kindern empfohlen („Coviewing“).

Auch LehrerInnen werden medienpädagogisch motiviert. Unter Bezug auf entsprechende Studien wird festgestellt: „Medienerzieherischer Unterricht wirkt.“ (38) Gar nicht eingegangen wird auf den medienpädagogisch tragenden Begriff der Medienkompetenz (der z.B. im Glossar am Ende des Buches hätte aufgegriffen werden können). Dieser Glossar ist eine ebenso knappe wie selektive Mischung aus Begrifflichkeiten, die einerseits sehr allgemeine wissenschaftliche Termini einbezieht (z.B. Variable, Hypothese, Theorie, Operationalisierung…), andererseits tragende Begriffe ausblendet (Medien, Gewalt, Medienpädagogik, Medienkompetenz…).

Diskussion

Trotz zeitgemäß kritischer Sicht auf die Wirkungsforschung bleiben die Ausführungen des Essentials altem Denken verhaftet. Zu wenig wird auf Aspekte der Mediennutzungsforschung eingegangen. Wenn z.B. in der Einleitung darauf hingewiesen wird, das Fernsehgewalt hohe Einschaltquoten garantiert (3), wären Ausführungen zu Nutzungsmotiven, zur Faszination, zum Unterhaltungswert von medialer Gewalt, zu physiologischen Aspekten erlebter Erregung etc. sinnvoll gewesen. Schließlich ist die zentrale Erkenntnis des seit vielen Jahren vollzogenen medienpsychologischen Paradigmenwechsels von der Wirkungs- zur Nutzungsforschung der, dass Wirkungen vor allem von der Intention der Nutzung abhängig sind. Auch die Perspektive des Kinder- und Jugendschutzes fehlt. So wird z.B. in den Ausführungen zu „negativen Wirkungen“ stets von Aggressionssteigerung ausgegangen. Die Tatsache, dass mediale Gewaltdarstellungen, insbesondere dann, wenn man mit ihnen unbeabsichtigt konfrontiert wird, ängstigen, traumatisieren und insofern negativ wirken kann, wird völlig ausgeblendet.

Aus Sicht des Rezensenten wäre sinnvoll gewesen, die Forschungen zur Nutzung und Wirkung von gewalthaltigen Computerspielen in die Ausführungen zu integrieren. So wäre der retrospektive Blick angemessen mit zeitgemäßer Perspektive verknüpft worden.

Fazit

Das schmale Buch ist gut lesbar, gibt einen Überblick, ist ausgewogen und insbesondere aufgrund seiner forschungskritischen Einlassungen geeignet für Erstsemester medienwissenschaftlicher Studiengänge. Auch medienpädagogische Praktiker*innen werden Grundlegendes für ihre Arbeit finden.

Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
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Es gibt 15 Rezensionen von Konrad Weller.

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ISSN 2190-9245