Marianne Soff: Gestalttheorie für die Schule
Rezensiert von Prof. Dr. Roland Stein, 31.01.2018

Marianne Soff: Gestalttheorie für die Schule. Unterricht, Erziehung und Lehrergesundheit aus einer klassischen psychologischen Perspektive. Krammer (Wien) 2017. 226 Seiten. ISBN 978-3-901811-74-6. D: 25,00 EUR, A: 25,00 EUR.
Thema
Während sich die Psychologie in ihrem Mainstream stark „kognitiv-behavioral“ ausgerichtet hat, treten immer wieder auch alternative Theorien und Sichtweisen hervor. Sie bereichern die Diskussion erheblich – auch für pädagogische Kontexte. Marianne Soff arbeitet in diesem Buch die klassische Gestalttheorie auf, unter Einbezug der Lewin´schen Feldtheorie – und bezieht diese Konzepte auf verschiedenen Ebenen und im Hinblick auf unterschiedlichste Ansatzpunkte auf Schule – von Klassenführung und Lernen bis demokratischer Bildung, Gesundheit und Burn-Out.
Autorin
Marianne Soff ist promovierte Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin. Sie ist als Akademische Oberrätin am Institut für Psychologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe tätig – in den Schwerpunkten Klinische Psychologie und Erziehungspsychologie. Neben Veröffentlichungen zu den hier fokussierten Ansätzen der Gestalttheorie und der Feldtheorie hat sie auch im Bereich Tagebuchforschung und zu entwicklungs- sowie erziehungspsychologischen Themen gearbeitet.
Entstehungshintergrund
Die Autorin beschäftigt sich schon lange mit Gestalt- und Feldtheorie und hat hierzu eine Reihe von Artikeln veröffentlicht. Aus diesem Hintergrund heraus ergab sich die Idee zu einer fokussierten Buchpublikation. Unterstützend wirkte offenbar, wie die Danksagung im Buch zeigt, der langjährige fachliche und kollegiale Austausch in der internationalen Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen e.V. (GTA).
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst gut 200 Seiten. Es ist in sieben Hauptkapitel gegliedert:
Kapitel I thematisiert grundlegend die Frage der Bedeutung von Gestalttheorie in der Lehrerbildung. Nach einer Bestimmung von Erziehungspsychologie werden zunächst einige zentrale gestaltpsychologische Grundannahmen diskutiert, aus denen sich erziehungspsychologische Konsequenzen ergeben. Der Bezug der Theorie zum Gegenstand Schule wird eröffnet. Spezifisch geht es in einem Teilkapitel um die Frage, inwiefern das Buch „Schöpferische Freiheit“ von Metzger Aussagegehalt für Lehrkräfte habe.
Kapitel II, „Gestalttheoretische Basics“, vertieft die eingangs nur skizzierte Theorie, bei Bezug auf Historie, Grundkonzepte, Erkenntnistheorie, Anthropologie sowie soziale und ethische Aspekte des Menschenbildes der Gestaltpsychologie.
In Kapitel III wird die Feldtheorie herangezogen, in ihren Grundzügen erläutert und auf Schule bezogen, bei besonderem Bezug auf Motivations- und Sozialpsychologie.
Unter dem Titel „Erziehung zu Sachlichkeit und Freiheit“ geht es im IV. Hauptkapitel um eine nähere Analyse der bereits eingangs unter I. thematisierten Arbeiten von Wolfgang Metzger. Diese sollen für die heutige Zeit aufbereitet und nutzbar gemacht werden.
Kapitel V thematisiert Klassenführung – hier als „schöpferischen Prozess“. Dies geschieht unter Bezug auf die aktuelle Literatur und die Diskussion um „Classroom Management“ sowie die Frage des Aspekts der „Führung“. In der Folge werden sowohl Gestalttheorie als auch Feldtheorie hieraufhin bezogen und betrachtet. Im Unterschied zur breiten aktuellen Diskussion geraten dabei erkenntnistheoretische Aspekte ebenso in den Vordergrund wie Fragen der Gruppendynamik sowie der schöpferischen Freiheit.
„Denken lernen“ lautet das Motto des Hauptkapitels VI. Es geht um eine gestaltpsychologische Betrachtung der Psychologie des Denkens und Lernen – sowie Schlussfolgerungen für Unterricht und die Gestaltung von Lernprozessen, unter Einbezug von Fragen der Demokratiebildung.
Schließlich betrachtet die Verfasserin in Hauptkapitel VII, abschließend, Herausforderungen der Burnout-Prävention auf insbesondere feldtheoretischer Basis. Im Vordergrund steht das Konzept der psychischen Sättigung, auf dessen Basis eine eigene Betrachtung von seelischer Gesundheit und möglichem Ausbrennen erfolgt, unter Einbezug von Fragen der „persönlichen Balance“ sowie der Weiterentwicklung eigener Beziehungskompetenz im Lehrerberuf.
Diskussion
Das Buch irritiert zunächst zweifach: Es liegt zum einen völlig quer zum Mainstream der theoretischen Ausrichtung psychologischer Arbeiten heute – und es orientiert sich zum anderen nicht an den aktuelleren Ausprägungen der Gestalttheorie seit den 1970ern, wie sie in der Gestalttherapie und später – bis heute – in der Gestaltpädagogik ihren Niederschlag fanden – sondern an den Wurzeln der Gestaltpsychologie und der Feldtheorie. Der Leser mag sich zunächst fragen, ob man diese Ansätze auf Schule, Erziehung und Bildung heute übertragen kann.
Marianne Soff schöpft offenkundig aus einem reichhaltigen und langjährig entwickelten Fundus einschlägiger theoretischer Grundlagen, die in diesem Buch differenziert entfaltet werden. Zugleich versteht sie es aber auch, diese Grundlagen differenziert und mit Umsicht auf Schule, Erziehung und Bildung heute zu übertragen. Dabei bleibt sie in guter Anbindung an die aktuelle Diskussion. Dies zeigt sich beispielsweise im Kapitel zu „Klassenführung“, in dem sie die Perspektiven und konkreten Beiträge der Gestaltpsychologie für dieses aktuell intensiv diskutierte und leider allzu oft inhaltlich eingeengt bearbeitete Thema deutlich macht, welche gerade diese dynamische Diskussion zu bereichern und auszuweiten vermögen.
An verschiedenen Stellen wird zudem klar erkennbar, dass die Ausweitung der gestaltpsychologischen Perspektive auf die Lewin´sche Feldtheorie, damit einen weiteren im Grund „betagten“ und oft nicht mehr recht berücksichtigten Ansatz, ausgesprochen bereichernd ist, indem auch dieser sowohl auf individuelle Fragen des Lernens als auch auf stärker „systemische“ Fragen der schulischen Arbeit und der Schulorganisation bezogen werden kann.
Ein weiteres Beispiel für diesen Brückenschlag findet sich im Kapitel zu Burnout. Auch hier wird die aktuelle Diskussion aufgenommen, und es gelingt ein sehr eigener Beitrag zu dieser, fokussiert in einer Analyse des Konzepts der psychischen Sättigung als Erklärung von Burnout. Die Ausführungen hier orientieren sich eng an der Feldtheorie, und die Autorin versäumt es nicht, konkrete Schlussfolgerungen und Empfehlungen zu entwickeln. Auf der anderen Seite ergeben sich hier eigene theoretische Grundlagen etwa für ein aktuell zunehmend diskutiertes Konzept wie „Achtsamkeit“.
Und schließlich versäumt es die Autorin auch nicht, Fragen der politischen Bildung und der Demokratiebildung mit aufzunehmen, womit sie den Bogen schlägt von der Aufarbeitung „betagter“ theoretischer Ansätze zu brennenden Fragen gerade in der heutigen Situation von Gesellschaft und Schule.
Was immer wieder fehlt, ist aktuellere Forschung zu den hier herangezogenen Theorien und ihren Realisierungsformen, gerade auch in pädagogischen Kontexten. So fallen die weiten Lücken zwischen der referierten Grundlagenliteratur, etwa aus den 1920er oder 1940er Jahren, und der heutigen Situation sowie der aktuellen Diskussion spezifischer Teilthematiken wie Classroom Management oder Lehrergesundheit über die Kapitel hinweg deutlich ins Auge. Dies ist allerdings nicht der Autorin anzulasten, denn gerade für das Schließen dieser großen Lücke versucht sie mit ihren Aufarbeitungen die Grundlage zu schaffen. Differenzierte Forschung aus diesen theoretischen Hintergründen heraus müsste allerdings folgen und täte dringend not, damit nicht manches zu sehr im Interpretativen und bisweilen auch im Spekulativen bleibt.
Fazit
Das Buch stellt eine echte Bereicherung für die Diskussion der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen und von Schule heute dar, gerade indem es teilweise (fast) in Vergessenheit geratene theoretische Ansätze auf Bildung und Erziehung sowie auf die heutige Zeit bezieht und hierfür aufarbeitet. Es empfiehlt sich als Bereicherung für Studierende unterschiedlicher Lehramtsstudiengänge heute, aber auch für Lehrkräfte als Anregungsspektrum, für Dozentinnen und Dozenten an lehrerbildenden Hochschulen – und durchaus auch für Studierende der Psychologie, die sich stärker für Kontexte der Pädagogischen Psychologie interessieren und offen sind für alternative Inhalte und Themen jenseits des „Mainstreams“. Dabei zeigt Marianne Soff beispielhaft, dass dieser Mainstream sich aus einer gewissen Engführung heraus vielleicht wieder öffnet und weitet.
Rezension von
Prof. Dr. Roland Stein
Universität Würzburg, Institut für Sonderpädagogik - Pädagogik bei Verhaltensstörungen
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Zitiervorschlag
Roland Stein. Rezension vom 31.01.2018 zu:
Marianne Soff: Gestalttheorie für die Schule. Unterricht, Erziehung und Lehrergesundheit aus einer klassischen psychologischen Perspektive. Krammer
(Wien) 2017.
ISBN 978-3-901811-74-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23101.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.
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