Waldemar Stange, Anja Bentrup et al.: Partizipation von Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 29.11.2017

Waldemar Stange, Anja Bentrup, Timo Bleckwedel: Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch für die Praxis.
Lehmanns Media GmbH
(Berlin) 2017.
143 Seiten.
ISBN 978-3-86541-896-8.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR.
Landkreis Lüneburg (Herausgeber).
Thema
Bei der Partizipation von Kindern und Jugendlichen wird meist an Projekte oder Modelle gedacht, die für oder mit Kindern und/oder Jugendlichen eingerichtet werden. Es wird implizit vorausgesetzt, dass für diese Altersgruppe spezifische Bedingungen gelten, die sich von denen Erwachsener unterscheiden, z.B. alters- oder generationsspezifische Interessen, besondere Verletzlichkeit, Schutzbedürftigkeit oder Entwicklungserfordernisse.
Kinder- und Jugendpartizipation wird deshalb meist in pädagogischen Institutionen oder als eine Art Vorform oder symbolische Form politischer Mitsprache an besonderen Orten jenseits der Erwachsenensphäre angesiedelt. Sie basiert auf der Trennung von Erwachsenen- und Kindheitssphäre und rüttelt daran auch nur selten. Sie wird vornehmlich als Lern- und Integrationsprojekt verstanden, das dazu beiträgt, das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen zu entspannen und den Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie als (Gesprächs-)Partner geachtet und ernstgenommen werden. Zwar ist mitunter auch ein Einfluss auf die Entscheidungen der Erwachsenen vorgesehen, dieser verbleibt jedoch fast immer im Rahmen von Konsultationen, bei denen den Erwachsenen weitgehend freisteht, den artikulierten Ansichten und Erwartungen der Kinder zu folgen. Direkte Entscheidungsbefugnisse der Kinder sind fast nie vorgesehen, insoweit sie über den Bereich persönlicher Lebensgestaltung hinausgehen.
Dabei geht leicht unter, dass die Partizipation von Kindern und Jugendlichen auch als Bestandteil des täglichen Lebens jenseits aller pädagogischen oder rechtlichen Erwägungen oder gar als Ausdruck zivilen Ungehorsams verstanden werden kann. Als soziale Wesen haben auch Kinder und Jugendliche am gesellschaftlichen Leben teil. Sie sind Akteure, äußern ihre Bedürfnisse, organisieren ihr Leben, versuchen ihre Umwelt mitzugestalten, positionieren sich im Verhältnis zu anderen Menschen, stecken ihre Einflusssphären ab, übernehmen Aufgaben, kommen Verpflichtungen nach oder widersetzen sich ihnen. Kinder und Jugendliche tun dies je nach Alter und Lebenssituation in besonderer Weise, und es kommt darauf an, die verschiedenen Äußerungsformen als Formen von Partizipation oder als entsprechenden Anspruch zu verstehen, ernst zu nehmen und zu unterstützen.
Entstehungshintergrund und Zielsetzung
Hintergrund für das hier zu rezensierende Handbuch ist die Praxis von Kinder- und Jugendpartizipation in einem deutschen Landkreis. Diese wird nicht nur mit vielen Beispielen vorgestellt, sondern dient auch als Folie, um die Chancen und Schwierigkeiten der Partizipation zu erkennen und aus ihnen zu lernen. Das Handbuch wurde von einer Autorengruppe des Instituts für Jugendhilfe und Kommunalberatung an der Leuphana Universität Lüneburg im Auftrag des Landkreises Lüneburg erarbeitet.
Der Autor Waldemar Stange, der das Handbuch mit seinem Mitarbeiter Timo Bleckwedel und seiner Mitarbeiterin Anja Bentrup konzipiert hat, ist Leiter dieses Instituts und hat auch schon in der Vergangenheit praxisnahe Beiträge zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen veröffentlicht (unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderhilfswerk).
Zielgruppe
Das Handbuch richtet sich an Akteure in Politik und Verwaltung, die Fachöffentlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch an allgemein interessierte Erwachsene. Es soll hilfreiche Informationen über die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Kinder- und Jugendpartizipation liefern. Dazu werden neben theoretischen und forschungsbezogenen Hintergründen zur Partizipationsdebatte auch praxisnahe „Knackpunkte“ und Erfolgsfaktoren genannt sowie Checklisten bereitgestellt.
Aufbau und Inhalte
Im Handbuch wird zunächst unter Rückgriff auf vorliegende Forschungen dargelegt, was unter Partizipation von Kindern und Jugendlichen zu verstehen ist, in welchen Formen sie praktiziert wird, welche Vorteile sie aus kommunalpolitischer Sicht hat und wie es in Deutschland um sie steht.
Nach Bekunden der Autor*innen ergibt Partizipation nur Sinn, wenn geklärt wird, worauf sie sich bezieht und welche Folgen sie hat. Sie haben sowohl „soziale Partizipation“, insbesondere das, was sie „Alltagspartizipation“ nennen, als auch „politische Partizipation“ im Auge. Um eine kritische Beurteilung der Partizipationspraxis zu ermöglichen, entwickeln die Autor*innen vorliegende Modelle zu verschiedenen Intensitätsstufen der Partizipation weiter. Hierbei unterscheiden sie „Teilhabe“ im Sinne von sporadischer und punktueller Beteiligung, „Beauftragung und Anwaltschaft“ im Sinne advokatorischer Handlungen, „Mitwirkung“ im Sinne von Anhörung und Aushandlung, „Mitbestimmung“ im Sinne der Ausübung von Entscheidungsrechten und schließlich als höchste Stufe „Selbstbestimmung“ und „basisdemokratische Entscheidungsrechte“ im Sinne direkter Demokratie.
Die Autor*innen unterscheiden dreierlei Formen von Partizipation:
- erwachsenenzentrierte Formen im Sinne einer Politik für Kinder und Jugendliche;
- dialogische Formen im Sinne einer Politik mit Kindern und Jugendlichen und
- selbstbestimmte Formen im Sinne einer Politik durch Kinder und Jugendliche.
Sie betonen ausdrücklich, dass alle diese Formen legitim sind, es also keineswegs die einzige „richtige“ Partizipationsform gibt.
Als Vorteile für die Kommune führen die Autor*innen insgesamt acht verschiedene Punkte an. Diese reichen von der Effizienzsteigerung von Planungsvorhaben und Standortvorteilen im kommunalen Wettbewerb, über die Integrationswirkungen und Steigerung von Demokratiekompetenz, bis hin zur Verringerung von Politikabstinenz und Gewaltprävention. Gerade weil die Autor*innen ausdrücklich betonen, dass Partizipation als ein Recht der Kinder und Jugendlichen verstanden werden müsse, fällt auf, dass alle genannten Vorteile sich allein auf die Interessen der Kommune als Institution, aber nicht auf die der Kinder und Jugendlichen beziehen.
Der Stand der Praxis wird unter Rückgriff auf die vorliegende Forschung als ambivalent dargestellt. Zwar gebe es in der kommunalen Praxis manche gelungene Beispiele, z.B. bei der Verkehrsplanung oder der Schulwegsicherung, aber sie seien noch längst nicht der Normalfall. Es gebe gute Praxisbeispiele mit allen möglichen Zielgruppen, z.B. in der Jugendarbeit, aber sie bewegten sich „oft in der gehobenen Form von Modellprojekten“ (S. 24). Man wisse heute sehr genau, worauf es ankommt und „wie es geht“, es gebe bereits eine Art „Partizipationsdidaktik“, aber es bestünde ein „Umsetzungsdefizit“ aufgrund noch immer verbreiteter partizipationsabstinenter Einstellungen und Haltungen bei den Verantwortlichen. Dies gelte vor allem für den Bereich der Schule und noch mehr für das kommunale Handlungsfeld. Im Nahbereich der Kommune müsse die Partizipation von Kindern und Jugendlichen „massiv ausgebaut und strukturell abgesichert werden“ (S. 27).
Um die Partizipation zu erweitern und zum Normalfall werden zu lassen, müssten zum einen die Rahmenbedingungen in den Kommunen verbessert und die nötigen Budgets bereitgestellt werden, zum anderen müsse ein Gesamtkonzept für die spezifische Qualifizierung der Fachkräfte erarbeitet und umgesetzt werden. Auch bei den Einspruchs- und Beschwerderechten der Kinder und Jugendlichen gebe es einen großen Nachholbedarf.
Den größten Teil des Handbuchs nehmen nicht weniger als 52 Praxisbeispiele ein. Sie stammen allesamt aus dem Landkreis Lüneburg und umfassen ein weites Spektrum von Formen und Intensitätsstufen. Sie werden in strukturierter Weise nach Zielsetzungen, Vorgehensweisen und Ergebnissen dargestellt. Am Ende jedes Beispiels werden die jeweiligen Ansprechpartner*innen mit Kontaktadresse genannt. Bei diesen handelt es sich zum überwiegenden Teil um junge Erwachsene, die an der Universität Lüneburg zu „Prozessmoderator*innen für Partizipation“ ausgebildet wurden. Dieses Ausbildungsprojekt wird als „Vorform der Partizipation (Bildung)“ zu Beginn der Praxissammlung ausführlich vorgestellt.
Um eine Bewertung und gezielte Förderung von Partizipationsprojekten zu erleichtern, werden im Anschluss an die Praxissammlung unter dem Stichwort „Knackpunkte“ Schwierigkeiten aufgelistet, die bei der Partizipation von Kindern und Jugendlichen auftreten können. Unter dem Stichwort „Erfolgsfaktoren“ wird gezeigt, was für einen gelingenden Beteiligungsprozess zu bedenken ist. Diese Reflexionshilfen werden durch eine Checkliste, eine Methodenliste, eine Auflistung von Qualitätskriterien und schließlich relevanter Gesetze ergänzt. Am Ende werde die an der Universität Lüneburg bisher ausgebildeten Partizipationsmoderator*innen persönlich vorgestellt und Literaturhinweise gegeben.
Diskussion
Das Handbuch ist eine Auftragsarbeit des Landkreises Lüneburg und demonstriert die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft. Mit einigem Stolz (und auf Hochglanzpapier) werden die bisherigen Ergebnisse dieser Zusammenarbeit präsentiert – und sie können sich durchaus sehen lassen.
Das Handbuch ist benutzerinnenfreundlich gestaltet, gibt einen bündigen Überblick über die in Deutschland geführte Debatte um Kinder- und Jugendpartizipation, die wichtigsten Forschungsbefunde, nennt in übersichtlicher Form die bei Partizipationsprojekten zu beachtenden Fragen und gibt viele nützliche Hinweis auf zu erwerbende Kompetenzen und unabdingbare Rahmenbedingungen für gelingende Partizipation.
Erfreulicherweise macht das Handbuch darauf aufmerksam, dass Partizipation von Kindern und Jugendlichen immer wieder dem Risiko ausgesetzt ist, für Interessen von Erwachsenen, vor allem von politischen Entscheidungsträgern, instrumentalisiert zu werden. Die Autor*innen machen auch immer wieder deutlich, dass von Partizipation nur gesprochen werden sollte, wenn sie nicht nur auf einer symbolischen Ebene verharrt, sondern für die Kinder und Jugendlichen spürbare Ergebnisse erbringt. Umso erstaunlicher ist, dass die Darstellung gelegentlich in Sprachformen abgleitet, die diesem Anliegen widersprechen. So ist an manchen Stellen davon die Rede, dass Kinder und Jugendliche „beteiligt werden“ oder gar, wie im Vorwort des Lüneburger Landrats Manfred Nahrstedt, „aktiv an kommunalen Entscheidungsprozessen zu beteiligen“ seien. Bei solchen, vermutlich unbedachten Formulierungen (die sich auch in vielen anderen Veröffentlichungen und in Gesetzen finden) kommen Zweifel auf, ob die zur Partizipation eingeladenen Kinder und Jugendlichen nicht letztlich doch wieder nur ausführen sollen, was von Erwachsenen vorab ausgedacht und festgelegt worden ist.
Dass sich das Handbuch in erster Linie an erwachsene Fachkräfte und politisch Verantwortliche richtet, ist legitim, denn ohne deren Engagement und Unterstützung ist die Partizipation von Kindern und Jugendlichen zumindest als nachhaltiges Projekt schwer vorstellbar. Aber bei den Praxisbeispielen und praktischen Ratschlägen entsteht der Eindruck, dass sich die Autor*innen die Partizipation von Kindern und Jugendlichen nur als Projekte vorstellen können, die von Erwachsenen initiiert und maßgeblich gestaltet werden. Zwar unterscheiden sie erwachsenenorientierte, dialogische und selbstbestimmte Partizipationsformen, aber sie scheinen sich schwer vorstellen zu können, dass Partizipation auch auf die Initiative von Kindern und Jugendlichen zurückgehen, von ihnen in eigener Verantwortung und möglicherweise sogar im Konflikt mit Erwachsenen praktiziert werden kann. Die vorgestellten Praxisbeispiele bewegen sich allesamt in einem Rahmen, der mit den Interessen der politisch oder pädagogisch verantwortlichen Erwachsenen kompatibel ist und keinen Anlass für Konflikte bietet. Einige sind sogar dem Bereich symbolischer Partizipation zuzurechnen, den die Autor*innen eigentlich als Scheinpartizipation hätten kritisieren müssen, wenn sie ihren eigenen Kriterien gefolgt wären. So hätte z.B. bei dem Projekt der U18-Wahlen, das allein zu Lernzwecken praktiziert wird, gefragt werden können, warum Kindern bis heute das Wahlrecht verweigert wird. Doch dazu findet sich im Handbuch an keiner Stelle ein kritisches Wort. Damit sei nicht das Engagement in Frage gestellt, das sich in diesem und allen anderen vorgestellten Projekten zweifellos findet, bei Kindern und Jugendlichen ebenso wie bei Erwachsenen.
Ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus hätte sichtbar gemacht, dass es auch anders geht und Partizipation sich auch in Form von eigenständigen Kinder- und Jugendinitiativen oder -bewegungen manifestieren kann (selbst in Deutschland hätten sich solche Beispiele finden lassen). Auch diese sind zwar auf die Begleitung und Unterstützung sowie auf bestimmte politische Rahmenbedingungen (z.B. die Achtung der Kinderrechte als Menschenrechte) angewiesen, aber die Erwachsenen agieren nicht in der Rolle von Leitern oder Projektverantwortlichen, sondern eher als Berater*innen, die von den Kindern und Jugendlichen herangezogen, aber auch abgelehnt werden können. Solche Formen von Kinder- und Jugendpartizipation werden nicht in erster Linie zum Erlernen von Demokratiekompetenz und zur Profilbildung von Kommunen oder pädagogischen Einrichtungen praktiziert, sondern stellen eine Art Gegenöffentlichkeit dar, in der die Kinder und/oder Jugendlichen ihre kollektiven und situationsspezifischen Interessen zum Ausdruck bringen. Zu solchen eher selbstbestimmten Formen von Partizipation steht seit den 1990er Jahren eine umfangreiche Literatur zur Verfügung, auch in deutscher Sprache.
Fazit
Das Handbuch vermittelt einen übersichtlich strukturierten Einblick in die vielfältige Praxis von Kinder- und Jugendpartizipation in einem deutschen Landkreis und gibt Kriterien für ihre Beurteilung und Förderung an die Hand. Es bewegt sich allerdings in einem konzeptionellen Rahmen, der sich Partizipation nur als weitgehend konfliktfreies Unternehmen vorstellen kann, das vornehmlich von Erwachsenen initiiert und gestaltet wird.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Prof. a.D. für Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Unabhängiger Kindheits- und Kinderrechtsforscher
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