Kay Uwe Petersen, Sarah Hanke et al.: Angebote bei internetbasiertem Suchtverhalten in Deutschland (AbiS)
Rezensiert von Michael Christopher, 19.01.2018
Kay Uwe Petersen, Sarah Hanke, Linny Bieber, Axel Mühleck, Anil Batra: Angebote bei internetbasiertem Suchtverhalten in Deutschland (AbiS). Pabst Science Publishers (Lengerich) 2017. 158 Seiten. ISBN 978-3-95853-235-9. D: 15,00 EUR, A: 15,50 EUR.
Thema
In der Fachöffentlichkeit wird das Thema Sucht und Medien in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Die im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit verfasste Studie zu Angeboten bei internetbasiertem Suchtverhalten (AbiS) ist eine Bestandsaufnahme der Hilfsangebote in Deutschland für Menschen mit einem internetbasiertem Suchtverhalten.
Autoren
Kay Uwe Petersen und Sara Hanke arbeiten als Psychologen im Bereich der Internetsucht und Professor Anil Batra als Psychiater mit dem Schwerpunkt Suchtmedizin an der Universität Tübingen.
Aufbau
Neben einer kurzen Zusammenfassung am Anfang und einer Einführung in das Thema, bilden vor allem die Methodik der Untersuchung sowie die Auswertung und der Zeitplan den ersten Teil der Veröffentlichung. Ein Großteil widmet sich der Darstellung der Ergebnisse der Befragungen, ehe die einzelnen Ergebnisse diskutiert und bewertet werden. Das Ende bildet ein umfangreicher Anhang mit der Übersicht der schulischen Materialangebote, der Hilfsangebote sowie der Ausdrucke von vier eingesetzten Onlinefragebögen.
Inhalt
Nach einer kurzen Zusammenfassung des Inhaltes des Buches, beschäftigt sich die Einleitung mit einer Bestandsaufnahme sowie zu den Zielen der Untersuchung. Unerlässlich finden die Autoren die Definition des Begriffes internetbasiertem Suchtverhaltens in Abgrenzung zu verschiedenen anderen kursierenden Begriffen wie Internetsucht, Internetabhängigkeit oder dem problematischen bzw. pathologischem Internetgebrauch. Auch der Blick ins Englische (u.a. Internet Gaming Disorder) fehlt nicht. Die Autoren plädieren, statt für die Vielfalt unterschiedlicher Bezeichnungen, für einen konsensfähigen Begriff, der den Krankheitswert weder verharmlost noch überdramatisiert.
Im Anschluss beschreiben die Autoren die Genese des Problembewusstseins und die beginnenden diagnostischen Untersuchungen zu internetbasiertem Suchtverhalten und die Prävalenz der Patienten, die sie anhand verschiedener internationaler Studien darlegen.
Zu der Beratungs- und Behandlungslandschaft bei pathologischem Internetgebrauch wird im dritten Teil der Einleitung ein Überblick zu der Situation in Deutschland und den verschiedenen therapeutischen Ansätzen der Behandlungszentren gegeben. Der Großteil sei verhaltenstherapeutisch orientiert und wende sich zumeist an männliche Betroffene. Die Prävention ziele auf die Stärkung von Lebenskompetenz von Kindern und Jugendlichen. Die Autoren sehen einen zu frühen Einsatz von Bildschirmgeräten an Bildungseinrichtungen kritisch und plädieren für eine medienfreie Kindheit vor der Schule.
Im zweiten Teil stellen die Autoren ihr Studiendesign und ihre Untersuchungsmethodik vor. Dabei teilen sie die Ansprechpartner in fünf verschiedene Ebenen auf:
- Präventionsebene – u.a. die Schule
- Administrationsebene – Krankenkassen oder Träger von Suchteinrichtungen
- Fachliche Ebene – Experten
- Operative Ebene – u.a. die behandelnden Kliniken
- Betroffenenebene
Um ihre Erkenntnisse zu erlangen, gingen die Autoren u.a. mit Online-Fragebögen, mit qualitativen Interviews oder mit Hilfe einer Online-Recherche vor. Die unterschiedlichen Leitfäden für die Interviews werden in diesem Teil in mehreren langen Kästen dem Leser transparent gemacht. Darauf folgend wird der Zeitplan der Studie vorgestellt.
Der Abschnitt Ergebnisse zeigt die unterschiedlichen Statistiken, die die Autoren aus den Fragebögen gezogen haben, wie u.a. die Verteilung auf die Bundesländer, Balkengrafiken zu verschiedenen prozentualen Häufigkeiten von Problemverhalten (wie Onlinegaming, E-Mail, etc.). Die qualitativen Interviews mit den Beratenden, bzw. Betroffenen fokussieren die Annahme des Therapieprogramms und die Motivationsstimmulanz der Betroffenen. Die Autoren erkennen neben dem Fehlen von einheitlichen und evaluierten Handhabungen des internetbasierten Suchtverhaltens auch Defizite im Versorgungssystem (Prävention und Behandlung) an sich.
Aus den Interviews heraus kristallisieren die Autoren Verbesserungsvorschläge für die Arbeit mit Betroffenen:
- Anerkennung als Krankheitswert
- Verbesserung des Zugangs zu den Hilfen
- strukturierte und manualisierte Behandlungsangebote
- Angehörigenarbeit
- Qualifizierung von Beratern
- Aufklärung an Schulen.
Von den Betroffenen sind als Problemanwendung im Internet vorwiegend Online-Spiele genannt worden, wobei die Diskrepanz zwischen Ausmaß des problematischen Verhaltens und dem Problembewusstsein bei einzelnen Interviewten unterschiedlich ist. Die Annahme von Hilfsangeboten sei von Hemmnissen gestört, wie dem negativen Image von Sucht, die lange Wartezeit bis Hilfen einsetzen, die passenden Hilfen finden oder aber die Kontaktaufnahme. Auch wurden Probleme bezüglich des Therapieangebotes aufgezeigt. Für die administrative Ebene ist vor allem die ungeklärte Diagnostik, die Prävention und die teilweise unzureichende Qualifikation der Helfenden ein Problemfeld.
Am Ende der Veröffentlichung diskutieren die Autoren die Ergebnisse. Dabei ist besonders die einheitliche Bezeichnung der Problematik der internetbasierten Sucht und der standardisierten Diagnostik von Seiten der Autoren wünschenswert, aber auch die Qualifikation der Behandelnden und ein Ausbau der Hilfen, insbesondere der ambulanten Hilfen erstrebenswert.
Diskussion und Fazit
Die Studie an sich ist ein interessanter Überblick zum Stand und der Arbeit von Hilfsangeboten im Bereich der internetbasierten Sucht. Die Autoren beleuchten das Feld von verschiedenen Seiten mit Hilfe von qualifizierten Interviews und Online-Fragebögen. Die Antworten der Betroffenen, die jedoch dafür bereits ein Problembewusstsein aufgebaut haben müssten, wirken authentisch und dadurch informativ. Im Buch sind ebenso die Leitfäden für die qualitativen Interviews und den Online-Fragebögen vorhanden und machen dadurch die Studie transparent.
Jedoch kommt die Veröffentlichung leider nicht über den Stand einer Studie heraus, die für ein Fachpublikum interessante Erkenntnisse zur aktuellen Situation der Hilfen darlegt und Handlungsvorschläge für eine Verbesserung der Strukturen macht. Die im Anhang gedruckten kommentierten Übersichten zu den Schulmaterialien auf einer Internetseite und die Sammlung von Hilfsangeboten sind dabei jedoch informativ.
Dadurch, dass die Forscher, die diese Studie durchführten, teils aus der Praxis der Online-Suchtberatung kommen, konnten aus einer Innensicht heraus relevante Punkte angesprochen werden. Dies ist besonders für die Erstellung der Fragebögen und die Durchführung der Interviews von Vorteil. Jedoch bleibt, trotz aller Transparenz in der Bewertung der Ergebnisse, deswegen ein Hauch von fehlender Unabhängigkeit bestehen. Auch die Problematik der Stigmatisierung und Problematisierung durch die Manifestation eines Krankheitsbegriffes, die von einigen Betroffenen im Text sowie von vielen Ärzten angesprochen wird (vgl. Przybylski et.al 2017) und die bislang fehlende klinische Erprobung der Diagnostik (vgl. Király et.al 2015) wird zu schnell gegen den Wunsch einer klaren Begriffsbestimmung, Diagnostik und manualisierter Behandlung ausgeblendet. Das Thema Sucht ist jedoch meist eine gesellschaftliche Absprache im Diskurs, was noch tolerabel ist und was nicht.
Was das Buch nicht ist: ein Ratgeber für Betroffene, beziehungsweise eine theoretische Abhandlung zum Thema. Es dient den etwaigen Entscheidungsträgern und in der Arbeit involvierten Personen die Ist-Situation zu evaluieren und Lücken zu schließen. Damit baut das Buch einer früheren Studie von Kay Uwe Petersen auf, was auf jeden Fall hilfreich ist, denn im Bereich der Hilfen ändert sich die Grundlage stets.
Die Studie geht von der Existenz einer mit dem Internet in Zusammenhang stehenden Sucht aus und schafft mit der Forderung eines einheitlichen Begriffes für die Übernahme des von den Autoren gewählten Begriffes Vorschub. Jedoch überproblematisieren die Autoren nicht, sondern sehen eine Basis in der Hilfssituation, die an vielen Punkten verbesserungswürdig ist. Das ist eine wichtige Evaluation des Status Quo in Deutschland und kann mit Hilfe der Interviews Argumente in der politischen Diskussion zur Verbesserung des Angebotes liefern. Ob es dafür eine Buchveröffentlichung benötigt hätte, sei dahin gestellt.
Literatur
- Király, Orsolya; Griffiths, Mark D.; Demetrovics, Zsolt (2015) Internet Gaming Disorder and the DSM-5: Conceptualization, Debates, and Controversies, in: Current Addiction Reports September 2015, Volume 2, Issue 3, pp 254-262
- Przybylski, Andrew K. et. al (2017): Scholars´ open debate paper on the World Health Organization ICD-11 Gaming Disorder proposal in: Journal of Behavioral Addictions 6(3), pp. 267-270 (2017)
Rezension von
Michael Christopher
Filmwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift manycinemas
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Es gibt 34 Rezensionen von Michael Christopher.
Zitiervorschlag
Michael Christopher. Rezension vom 19.01.2018 zu:
Kay Uwe Petersen, Sarah Hanke, Linny Bieber, Axel Mühleck, Anil Batra: Angebote bei internetbasiertem Suchtverhalten in Deutschland (AbiS). Pabst Science Publishers
(Lengerich) 2017.
ISBN 978-3-95853-235-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23109.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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