Hendrik Trescher: Wohnräume als pädagogische Herausforderung
Rezensiert von Prof. Dr. Arnold Pracht, 25.09.2017

Hendrik Trescher: Wohnräume als pädagogische Herausforderung. Lebenslagen institutionalisiert lebender Menschen mit Behinderung. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 2. Auflage. 214 Seiten. ISBN 978-3-658-14802-7. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
In diesem Buch wird der Frage nachgegangen, inwiefern die typischen – von freien Trägern angebotenen – Wohnformen für Menschen mit einer vornehmlich geistigen Behinderung verändert werden müssen, damit sie den Anforderungen dessen entsprechen, was man etwa unter einem inklusiven Wohnen, auch unter Beachtung der rechtlichen Rahmenbedingungen, verstehen kann.
Aufbau und Inhalt
Nach der Einleitung (Kapitel eins) beschäftigt sich der Verfasser im Rahmen des zweiten Kapitels mit den grundlegenden Begriffen „Geistige Behinderung“ und „Wohnen“. Dabei legt er einen sozialkonstruktivistischen Behindertenbegriff zugrunde. Der Begriff dessen, was Wohnen heißt, ist ebenfalls sozial vermittelt und hängt eng mit der Vorstellung von „Raum“ zusammen. Im Anschluss daran wird das Wohnen näher spezifiziert und ganz besonders die Privatheit des Wohnens im Kontext mit der Menschenwürde diskutiert. Dabei werden kurz die gängigen Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung dargestellt.
Die von freien Trägern schwerpunktmäßig angebotene Wohnform in geschlossenen Heimen wird im Folgenden in Verbindung mit dem von Goffman entworfenen Konzept der totalen Institution gebracht. Dabei wird jedoch eine Spezifikation dieses Entwurfs nach McEwen favorisiert, die stärker auf die Differenzen unterschiedlicher Typen von der Gattung „Totale Institution“ ausgeht und dabei weniger, wie Goffman es vertrat, die Gemeinsamkeiten hervorzuheben.
Im dritten Kapitel wird nun die Forschungsfrage formuliert. Diese gliedert sich in verschiedene Ebenen auf. Für manche im Kontext langjähriger Forschungstraditionen Verhaftete, mag dieses Kapitel der Herleitung und Formulierung zentraler Forschungshypothesen gleichen. Das hier avisierte qualitative Forschungsdesign strebt aber danach, kontextfrei und ergebnisoffen zu sein. Daher liegt es nahe, die Formulierung von Hypothesen zugunsten von ergebnisoffenen Fragen zu substituieren. Nach eingehender Diskussion wird die zentrale Forschungsfrage wie folgt formuliert: „Wie ist die Lebenssituation institutionalisiert lebender Menschen mit geistiger Behinderung?“ Diese übergeordnete Forschungsfrage wird nochmals in zwei untergeordnete spezifiziert:
- „Wie wirken sich die Heime und deren Strukturrahmen auf die Menschen, die dort stationär betreut werden, aus?“
- „Wie wird die Lebenspraxis von Menschen mit geistiger Behinderung innerhalb der beherbergenden Institution erfahren?“
Im vierten Kapitel wird nun dezidiert darauf eingegangen, wie der Verfasser versucht, diese Fragen forschungsmethodisch einer Antwort zuzuführen. Trescher ordnet die strukturelle Frage der objektiven Hermeneutik zu, die er wohl in ähnlichen Kontexten bei anderen Projekten erprobt hat. Die zweite Frage des „Erfahrens“ (im Sinne von „Erleben“) hat einen stark subjektiven Anstrich. Trescher erkennt, dass die gängigen Methoden der sozialwissenschaftlichen Forschung in diesem Falle erweitert und ergänzt werden müssen. Schließlich habe man die verbal- und schriftsprachliche Beeinträchtigung von Menschen mit geistiger Behinderung zu berücksichtigen. Hier schlägt er psychoanalytisch-tiefenhermeneutische Operationen vor, die enorme Anforderungen an die Forschenden stellen. Sie sind an keine Regelhaftigkeit gebunden und darauf angewiesen, situativ den geeigneten Zugang zu finden. Im Folgenden leitet nun der Verfasser seinen methodischen Ansatz dezidiert her. Bei der Beschreibung der Grundlagen der objektiven Hermeneutik stützt er sich vornehmlich auf die Maxime von Overmann, bei der spezifischen Ausfächerung als „tiefenhermeneutische Kulturanalyse“ dann auf Alfred Lorenzer. Methodisch weiter ausgefächert und differenziert hat König diesen Ansatz, um ein tiefenhermeneutisches Verstehen von Texten zu ermöglichen. Insgesamt schildert der Verfasser hier sehr detailliert die einzelnen Prozesse.
Im Rahmen des fünften Kapitels wird nun beschrieben, wie die vorher diskutierten methodischen Maximen praktisch umgesetzt wurden, also von der Phase der Schulung der Personen, die vor Ort erhoben haben, über das im Vorfeld zu generierende Material bis hin zu den Mustern, die für die Strukturerhebung der einzelnen Träger entwickelt wurden.
Im sechsten Kapitel wird das Ergebnis der Erhebungen in der „Institution A“ vorgestellt. Besser gesagt, es werden die einzelnen Zwischenergebnisse dargestellt und diskutiert, die – immer weiter verdichtet – zu dem Gesamtergebnis bezogen auf diese Institution führen. Damit wird deutlich, dass die Einzelheit, auch die jeweils spezifisch fokussierte Gruppe, immer im Kontext mit dem großen Ganzen betrachtet und diskutiert wird. Sehr interessant sind dabei die subjektiven Komponenten des „Erlebens“ von Menschen mit geistiger Behinderung dieser Institution und deren Protagonisten, die durch eine Mischung aus narrativem Interview und Beobachtung versucht wurden zu ermitteln.
Schließlich konnten bei der Auswertung die eher objektiven Kategorien gebildet werden, wie Verwahrlosung, Überwachung und Regulierung, Objektivierung, Infantilisierung und Vergemeinschaftung. Diese wurden durch die eher subjektive Komponente des „Erlebens“ ergänzt.
Im Kapitel 7 wird in gleicher Weise mit der „Institution B“ verfahren. Auch hier wurden die identischen Kategorien gebildet und detailliert inhaltlich ausgefüllt.
Im Rahmen des achten Kapitels wurde nun das empirische Fazit gezogen und ein Ausblick gewagt. Dieses Fazit berücksichtigte alle untersuchten Gruppen und die beiden Institutionen. Dies führte, wiederum, zu übergreifenden Kategorien. Zum Ersten spitzen sich die Aussagen zur Kategorie „Entfremdung“ zu. Hier ist weiter in räumliche, soziale und emotionale Entfremdung zu unterscheiden. Die nächste übergreifende Kategorie ist die der Einsamkeit. Danach folgt die der Überwachung und Regulierung und letztlich die der Objektivierung.
In einer weiteren Ausführung werden kurz die Phasen beschrieben, die bei den Heimbewohnerinnen und -bewohnern als „Momente des Glücks“ empfunden wurden.
Schließlich wird auf die Frage der Wirkmächtigkeit von Bürokratie eingegangen und ein Ausblick gewagt.
In einem weiteren Hauptkapitel (Kapitel 9) wird dann auf die methodische Herausforderung eingegangen. Während die objektive Hermeneutik im Bereich der Strukturanalysen noch gut bewältigt werden konnte, stellte die Bearbeitung der „affektiven“ Ebene doch eine enorme Herausforderung dar. Zudem, dies wird auch anhand der Protokolle deutlich, spielen subjektive Momente eine enorm hohe Rolle, und damit sind die Postulate der Objektivität und der Reliabilität nicht zweifelsfrei einzuhalten gewesen. Ein wenig konnte dies durch die Rückkoppelung der Ergebnisse an die Institution – und die damit verbundenen Diskussionen – relativiert werden. Auch die Kontextualisierung dieser Ergebnisse mit den objektiv hermeneutischen Strukturanalysen sei hierbei sehr hilfreich gewesen, so der Verfasser.
Im zehnten Kapitel wird nun der Versuch unternommen, die Ergebnisse schließlich auf die theoretischen Grundlagen im Rahmen des zweiten Kapitels zu beziehen. Bemerkenswert ist hierbei- neben vielen anderen Aspekten-, dass schlussendlich vom Verfasser eine völlige Neuausrichtung der Sonderpädagogik vor dem Hintergrund eines vermeintlich ebenfalls dringend zu reformierenden Behindertenbegriffs gefordert wird.
Im elften Kapitel wird auf die praktischen Konsequenzen eingegangen, die unter folgende Rubriken gefasst wurden: Deinstitutionalisierung, Risiko des Nichtwissens, Abbau der Bürokratie, Reflexionsebenen für Mitarbeitende, Entobjektivierungspraxen, Alltagsgestaltung, Bezugsbetreuung, Vergemeinschaftung und Anforderungsprofile für Mitarbeitende.
Letztlich, im zwölften Kapitel, wird dann der Inhalt des Buches zusammengefasst, und es werden wesentliche Erkenntnisse herausgeschält. Zentral ist einerseits die Kritik an der gegenwärtigen Versorungspragmatik der Behindertenhilfe. Andererseits wird postuliert, dass Inklusion völlig neu gedacht werden müsse, nämlich insbesondere als Prozess der Dekonstruktion von Diskursteilhabebarrieren.
Diskussion
Dieses Buch ist aus mehreren Gründen lesenswert. Zum einen sind es die Inhalte der einzelnen Analysesequenzen in den beiden Institutionen. Hier keimt in der einen oder anderen Stelle – ganz konkret – die Hoffnung auf, es mögen jeweils nur Ausnahmeerscheinungen gewesen sein, die hier zu Protokoll gegeben wurden. Daneben sind es aber auch die Kategorien, die aus den Erhebungen herausgeschält werden konnten, die eine sehr präzische Widerspiegelung der Praxis der beiden Institutionen – vielleicht aber auch darüber hinaus – darstellen.
Neben diesen Erkenntnissen ist jedoch der forschungsmethodische Zugang zur Analyse und Auswertung der Daten von enormer Bedeutung. Immerhin geht es um derart schwierige Aufgaben, z.B., wie das Problem der Analyse von subjektiven Befindlichkeiten von sprachlich in Wort und Schrift sehr eingeschränkten Zielgruppen einer Lösung zuzuführen ist Schließlich handelt es sich um Menschen mit zum Teil schwerer geistigen Behinderung. Jedoch wird auch schon bei der Schilderung der Ergebnisse der Analyse deutlich, dass sie stark von den Werten und Einschätzungen der jeweiligen Personen, die erhoben haben, eingefärbt sind. Aber, der Ansatz der Tiefenhermeneutik impliziert eben förmlich diese Schwäche per se.
Zwei Dinge sind aus der Perspektive des Rezensenten anzumerken, die weniger gefallen:
- Zum einen ist es das Gefühl im letzten Drittel des Buches, es handele sich um eine „Never Ending Story“. Ab dem Kapitel neun bis zum Kapitel zwölf löst eine Zusammenfassung, ein Ausblick und ein Fazit die bzw. das andere ab. Manchmal wünschte man sich, der Verfasser hätte dies alles ausschließlich im Rahmen eines einzigen Hauptkapitels ausgeführt, dafür aber gut strukturiert.
- Und damit ist man schon bei der zweiten Schwachstelle angelangt. Dabei handelt es sich um die Frage der Strukturierung der Inhalte insgesamt. Die zwölf Hauptkapitel hätte man weitgehend „eindampfen“ können, denn nicht alle Kapitel nehmen einen nur annährend gleichwertigen Stellenwert ein. Das heißt letztlich im Klartext, dass die Gliederung nicht ausgewogen ist. Aber auch die Strukturierung in den kleinteiligen Binnenkategorien wirft immer wieder Fragen auf. Man hätte zumindest die Kategorien, die man aus den Analyseinhalten gebildet hat, auf einer gleichen sachlichen und inhaltlichen Ebene abbilden und formulieren sollen. Gemeint ist hierbei die Frage, ob die Kategorien, z.B. im Rahmen des zehnten Kapitels – (Deinstitutionalisierung, Risiko des Nichtwissens, Abbau der Bürokratie, Reflexionsebenen für Mitarbeitende, Entobjektivierungspraxen, Alltagsgestaltung, Bezugsbetreuung, Vergemeinschaftung und Anforderungsprofile für Mitarbeitende) – sehr glücklich gewählt und ausformuliert wurden?
Fazit
Dieses Buch ist außerordentlich anspruchsvoll, sowohl in der Herleitung der theoretischen Grundlagen als auch in der Frage der Gestaltung des Forschungsdesigns. Die Ergebnisse sind richtungsweisend und bilden einen weiteren Baustein in der Frage, ob die Forderungen, ableitbar aus der UN-Behindertenrechtskonvention oder aus dem Ansatz der Inklusion mit den derzeitigen institutionellen Rahmenbedingungen der Behindertenhilfe überhaupt kompatibel sind. Dieses Buch ist -trotz sehr rudimentärer Schwachstellen (wäre schlimm, man könnte gar nichts kritisieren!!) – insgesamt sehr empfehlenswert.
Rezension von
Prof. Dr. Arnold Pracht
Hochschule Esslingen
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