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Nele McElvany, Anja Jungermann et al. (Hrsg.): Ankommen in der Schule

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 02.08.2017

Cover Nele McElvany, Anja Jungermann et al. (Hrsg.): Ankommen in der Schule ISBN 978-3-8309-3556-8

Nele McElvany, Anja Jungermann, Wilfried Bos, Heinz Günter Holtappels (Hrsg.): Ankommen in der Schule. Chancen und Herausforderungen bei der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2017. 199 Seiten. ISBN 978-3-8309-3556-8. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

Wenn Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen in Deutschland ankommen, ist eine der größten Herausforderungen die, Deutsch zu lernen und in der Schule Anschluss zu finden. Was Lehrkräfte, Schulverwaltungen und die Bildungspolitik, aber auch die Schul- und Bildungsforschung dafür tun können, ist eine dringende Frage.

Herausgeberinnen und Herausgeber

  • Dr. Nele McElvany ist Professorin für Empirische Bildungsforschung,
  • Anja Jungermann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin,
  • Dr. Wilfried Bos ist Professor für Bildungsforschung und Qualitätssicherung und
  • Dr. H.G. Holtappels ist Professor für Erziehungswissenschaft, allesamt an der TU Dortmund.

Autorinnen und Autoren

Die Beiträge stammen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in Dortmund, aber auch an anderen Hochschulen (u.a. Universität Köln, Frankfurt/M., Hamburg, Marburg) oder in der Schulverwaltung, Lehrerbildung tätig sind.

Aufbau

Nach kurzem Vorwort der Herausgeber zur Übersicht folgen 15 Beiträge, jeweils zwischen 6 und 20 Seiten lang, von insgesamt 23 Autorinnen und Autoren. Die Beiträge gliedern sich in 5 Bereiche:

  1. schulische Rahmenbedingungen
  2. Integration in Regelkassen
  3. Lernen der Zweitsprachen
  4. Traumabewältigung
  5. Perspektiven durch Einwanderung

Wichtige Ergebnisse

Statt alle 15 Beiträge einzeln vorzustellen, fasse ich die wichtigsten Ergebnisse wie folgt zusammen:

  1. Nach den offiziellen Zahlen sind über 70 % der Personen, die in Deutschland Zuflucht gesucht haben, jünger als 30 Jahre, mehr als ein Fünftel im schulpflichtigen Alter (also unter 18, Bayern bis 21 Jahre). Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung haben, wie alle Minderjährigen, das Recht auf Bildung. Allein das Land Nordrhein-Westfalen steht in dieser Verpflichtung für etwa 90.000 Kinder und Jugendliche.Die Bundesländer haben verschiedene Systeme entwickelt, wann und wie sie die Vorbereitungsklassen mit dem Regelunterricht verbinden bzw. dorthin überführen. Kinder und Jugendlichen sollen so früh wie möglich in eine Regelklasse wechseln, was aber bedingt, dass gerade auch die Lehrkräfte im Fachunterricht diesen „Seiteneinsteigern“ große Aufmerksamkeit und Unterstützung zuteil werden lassen.
  2. Die Herausforderungen heterogener Lerngruppen gelten hier verschärft, da die Kinder und Jugendlichen sowohl Deutsch als Alltagssprache als auch als Bildungssprache erlernen, während ihre Herkunfts- und Familiensprache vielleicht nicht im lateinischen Alphabet verschriftlicht ist. Der Unterricht ist so zu gestalten, dass diese Schülerinnen und Schüler sprachlich extrem beteiligt werden, auch in Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit. Die Kinder und Jugendlichen mit Fluchterfahrung sollen aber auch dadurch gestärkt werden, dass ihre Herkunftssprachen als Ressource wahrgenommen werden. Mehrsprachige Wörterlisten z.B. finden alle Schülerinnen und Schüler interessant.
  3. Wenn die Vorbereitungskurse mit den Regelklassen Verbindungen herstellen (z.B. in Projekten, Sport), spätestens aber mit dem Übergang der jungen Flüchtlinge dorthin haben sich die multikulturellen Klassenzimmer zu bewähren. Der Kontakt miteinander führt nicht notwendigerweise zu mehr Information, Verständnis und Sympathie. Die Lehrkräfte haben mit kultureller Sensibilität und Respekt voranzugehen.
  4. „Teach First Deutschland“ ist eine gemeinnützige Initiative mit dem Ziel, Freiwillige mit Hochschulabschluss dafür zu gewinnen, Lehrkräfte zu unterstützen, etwa auch Kinder und Jugendliche im Übergang zur Regelschule. In NRW haben sich 53 sog. Kommunale Integrationszentren zu einer landesweiten Koordinierungsstelle zusammengefunden. Abgeordnete Lehrkräfte und /oder Sozialpädagoginnen beraten dabei die Kinder und Jugendlichen mit Fluchterfahrung, vor allem auch deren Eltern, welche Schule deren Potentiale am besten fördern kann.
  5. Kinder und Jugendliche haben vor ihrer Flucht und auf der Flucht Krieg und Gewalt erfahren. Wenn sich Erinnerungen daran aufdrängen und die Ereignisse unverändert intensiv „neu erlebt werden“, handelt es sich um eine sog. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Deren Symptome (Depression, erhöhte Erregbarkeit, Schreckhaftigkeit usf.) können auch in der Schule auftreten. Die Lehrkräfte sollten darauf vorbereitet sein, auch wenn sie nicht für die Therapie ausgebildet und zuständig sind. Bewährt hat sich u.a. die Vereinbarung, dass betroffene Schüler und Schülerinnen mit dem Zeigen einer Notfall-Karte das Klassenzimmer ohne weitere Erklärung verlassen dürfen. Die Schule selbst kann den Kindern und Jugendlichen nach der Fluchterfahrung allein durch den geregelten Alltag Normalität und Sicherheit vermitteln, durch feinfühlige Bezugspersonen Vertrauen schaffen, durch Respekt und Wertschätzung das Selbstbewusstsein stärken und Zukunftsperspektiven eröffnen.

Diskussion

Die Beiträge unterscheiden sich, wie nicht anders zu erwarten, im Duktus, Stil und Ansatz ganz erheblich.

Da sind die Artikel von Ilka Lennertz und Sarah Inal, die durchaus die Grenzen, aber dann doch euphorisch und überzeugend die Möglichkeiten der Schule aufzeigen. Sie gehen soweit, der Schule einen „wesentlichen Beitrag zur psychischen Gesundheit der geflüchteten Kinder und Jugendlichen“ zu attestieren.

Dem stehen Beiträge gegenüber, die sich an den Problemen der „Beschulung“ (!) abarbeiten und die Potentiale multikultureller Lerngruppen behaupten, aber nicht veranschaulichen. Irgendwie vermitteln sie dem Leser das Gefühl, „Mehrsprachigkeit“ sei beschwerlich oder störend.

Etliche Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Bildungsforschung beschränken sich darauf, die Forschungslücken zu beklagen oder zu begründen, weshalb die hochkomplexe US-amerikanische Forschung hier nicht wirklich weiterhilft. Ob nun die Erst- (d.h. Familien- und Herkunfts-)sprache und die Zweit- (d.h. Schul-)sprache miteinander konkurrieren oder aber sich wechselseitig befördern, also Wettbewerb oder Interdependenz für den Spracherwerb bestimmend ist, ist nicht zu entscheiden, ist aber auch nicht wirklich wichtig. Muttersprachlicher Unterricht ist keine Option. Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, tun gut daran und sind hoch motiviert, Deutsch zu lernen. In jedem Falle ist eine Rückkehr zeitlich nicht festgelegt, eine Berufsausbildung hier immer der nächste Schritt.

Der Band enthält auch ein knappes Statement von Sylvia Löhrmann, die bis vor kurzem Bildungsministerin in NRW war.

Ellen Schulte-Bunert gibt einen Überblick über die Konzeption „Deutsch als Zweitsprache“ in Schleswig-Holstein.

Fazit

Der vorliegende Band ist eine vehemente Aufforderung an die Erziehungs- und Sprachwissenschaften, sich mit den Potentialen von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung und den Lernprozessen in multikulturellen Klassenzimmern zu befassen.

NRW hat hier wichtige Vorarbeiten geleistet, die nun andere Bundesländer aufgreifen sollten.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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Es gibt 128 Rezensionen von Wolfgang Berg.

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ISSN 2190-9245