Maria Borcsa, Christoph Nikendei (Hrsg.): Psychotherapie nach Flucht und Vertreibung
Rezensiert von Mag.a Manuela Pichler, 17.04.2019

Maria Borcsa, Christoph Nikendei (Hrsg.): Psychotherapie nach Flucht und Vertreibung. Eine praxisorientierte und interprofessionelle Perspektive auf die Hilfe für Flüchtlinge. Georg Thieme Verlag (Stuttgart) 2017. 2224 Seiten. ISBN 978-3-13-240745-9. 49,99 EUR.
Thema
Die Herausgeber möchten mit diesem Buch auf die Herausforderungen in der psychosozialen Betreuung und psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit Fluchterfahrung eingehen. Es ist aus einer interprofessionellen Perspektive verfasst und soll die Vernetzung und Verbesserung der psychoherapeutischen Versorgung von geflüchteten Menschen stärken. Der psychotherapeutische Schwerpunkt des Buches, der etwa ein drittel des Buches ausmacht, wird ergänzt durch Informationen zu Fluchtbewegungen, Asylrecht, Sozialberatung und Selbstfürsorge für Helfer*innen.
Herausgeberin und Herausgeber
- Maria Borcsa ist Professorin für Klinische Psychologie an der Hochschule Nordhausen. Sie absolvierte ihre Ausbildung und war danach Mitarbeiterin an der Psychotherapeutischen Ambulanz der Universität Freiburg und einer Psychosomatischen Fachklinik. Außerdem war sie in eigener Praxis als Psychotherapeutin tätig. Sie ist Dozentin für Systemische Beratung und Therapie und Supervisorin in Verhaltens- und Systemischer Therapie.
- Christoph Nikendei ist leitender Oberarzt im Universitätsklinikum Heidelberg, Leiter der Sektion Psychotraumatologie sowie Oberarzt der psychotraumatologischen Ambulanz. Seine Forschungsschwerpunkte reichen von Gedächtnis bei psychosomatischen Erkrankungen, über Psychotherapieforschung bis hin zu Interkultureller Kommunikation.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus acht Abschnitten
- Einführung
- Prävalenz körperlicher und psychischer Erkrankungen bei Asylsuchenden und Geflüchteten
- Allgemeine und spezifische Grundsätze zur psychotherapeutischen Arbeit mit Geflüchteten
- Psychotherapeutische Unterstützung bei Traumafolgestörungen und psychischer Komorbidität
- Lebensabschnitte
- Vernetzung und Zusammenarbeit
- Belastung und Selbstfürsorge der Helfer(innen)
- Praxisleitfaden und Therapieführer
1. Einleitung
Es werden Hintergründe von Flucht, Fluchtbewegungen und rechtliche Rahmenbedingungen in einem Kurzabriss dargestellt. Globale und europäische Daten und Fakten ermöglichen es, einen Bezug zu einem größeren Kontext herzustellen. Das Buch thematisiert insbesondere auch die Fluchtbewegung 2015, die die europäische Union vor große Herausforderungen stellte mit einem besonderen Focus auf die Situation in Deutschland.
Der Versorgungsbedarf im Gesundheitssystem für geflüchtete Menschen in Deutschland kann nur schwer eingeschätzt werden, da die Datenlage unzureichend ist. Ein hoher Bedarf an psychosozialer und psychotherapeutischer Versorgung kann als gegeben angesehen werden.
2. Prävalenz körperlicher und psychischer Erkrankungen bei Asylsuchenden und Geflüchteten.
Den größten Teil an Erkrankungen unter geflüchteten Menschen bilden alltägliche Erkrankungen wie Erkrankungen der Atmungsorgane, Hauterkrankungen, Krankheiten des Gastrointestinaltrakts und Schmerzzustände. Wichtig ist es auch, das Risiko von Infektionskrankheiten zu bedenken und durch Impfungen sowie gute Hygienestandards in den Unterkünften vorzusorgen.
Im Unterschied zur Normalbevölkerung sind Menschen mit Fluchterfahrung wesentlich häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen. Zu den häufigsten zählen posttraumatische Belastungsstörungen, Angsterkrankungen, Depressionen und Somatisierungsstörungen.
Menschen mit Fluchterfahrung sind vielfältigen Belastungen ausgesetzt. „Nicht nur die existenzbedrohlichen Zustände in der Heimat, sondern auch dramatische Fluchterlebnisse und die Lebensbedingungen während des Asylverfahrens können zu Traumatisierungen führen, die durch das Leben in permanenter Unsicherheit verschlimmert werden können.“ (S. 36)
3. Allgemeine und spezifische Grundsätze zur psychotherapeutischen Arbeit mit Geflüchteten
Eine wesentliche und notwendige Voraussetzung für die Arbeit mit geflüchteten Menschen sind Dolmetscherdienste. Sie müssen im Gesundheits- Sozial- und Bildungswesen ausreichend verfügbar sein und es bedarf einer einheitlichen Regelung über Abrufbarkeit und Finanzierung um eine qualitätsvolle, professionelle Hilfe anbieten zu können.
Eine kultursensible Behandlung erfordert zudem ein offenes und wertschätzendes Erkunden der Lebenswelten und Erklärungsmodelle der Klientinnen. Mitunter bedeutet dies eigene Überzeugungen und Werte zu hinterfragen und teilweise zu revidieren. Eine achtsame, ressourcenorientierte Vorgehensweise und besonders das Angebot einer sicheren, helfenden Beziehung sind förderlich.
Auch stellen bürokratische und institutionelle Rahmenbedingungen Barrieren für die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten für Menschen mit Fluchterfahrung dar, die im Sinne eines Diverstitätsverständnisses kritisch hinterfragt werden sollten.
4. Psychotherapeutische Unterstützung bei Traumafolgestörungen und psychischer Komorbidität
Das vierte Kapitel stellt den größten Abschnitt des Buches dar.
Zuerst werden mögliche Folgen von Traumatisierung und ihre Diagnostik besprochen. Posttraumatische Belastungsstörung, akute Belastungsreaktion, komplexe PTBS, Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung und Anpassungsstörung werden entsprechen den ICD Kriterien dargestellt. Im Kontext von Flucht und Vertreibung sind insbesondere die Erlebnisse von Krieg, Terror, Folter, Vergewaltigung, die Flucht an sich und die Zeit bis zur Entscheidung über den Asylantrag im Ankunftsland belastende Faktoren. „Die Anerkennung als Flüchtling mit bleibendem Aufenthaltsrecht ist eine grundlegende Bedingung für eine erfolgreiche psychische Stabilisierung und für den Rückgang der … posttraumatischen und komorbiden Symptomatik.“ (S. 79)
Häufige weitere Belastungen sind die Sorge um Angehörige sowie Gewalterfahrungen im Zielland. Stabilisierende Techniken, das Arbeiten mit Ressourcen und konfrontative Elemente stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Am besten ist die Wirksamkeit der narrativen Therapie nachgewiesen. Insbesondere sind kulturelle Aspekte bezüglich Krankheitsverständnis und Beziehungsgestaltung zu berücksichtigen ebenso wie Sprachbarrieren.
5. Lebensabschnitte
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Besonderheiten in der Arbeit mit geflüchteten Menschen in den unterschiedlichen Lebensaltern.
Da gibt es die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die oft hoch belastet sind zugleich aber auch über viele Kompetenzen und Ressourcen verfügen. Wesentlich ist eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit. In der Psychotherapie steht Stabilisierung im Vordergrund, sowie das Ermöglichen von Aktivitäten, die das Gefühl „dazuzugehören“ stärken.
Bei der Arbeit mit Familien sind insbesondere auch Prozesse, die im Familiensystem durch die Traumatisierung ausgelöst wurden zu berücksichtigen. „ Hyper-Vigilanz und Kontrollbestrebungen können die Kommunikation, Interaktionen, innerfamiliäre Grenzen und das Rollenverhalten innerhalb des Familiensystems verändern.“ (S. 144) Ein Blick auf die innerfamiliären Beziehungen ist wichtig, um dem Aspekt der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen gerecht zu werden, ebenso ist ein intensives Arbeiten mit den vorhandenen Ressourcen anzustreben.
Ältere, geflüchtete Menschen sind psychotherapeutisch häufig unterversorgt, oft befinden sie sich lange Zeit ausschließlich in somatischer medizinischer Versorgung, was auch dadurch bedingt ist, dass nur wenige muttersprachliche therapeutische Angebote zur Verfügung stehen.
6. Vernetzung und Zusammenarbeit
Der Bedarf an sozialarbeiterischer Unterstützung für geflüchtete Menschen ist sehr hoch. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Medizin, Psychologie und Recht ist dabei von immanenter Wichtigkeit. Das Ausmaß der Vernetzung ist abhängig von den Ressourcen, die für soziale Arbeit zur Verfügung stehen und variiert stark. Gelingt die Zusammenarbeit können sich die Disziplinen „… ideal ergänzen und zu einer verbesserten Versorgung der Asylsuchenden … beitragen.“ (S. 164)
Der Nachweis von Traumafolgestörungen in gutachterlichen Prozessen im Rahmen von aufenthaltsrechtlichen Verfahren ist eine sehr schwierige Aufgabe. Die betroffenen Personen neigen bedingt durch die belastenden Erfahrungen zu Misstrauen, Feindseligkeit und Resignation, eine Vielzahl an komorbiden Störungen kann die posttraumatischen Symptome überlagern und intensive Gegenübertragungsprozesse erfordern ein hohes Maß an gutachterlichem Geschick.
7. Belastung und Selbstfürsorge der Helfer(innen)
In der Arbeit mit geflüchteten Menschen ist neben Burnout die sekundäre Traumatisierung ein wichtiges Thema. Oft sind Mitarbeiter*innen resilient und die Arbeit ist erfüllend und Sinnstiftend. Belastungen sind aber ein alltäglicher Bestandteil und auch Erschöpfungszustände können „…als eine natürliche Konsequenz gesehen“ werden, „die nicht notwendiger Weise eine Problem darstellt, sondern vielmehr als ein ’natürliches Beiprodukt’ betrachtet werden sollte.“ (S. 177)
Wichtig ist es, die eigenen Belastungen ernst zu nehmen und nicht zu tabuisieren, für eine gute Abgrenzung zwischen Beruf und Privatleben zu sorgen, individuelle Stressbewältigungsmechanismen zu etablieren, emotionalen Ausgleich zu schaffen sowie regelmäßige Supervision und kollegialen Austausch zu pflegen.
8. Praxisleitfaden und Therapieführer
Den Abschluss bildet eine tabellarische Übersicht zur diagnostischen Klassifizierung psychischer Belastungsreaktionen sowie zu diagnostischen Instrumenten, die in der Arbeit mit geflüchteten Menschen relevant sein können. Außerdem werden Behandlungsangebote und Anlaufstellen für Menschen mit Fluchterfahrung in Deutschland aufgeführt.
Zielgruppe
Das Buch ist zuerst für PsychotherapeutInnen, aber auch für ÄrztInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen und alle Personen, die mit geflüchteten Menschen arbeiten geschrieben. Es gibt einen guten Überblick über das Feld in dem die Arbeit mit geflüchteten Menschen stattfindet, der Schwerpunkt liegt aber bei den psychotherapeutischen Maßnahmen. Der Überblick zur Angebotslandschaft in Deutschland macht es besonders für Tätige in der Bundesrepublik als konkretes Arbeitsmaterial nützlich.>
Fazit
Das Buch gibt einen guten Überblick über den aktuellen Stand in der psychosozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen in Deutschland mit einem Schwerpunkt auf die Situation der psychotherapeutischen Versorgung. Methoden und Settings werden beschrieben und übersichtlich systematisiert. Auf die Methoden wird nicht im Detail eingegangen, sodass sich das Buch als ein Hinweis zur weiteren Auseinandersetzung versteht. Die Kapitel sind teilweise stark zergleidert, einzelne Aspekte werden nur angerissen, doch dadurch ergibt sich auch ein weitläufiger Überblick zur Thematik. Die zahlreichen Falldarstellungen, machen die Themen plastisch und praxisnah.
Erwähnenswert finde ich auch die Lösung zur gendergerechten Sprache. So haben die Herausgeber und Autorinnen vorwiegend den Plural oder geschlechtsneutrale Formulierungen gewählt und ansonsten männliche und weibliche Form abgewechselt. Das ist eine wirklich gute Idee!
Rezension von
Mag.a Manuela Pichler
Klinische- und Gesundheitspsychologin, Arbeitspsychologin
Publikation:
http://www.zks-verlag.de/subjektives-wohlbefinden-im-alter-print/
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