Harvey Ratner, Denise Yusuf: Kurzzeit-Coaching mit Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann, 13.03.2018
Harvey Ratner, Denise Yusuf: Kurzzeit-Coaching mit Kindern und Jugendlichen. Ein lösungsorientierter Ansatz.
Junfermann Verlag GmbH
(Paderborn) 2017.
192 Seiten.
ISBN 978-3-95571-567-0.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR.
Reihe Coaching Skills kompakt, Band 8.
Thema
Der Lösungsfokussierte Ansatz der sogenannten Milwaukee Schule um Steve de Shazer und Insoo Kim Berg hat eine ausgesprochen wertschätzende Haltung zum Fundament, bei der durch die sogenannte Fertigkeit des Nichtwissens davon ausgegangen wird, dass die um eine Beratung anfragende Person die Lösung zu einer zukünftigen Veränderung bereits in sich selber trägt. Nach diesem Verständnis geben die sogenannten Klient*innen die Ziele für eine Beratung und den Weg der gewünschten Veränderung(en) vor. Grundlegend erweist es sich dabei, zwischen sogenannten wohlformulierten Zielen (Jong/Berg 2003) und Lösungen zu unterscheiden. Lösungen (Shazer/Dolan 2008) intendieren eine potenzielle Veränderungsoption aus den Vorstellungen der Adressat*innen selbst heraus, in dem Sinne, dass (wieder) eine selbstgesteuerte Lebendigkeit in die alltagsgestalteten Prozesse einkehrt. Der Knoten der gefühlten und zum Teil erlebten Starre, die Ohnmacht und der Mangel an Handlungsoptionen löst(!) sich durch diesen Prozess. Lösungsbilder sind dabei Imaginationen eines zukünftig veränderten Zustands, die durch ihre möglichst detailreiche Ausmalungen insbesondere von handlungsbezogenen Interaktionen im alltäglichen Netzwerk der sozialen Beziehungen eine motivierende Attraktivität gewinnen.
Daraus handlungsunterstützende wohlformulierte Ziele zu erarbeiten, die in ihrer Konkretheit sich auf nächste, im Bezug zu bestehenden Ressourcen realisierbare und realistische Handlungsschritte ausrichten, die maßgeblich durch die Adressat*innen selbstinitiierbar sind, wird zum zentralen beraterischen Handwerkszeug durch die Konstruktion kommunikativer Lösungsräume. Dabei geht es jedoch nicht allein und maßgeblich um das Erreichen der ausgearbeiteten Ziele als vielmehr das durch das Gehen dieser geplanten Wege ermöglichte Erleben einer Selbstwirksamkeit im Sinne der oben benannten (Wieder)Einkehr von selbstgesteuerter Lebendigkeit durch die Adressat*innen selbst. Häufig erscheint der Eindruck, dass bspw. in der Kinder- und Jugendhilfe sogenannte Hilfeplanziele zum einen eher Auflagen sind an die Adressat*innen und nicht als deren eigenständig entwickelte Vorstellungen eines selbstbestimmteren gelingenderen Alltags zu fassen sind. Zum anderen besteht zumeist eine Gefahr, dass eben das Erreichen der Ziele zum eigentlichen Ziel wird und nicht die Erlangung der von selbstgesteuerter Lebendigkeit, die wiederum auch die Option beinhaltet auf dem Weg das Ziel ändern zu können.
In diesem durchaus als anwendungsorientiert zu verstehenden Arbeitsbuch werden neben den fachlich-konzeptionellen sowie anwendungsbezogenen Grundlegungen maßgeblich realisierte Praxisbezüge dieses radikal lösungsfokussierten Vorgehens mit Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Settings und Ausgangslagen sowie Kontextualisierungen vorgestellt, zumal dieser Beratungsansatz kein abstrakt-theoretisches Modell darstellt sondern über eine breite praxisbasierte Evidenz verfügt.
Autor*innen
Harvey Ratner ist Gründungsmitglied von BRIEF, einem bereits im Jahr 1989 gegründeten Coaching- und Weiterbildungsinstitut in London. Er arbeitet hauptsächlich mit Jugendlichen und Familien.
Denise Yusuf arbeitet als Coach und Supervisorin, hauptsächlich in Schulen sowie für Jugend- und Hilfsorganisationen.
Aufbau und Inhalt
Das bei knapp 200 Seiten durchaus übersichtlich gehaltene Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Das ausführliche Inhaltsverzeichnis lässt sich bei der Deutschen Nationalbibliothek einsehen.
Nach einem kurzen vorangestellten Vorwort werden im ersten Kapitel die zentralen Haltungs- und Vorgehensweisen eines durchweg radikal lösungsfokussierten Arbeitens ausgeführt. Deutlich bezugnehmend auf die nunmehr vor bald vierzig Jahren initiierte sogenannte Milwaukee Schule um de Shazer und Berg führen Ratner und Yusuf zunächst in aktuelle Weiterentwicklungen sowie den Beratungsprozess konturierende Aspekte ein, um daran in einer Vielzahl kürzerer Unterkapitel die Grundlagen der Haltung, der Verfahrensweisen, ganz konkreter Fragetypen und Formulierungen, zumeist an konkreten Beispielen sowie in verschiedenen Kontexten und Ausgangslagen ausgeführt, grundlegend vorzustellen.
Im zweiten Kapitel wird auf dieser Basis maßgeblich das „Coaching mit Kindern“ (S. 41) wiederum an konkreten Beispielen dargelegt.
Es folgen Kapitel zum „Coaching mit Jugendlichen“ (S. 69) sowie zur „Rolle der Eltern im Coaching“ (S. 89). Ein durchaus intensiverer Blick wird der „Gruppenarbeit“ (S. 97) gegeben, um dabei, wiederum auf konkreten Beispielen basierend, Verfahrensweisen ausgesprochen handlungsorientiert dazulegen.
Aufgrund der Handlungsbezüge der Autor*innen wird das „Coaching in der Schule“ (S. 119) mit einem umfangreichen Kapitel gewürdigt, um anschließend Transferanregungen für „Coaching in unterschiedlichen Settings“ (S. 149) anzureißen.
Das achte Kapitel rundet das Buch mit einem Einblick in verschiedene „Materialien“ (S. 163) ab.
Diskussion
Dieses ausgesprochen anwendungs- und handlungsorientierte Fachbuch überzeugt durch seine fundierte Tiefe und die differenzierte Darlegung einer hochanspruchsvollen Praxisevidenz. Der im Vorwort formulierte Anspruch an das Buch „so praktisch wie möglich“ (S. 9) zu sein, wird in voller Gänze erreicht, zumal nicht jedes mit ‚lösungsorientiert‘ überschriebene Buch auch diesen Ansatz in dieser konsequenten Form zu Grunde legt: „Lösungsorientiertes Kurzzeit-Coaching ist ein eigenständiges Modell. Um zu wirken, braucht es keine anderen Ansätze, und es lässt sich auch nicht in sie integrieren“ (S. 28). Dem ist durchweg zuzustimmen.
Eine Herausforderung liegt jedoch, zumindest aus einer sozialarbeiterischen Perspektive betrachtet, in einer zumindest als riskant zu bezeichnenden Kontextualisierung einer individualisierenden Beratung. Nun kann es ja durchaus die Situation geben, dass bestimmte, auf die Adressat*innen bzw. auf die sie bedingende Umwelt Einflussfaktoren wirken, die nicht allein selbstinitiativ veränderbar sind, was selbst der kritisch-psychoanalytischen Sicht nachvollziehbar scheint: „Die Psychoanalyse hat sich also mit beiden Ebenen auseinander zu setzen, will sie den Anpassungsdruck, der auf Individuen lastet, verstehen: weder die existienziell-materielle Situation (etwa unter der Bedingung extremer Armut, sozialer Randständigkeit oder Ausbeutung) noch die Situation neurotischen Elends seien gesondert von einander zu betrachten, sondern in gewisser Weise Teil des Ganzen“ (Aigner 2006: 7). Es scheint also durchaus nachvollziehbar, dass auch ein beraterischer Ansatz, der wie die Lösungsfokussierung stark das emanzipatorische Selbstbestimmungsrecht und damit die Adressat*innen selbst bestärkt statt sie zu klientifizieren bzw. pathologisieren, bei bestimmten Ausgangslagen der Individuen an die Grenzen der Veränderbarkeit stößt. Die allein einzelfallbezogene Perspektive maßgeblich bei Kindern und Jugendlichen scheint nicht ausreichend und umfassend zu greifen. Durch einen methodenintegrativen Ansatz gilt es, die Fallarbeit als zugleich einzelfallspezifisch, einzelfallübergreifend und einzelfallunabhängig konzeptionell zu rahmen (Bestmann 2017).
Es geht also um Ermöglichungsbedingungen für das Handeln des Individuums aus sich selbst heraus und zugleich um Bedingungen, die dieses individuelle Handeln auf einer gesellschaftlichen Ebene beeinflussen. Gleichsam unabdingbar notwendig ist so eine aus dem Einzelfall herausgehende und diesen nur als Einzelfall betrachtenden Arbeit. Die Zielstellung von Beratung im Kontext Sozialer Arbeit bedeutet somit, auf der Ebene des Individuums selbstinitiierbare Potenziale zu unterstützen und zugleich auf der Ebene der das Individuum bedingenden und beeinflus-senden Aspekte der Umwelt diese so zu bearbeiten, dass die Ermöglichung zu einem selbstbestimmteren und gelingenderen Alltag real werden kann.
Fazit
Dieses handlungspragmatische Buch überzeugt durch seine inhaltlich-fachliche Tiefe und die differenzierte Darlegung einer hochanspruchsvollen Materie, die sich leichter liest als sie sich im realen Beratungsalltag umsetzen lässt. Dabei wird der Zugang durch die systematische Gliederung, die sprachliche Klarheit ohne unnötige Abstraktionen sowie die aus den eigenen Erfahrungsbezügen der Autor*innen abgeleiteten Praxisbezüge ausgezeichnet gewährleistet. Es bietet eine Vielzahl an konkreten Anregungen und Varianten der lösungsfokussierten Beratung maßgeblich mit der Ausrichtung auf Kinder und Jugendliche. Dieses Buch kann uneingeschränkt sowohl für Studierende, Lehrende und zudem für Handlungspraktiker*innen empfohlen werden und sollte daher in keiner Bibliothek der Sozialen Arbeit fehlen.
Literatur
- Aigner, Josef Christian (2005): Psychoanalyse und soziales Engagement. Innsbruck. Vortrag anlässlich der Antrittsvorlesung am 22. November 2006
- Bestmann, S. (2017): Weniger ist manchmal mehr – Kritiklinien einer lösungsfokussiert sozialraumorientierten Sozialen Arbeit. In: W. Krieger & S. S. Barra (Hrsg.): Systemisch – Kritisch? Kritische Systemtheorie und systemisch-kritische Praxis der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Ibidem Verlag. S. 313-330
- Jong, P. de/ Berg, I.K. (2003): Lösungen (er-)finden. Dortmund: verlag modernes lernen
- Shazer, S. d./ Dolan, Y. (2008): „Mehr als ein Wunder – Lösungsfokussierte Kurztherapie heute“. Heidelberg: Carl-Auer
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann
Professor für Soziale Arbeit im Fernstudium an der IU Internationale Hochschule und Studiengangleiter sowie seit 2000 in freier Praxis als Sozialarbeitsforscher, Praxisberater und Trainer tätig [www.eins-berlin.de].
Schwerpunkte: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Inklusion, Partizipation, Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, Lösungsfokussierter Beratungsansatz, Inklusion, Partizipation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen Sozialer Arbeit, Gestaltung von Qualitätsmanagementprozessen, partizipative Praxisforschungen und Evaluationen.
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Zitiervorschlag
Stefan Godehardt-Bestmann. Rezension vom 13.03.2018 zu:
Harvey Ratner, Denise Yusuf: Kurzzeit-Coaching mit Kindern und Jugendlichen. Ein lösungsorientierter Ansatz. Junfermann Verlag GmbH
(Paderborn) 2017.
ISBN 978-3-95571-567-0.
Reihe Coaching Skills kompakt, Band 8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23129.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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