Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 30.11.2017

Cover Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus ISBN 978-3-406-71426-9

Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Verlag C.H. Beck (München) 2017. 1008 Seiten. ISBN 978-3-406-71426-9. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Die Farbe Rot

Die letzten Filme des 1996 verstorbenen polnischen Regisseurs Krzysztof Kie?lowski sind seine als „Drei-Farben-Trilogie“ in die Filmgeschichte eingegangenen in den Jahren 1993/94 geschaffenen Filme. Der Regisseur verwendet dabei die drei Farben der französischen Nationalflagge (Tricolore) als Titel und Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als Thema des jeweiligen Films: Freiheit – Blau, Gleichheit – Weiß, Brüderlichkeit – Rot. Während der Französischen Revolution war „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eine der zahlreichen Losungen (dokumentiert etwa für Maximilien de Robespierre, 1790), wurde in die Verfassung Frankreichs von 1946 aufgenommen und in der Verfassung der Fünften Republik von 1958 verankert.

„Brüderlichkeit“ klingt nicht sonderlich einladend für Frauen. Und so wurde es denn später, als man(n) für Gender-Fragen sensibilisiert war, ersetzt durch „Solidarität“. So etwa im Grundwertekatalog der SPD: „‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘, die Grundforderungen der Französischen Revolution, sind die Grundlage der europäischen Demokratie. Seit das Ziel der gleichen Freiheit in der Moderne zum Inbegriff der Gerechtigkeit wurde, waren und sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die Grundwerte des freiheitlichen, demokratischen Sozialismus. Sie bleiben unser Kriterium für die Beurteilung der politischen Wirklichkeit, Maßstab für eine bessere Ordnung der Gesellschaft, Orientierung für das Handeln der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.“

Autor

Solidarität heißt auf Polnisch Solidarno??. Unter diesem Namen bekannt geworden ist jene polnische Gewerkschaft, die 1980 aus einer Streikbewegung – Zentrum war die Danziger Leninwerft – entstand und an der politischen Wende 1989 entscheidend mitwirkte; sie sah in aller Klarheit, dass die Idee von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ im real existierenden Kommunismus mit Füßen getreten wurde. Für Gerd Koenen war Solidarno?? 1980 ein Wendepunkt, den er 2007 in seiner Dankesrede für die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung (Koenen, 2007), erhalten für sein Buch „Der Russland-Komplex“ (München: Beck, 2005) so beschrieben hat:

„Aber in diesem Sinne war und bin ich selbst ebenfalls Teil dieses überkommenen deutsch-russischen Komplexes, der ja auch einmal das Ausgangsmedium der kommunistischen Weltbewegung mit all ihrem hochfliegenden Internationalismus gewesen ist. Ich könnte gar nicht sagen, wie alle diese ganz unzusammenhängenden biographischen Erfahrungen – mein Onkel, der Stalingrad-Doktor und Spätheimkehrer; die allfälligen Warnungen vor den ‚Sowjets‘; die Bilder der Skelette auf den killing fields des Ostens, in Leningrad oder in Auschwitz; die Schießscheibe mit dem ‚Iwan‘, auf den ich als nicht anerkannter Verweigerer und Soldat schießen sollte – wie alle diese disparaten Bewusstseinspartikel zu jenem lebensgeschichtlichen Entschluss beigetragen haben, mich ein langes ‚Rotes Jahrzehnt‘ lang in die neokommunistische Sektenwelt der 70er Jahre einzuschließen, die noch immer ganz im Banne einer mythisierten Russischen Revolution stand; um erst mit dem Streik auf der Danziger Lenin-Werft im Sommer 1980 wieder auf den Boden der wirklichen Geschichte zurückzukehren.“ (Koenen, 2007)

Über jenes „lange ‚Rote Jahrzehnt‘“ hatte der Autor schon 2001 in „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977“ (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001) Rechenschaft abgelegt. Ich rechne es zusammen mit dem schon oben genannten „Russland-Komplex“ sowie den vorher und nachher erschienenen Büchern „Die großen Gesänge: Lenin – Stalin – Mao Tsetung. Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts“ (Frankfurt am Main: Eichborn, 1987), „Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?“ (Berlin: Alexander Fest,1998), „Traumpfade der Weltrevolution. Das Guevara-Projekt“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2008) und „Was war der Kommunismus? Ein historischer Essay“ (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010) zu den – durchweg eigenständigen – Vor-Studien des hier betrachteten Werkes. Dessen Erstellung wurde durch die Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf gefördert; wer in „Die Farbe Rot“ deshalb ein „Auftragswerk des Großkapitals“ sehen mag, möge mit dieser Ansicht alt und selig werden.

Wie „wissenschaftlich“ ist das vorliegende Werk?

Der Autor hat ab dem WS 1966/67 Romanistik, Geschichte und Politikwissenschaften studiert und im Frühjahr 1972 das Staatsexamen in Politikwissenschaften und Geschichte abgelegt. Drei Jahrzehnte später hat er eine Dissertationsarbeit im Bereich Neuere Geschichte an der Universität Tübingen zum Thema: „‚Rom oder Moskau‘ – Deutschland, der Westen und die Revolutionierung Russlands 1914-1924“ fertig gestellt, mit der er im Februar 2003 promoviert wurde. In überarbeiteter, ergänzter und gekürzter Form ist diese Arbeit als „Der Russland-Komplex“ (s.o.) publiziert worden. Vom Autor des hier betrachteten Buches als „Dilettant“ zu sprechen, wäre also ein Irrtum; er beherrscht das Werkzeug des Historikers. Zu solcher Souveränität gehört, dass er sich der methodischen Grenzen seines Werkes sehr wohl bewusst ist:

„Ein gelehrtes Werk im Sinne einer methodischen Forschung kann dieses Buch nicht sein, da niemand Spezialist für Weltgeschichte ist. Erst recht konnte es keine neuen Quellen erschließen. Mehr als Eric Hobsbawm über seine große (ungleich gelehrtere) Trilogie des langen 19. Jahrhunderts gesagt hat, ist dieses Buch‚ das, was die Franzosen heute vulgarisation nennen‘. Selbst wenn ich nur auf meine eigenen, dicht gefüllten Regale schaue, von den bibliothekarisch oder elektronisch verfügbaren Wissensaggregaten ganz zu schweigen, ist mir beim Schreiben immer wieder der beängstigende Satz von Marx in den Sinn gekommen: wonach ‚die Tradition aller toten Geschlechter … wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden (lastet)‘. Man braucht nur in die Literaturverzeichnisse und Fußnoten heutiger Forschungsarbeiten zu schauen, um zu sehen, wie aussichtslos der Versuch ist, ‚auf dem Stand der Forschung‘ zu sein, sobald man ein Thema weiter oder sehr weit fasst.“ (S. 1032-1033)

Thema

Und weit, ja sehr weit hat Gerd Koenen seine „Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ gefasst: weltumspannend, von der Neolitischen Revolution bis heute reichend und in Details gehend. Von diesen Details seinen hier zwei betrachtet, weil einen Eindruck davon vermitteln, wie tief der Blick des Autors reicht.

Da findet sich etwa auf S. 364 der einzig erhaltene Brief, den Karl Marx an sein „Liebchen“ schrieb. Der letzte Satz lautet: „Ich liebe Sie in der Tat, mehr als der Mohr v. Venedig je geliebt hat“. Das schreibt kein Jungverliebter in jugendlichem Überschwang. Sondern ein Enddreißiger, damals an „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ arbeitend, seiner vier Jahre älteren Ehefrau Jenny (née baronesse de Westphalen, wie zeitlebens auf ihrer Visitenkarte stand). Mit der war er damals (1856) bereits 13 Jahre verheiratet, und den Eheleuten waren schon sechs Kinder geboren. Man ahnt, welcher emotionale Kraftquell für Karl Marx seine Liebesehe mit Jenny war.

Um auf ein zweites Detail zu kommen. Auf S. 578 finden sich folgende zwei Sätze: „Eine soziologische Durchsicht des Kaderbestandes der späteren bolschewistischen Partei ergibt, dass 1927 immer noch ein Bestand von cirka 3800 Mitgliedern geblieben war – mehrheitlich nun in den höheren Rängen des Machtapparats –, die bereits vor 1905 dazugehört hatten. Das zeigt eine beachtliche Stabilität dieses ersten, kleinen bolschewistischen Gründungskaders, der am Beginn des Revolutionsjahres 1905 kaum mehr als 8000 Aktive gezählt haben dürfte.“ Eine gut eingearbeitete „Stammbelegschaft“ hat das Unternehmen „Lenin“ zu größter Blüte gebracht.

Das vorliegende Werk ist wie jedes gute Geschichtsbuch kein bloßer Bericht vom Dort-und-Damals. Der Bezug zum Hier-und-Jetzt ist im Buch meist implizit; man kann ihn – abhängig von Vorwissen und Erkenntnisinteresse – öfter oder seltener, verschwommener oder klarer erkennen. Aber der Autor stellt Bezüge zum Heute auch selbst explizit her – im Kleinen wie im Großen

Ein Beispiel für „im Kleinen“ findet sich auf S. 360: „Wenn er [Karl Marx] gerade in der individuellen, freien Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau einen Vorschein des Kommunismus sah, dann weil die Aufhebung der ‚Arbeitsteilung‘ zwischen den Geschlechtern der logische geschichtliche Schlusspunkt der Überwindung von Ausbeutung und Entfremdung überhaupt wäre. Diese ‚Aufhebung‘ würde keine Egalisierung der Differenzen bedeuten, wie es die heutige Lösung eines ‚gender mainstreaming‘ zumindest nahelegt, sondern im Gegenteil die aparten Charaktere, Begabungen und Bestimmungen von Männern wie von Frauen, wie überhaupt von jedem einzelnen Menschen herausarbeiten.“ Égalité meint eben gerade nicht Egalisieren im Sinne von „Plattmachen“.

Für „im Großen“ folgendes Beispiel (S. 1027): Und die eigentlichen entscheidenden Marx´schen Themen: die Herrschaft der toten Arbeit über die lebendige Arbeit (und damit über die Lebenden); die elementare Frage, ob die Menschen und die Gesellschaft der Wirtschaft zu dienen haben oder ob es nicht eher umgekehrt sein sollte – alle diese Themen sind nicht nur nicht erledigt, sondern stellen sich vielleicht erst jetzt wirklich und praktisch, da das ‚wirtschaftliche Problem‘, von dem John Maynard Keynes 1930 [Keynes, 1930] gesprochen hatte, eigentlich lösbar geworden ist.“ Der Kommunismus ist nicht die richtige Antwort auf die Frage, die er beantworten wollte; die Frage aber hat nach wie vor ihr volles Recht.

Aufbau und Inhalt

Das Werk imponiert schon allein wegen seiner Ausmaße: 1133 Seiten, darunter über 80 Seiten Anmerkungen (inkl. Quellennachweisen), 42 Abbildungen (nicht nummeriert, zwischen den Seiten 568-569) und ein 13seitiges Personenregister und gut 1000 Textseiten (das knappe Nachwort, den kurzen Prolog, den Epilog von fünf Seiten und das Inhaltsverzeichnis nicht eingeschlossen). Die etwas mehr als 1000 Textseiten sind verteilt auf vier „Bücher“. Ja, die Ordnung nach vier „Büchern“ ist die Hauptordnung des Buches, und die Bezeichnung „Buch“ ist angemessen, umfasst jedes doch so viele Seiten wie die meisten heute „Bücher“ genannten Publikationen.

Markiert die Einteilung in vier Bücher die Unterschiede, so die sich über die Bücher 1-4 erstreckende Zählung von 12 „Teilen“ die Einheit des Werkes; die einzelnen Teile haben 2 – 5 Abschnitte. Die Darstellung des „Gerippes“ von Büchern, Teilen und Abschnitten nach den jeweiligen Überschriften mag einen Eindruck davon vermitteln, was in diesem Werk abgehandelt wird. Wie diese Abhandlung gestaltet ist, soll in einer anschließend gebotenen längeren Textpassage (einem Bissen vom „Fleisch“ illustriert werden). Von einer „zusammenfassenden Nacherzählung“ des Buchinhaltes wurde nach einigen vergeblichen Anläufen Abstand genommen.

Erstes Buch: Kommunismus als Weltgeschichte mit den Teilen

I: Ex occidente – Von den Ursprüngen

  • Die Spur der roten Fahne
  • Kommunismus als Weltgeschichte

II: Die alte Welt des Kommunismus

  • Revolutionen der alten Welt
  • Die Großen Erzählungen
  • Von Platons Staat zum Reich Christi

III: Die Entdeckung der Zukunft

  • Millenarismus und Moderne
  • Die eine Welt und ihre Schrecken
  • The Pursuit of Happiness

IV: Das Zeitalter der Revolution

  • Die Furien des Verschwindens
  • Der Traum der großen Kommunion
  • Phantome der Freiheit
  • Eine Neue Welt

Im Zweiten Buch: Das Marx´sche Momentum finden sich

V: Die Geburt der modernen Welt

  • Die Wahrheit des Diesseits
  • Der große Bruch
  • Das Gespenst des Proletariats

VI: Sozialistische Gründerzeit

  • Ein neuer Horizont
  • Die Partei Marx
  • Vom Anstoß zur Bewegung
  • Fülle des Lebens

VII: Age of Empire

  • Freier Handel, schwarze Haut
  • Staaten, Kriege und Revolutionen
  • Der europäische Sozialismus
  • Das Marx´sche Momentum

Das Dritte Buch: Warum Russland? enthält

VIII: In Oriente – Der Osten wird rot

  • Das entgrenzte Imperium
  • Die Dämonen der Intelligenzija
  • Marx in Russland
  • Das Korn und die Gerste

IX: Vom Weltkrieg zur Weltrevolution

  • Wetterleuchten – Das Jahr 1905
  • Sturmvögel
  • Menschheitsdämmerung – August 1914
  • Auferstehung – März 1917

X: Marsch ins Niemandsland

  • Elementarkräfte – Juli 1917
  • „Es schwindelt“ – November 1917
  • Russland in Blut gewaschen
  • Phönix und Asche
  • Das neue alte Reich

Den Schluss bildet das Vierte Buch: Der Kommunismus in seinem Zeitalter mit den Teilen

XI: Der rote Planet

  • Phantome einer Weltrevolution
  • Das kommunistische Momentum
  • Im Gehäuse des Wahns
  • A Tale of Two Empires

XII: Die postkommunistische Situation

  • Wege der Auflösung
  • Das Gespenst des Kapitals

Die angekündigte Textprobe findet sich auf den S. 293 – 295. Sie wurde ausgewählt, weil sie den Stil des Autors veranschaulicht, von dessen intellektuellem Niveau zeugt, seine literarische Emphase vor Augen führt und den Bezug des als Geschichtsschreibung angelegten Buches zum Hier-und-Jetzt illustriert:

„Skeptische Rückfragen drängen sich natürlich auf. Beruht Marx´ Vorstellung einer befreiten, höheren, menschlicheren Gesellschaft nicht auf anthropologischen Voraussetzungen, d.h. Annahmen über die schöpferische ‚Natur‘ des Menschen, die idealistisch bis weltfremd sind? Werden von materieller Notdurft und existentiellem Zwang befreite Menschen sich immerzu vervollkommnen und bilden wollen; werden sie mit ihrer freien Zeit überhaupt etwas Sinnvolles anzufangen wissen – oder auch nur wollen? Handelt es sich nicht, wie Sigmund Freud schon über das jüdisch-christliche Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, gesagt hat, um eine moralische Überforderung, die zwangsläufig Unbehagen an einer derart fordernden Kultur und destruktive Gegenreaktionen hervorrufen müsste?

Und: Ist es denn nicht ganz richtig, wenn [Polens bedeutendster Philosoph des 20. Jahrhunderts, der Kommunist und Ex-Kommunist] Leszek Kolakowski eingewandt hat, dass das Marx´sche Denken letztendlich durch eine weitgehende ‚Abwesenheit von Körper und Tod, … von Geschlecht und Aggression‘, also von blinden Leiden und existentiellen Tragiken, gekennzeichnet sei und deshalb entgegen allen Ansprüchen eben doch auf eine ‚Soteriologie‘, eine Lehre der Selbsterlösung der Menschen aus dem irdischen Jammertal, hinauslaufe.

Dagegen ließe sich wiederum einwenden, dass die von Marx nur angedeuteten Vorstellungen von einer menschenwürdigen Existenz eigentlich nicht besonders extravagant sind, sondern von recht einfachen und an sich kaum bestreitbaren Kriterien ausgehen, wie zum Beispiel: dass die Menschen irgendwann aufhören müssen, auf Kosten anderer Menschen zu leben, wenn sie ihre Gesellschaften vor der Selbstzerstörung und zugleich ihre eigene Würde bewahren wollen; dass eine befriedigende Arbeit oder nützliche Tätigkeit für die meisten Menschen noch immer das Wichtigste ist, worin sie ihre Fähigkeiten erproben und wodurch sie etwas aus sich machen können; und dass soziale Anerkennung, Stolz auf die eigene Leistung und das Erwecken von ‚Gegenliebe‘ mehr wiegen als bloße materielle Gratifikation, luxurierende Accessoires oder ein sich selbst genügendes Amüsement – die es ja ruhig geben kann, aber wohl nur als Beigaben und nicht als Ersatzstoffe des Lebens selbst.

Und umgekehrt: Was ist von einer Wirtschaftsweise zu halten (hier kann man ruhig schon an die kapitalistische ‚Angebotsökonomie‘ heutigen Typs denken), die fieberhaft neue Bedürfnisse und dazu passende materielle oder immaterielle Produkte kreiert, nur um sich selbst am Laufen zu halten und ihre akkumulierten Kapitalien maximal zu verwerten, während zentrale gesellschaftliche Allgemeinaufgaben unerledigt bleiben, menschliches Potential verkümmert, die Abhängigkeit als Lohn- und Gehaltsempfänger sogar gebildete und gutbezahlte Menschen zermürbt oder demütigt; während leere Effizienzforderungen schon auf Kindern und Jugendlichen als Lebenshypothek lasten und erst recht auf den jungen Erwachsenen in der besten Zeit ihrer Selbst- und Welterkundung, ihrer Ausbildung und Studien, ihrer Partnerwahl und Familiengründung? Und welch ein Widersinn liegt darin, dass in einer so reichen Gesellschaft wie der unsrigen noch immer viele Auf-sich-Gestellte, Alleinerziehende oder Alte, zumal im unteren Drittel der Gesellschaft, durch existentielle Notlagen ungeschützt getroffen werden können, nicht nur aus Armut, sondern weil alles, was in dem letzten, absolut existentiellen Bereich von Geburt, Gesundheit, Leben und Sterben nötig und möglich ist, sich der Verwandlung in reine, marktförmige Dienstleistungen entzieht.

Das Leben im ‚Weltinnenraum des Kapitals‘ ist unverändert eine Existenzform, worin die Dispositionsmacht der großen Shareholder und CEOs der global operierenden Fonds und Unternehmen, aber auch die verschwenderischen Lebensmöglichkeiten einer internationalen Kaste der Besserverdienenden und Rentiers, sich wie eh und je von der exzessiv verausgabten Lebenskraft von Hunderten Millionen alten und jungen Männern und Frauen in den Sweatshops und Fertigungshallen, Plantagen und Bergwerken, Service- und Logistikzentren nähren. Und diese Letzteren stehen immer noch weit über den Abermillionen, die (um noch einmal Victor Hugo zu zitieren) unter den Augen der Weltmedien den ‚sozialen Erstickungstod‘ der Überflüssigen und Arbeitslosen erleiden oder die (um die salbungsvolle Formel des Pfarrers [Thomas Robert] Malthus zu verwenden) als überzählige Gäste vom Festmahl der Menschheit ausgeschlossen und zu Hunger und frühem Tod verurteilt sind.“

Diskussion

Gerd Koenens „Die Farbe Rot“ ist ein fesselndes Buch. „Fesselnd“ in dem Sinne, dass es unsere ganze Aufmerksamkeit fordert. Nicht aber in dem, dass es den eigenen Verstand in Ketten schlägt. Im Gegenteil ist es eines, das uns fortwährend ermutigt, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Man kann das Buch wie einen Roman (dostojewskischen Ausmaßes) lesen; der Autor ist ein unterhaltsamer Erzähler. Es ist aber auch als Studienbuch zu verwenden, weil man in Gerd Koenen einen gebildeten Gelehrten findet. Einer der sich auf die Kunst der Darstellung versteht: Er entwirft vom Kommunismus und seinen Wurzeln ein großformatiges Bild, das an vielen Stellen mit breitem Pinsel und kräftigen Farben gemalt scheint, in anderen Partien mit der Tuschefeder fein gezeichnet und voll ist von Skizzen, die den dramatischen Strich expressionistischer Kohlezeichnungen aufweisen.

Der Sache nach sind Gerd Koenens Ausführungen zu einem großen Teil Begründung, Entfaltung und Validierung einer seiner Zentralthesen: „Ohne Lenin kein Bolschewismus, ohne Bolschewismus keine Sowjetunion, ohne Sowjetunion keine kommunistische Weltbewegung“ (S. 593). Und dieser Lenin, so führt der Autor in immer neuen Argumentationsschleifen aus, hatte in dem Maße seiner Wandlung vom 1870 als Wladimir Iljitsch Uljanow geborenen zum im Oktober 1917 auf dem Finnischen Bahnhof von Petrograd ankommenden Lenin immer weniger mit Karl Marx zu tun – zuletzt nur noch durch Gebrauch scheinbar „marxistischer“ Floskeln.

Hier wie an anderen Stellen erweist sich der Autor als großer Entmythologisier. Was, um dies an einem weiteren Beispiel zu illustrieren, als „Oktoberrevolution“ in die Geschichte einging, ist schon der Begrifflichkeit nach falsch. Das war nach in der Politologie üblichen Sprachregelung keine Revolution, ein Staatsstreich. Und wie der durchführt wurde, hat sehr wenig bis nichts zu tun mit dem, was die bolschewistische Propaganda davon später als die wahre Wahrheit einzuhämmern versuchte. Selbst westliche Intellektuelle übernahmen und tradierten ein Bild von der „Oktoberrevolution“, wie es mit revolutionären Pathos und modernster Filmkunst entworfen wurde in OKTJABR („OKTOBER“, Regisseure: Sergei Michailowitsch Eisenstein und Grigori Wassiljewitsch Alexandrow, 1928). Im Kontrast zum dort entworfenen enthusiastischen Schlachtengemälde, man denke nur an den „Sturm auf den Winterpalast“, steht Gerd Koenens nüchterne Skizze, die hier für den ersten – und Weichen stellenden – Tagwiedergegeben sei.

Trotzki, der sich die Kontrolle des ‚Revolutionären Militärkomitees‘ des Petrograder Sowjets gesichert hatte und ohne den es keinen siegreichen „Revolutions“führer Lenin gegeben hätte, ließ in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1917 „kleine, ausgewählte Truppeneinheiten, unterstützt von Roten Garden und Trupps von Matrosen, mit gleichsam offiziellen, von Revolutionären Militärkomitees abgestempelten Befehlen ‚zum Schutz gegen die Konterrevolution‘ die Nervenzentren der Stadt besetzen, das Telegrafen- und Telefonamt, die Bahnhöfe, die Brücken, die Elektrizitätswerke und einige Ämter. Er stellte Posten auf zentralen Plätzen auf, die neutrale Wachposten ‚ablösten‘ und betrieb eine schleichende Übernahme der Stadt, ohne dass irgendjemand so richtig begriff, was da vor sich ging. Insgesamt waren maximal 6000 Bewaffnete an diesem lautlosen Unternehmen beteiligt – und ob ihnen annähernd klar war, worum es sich handelte, ist sehr fraglich.“ (S. 753 -754)

Wie notwendig Entmythologisierung gerade im Fall „Oktoberrevolution“ ist, zeigt mit aller Eindringlichkeit der Umstand, dass sich in der aus der Feder eines Redakteurs mit Geschichtsstudium stammenden ZEIT-Rezension des vorliegenden Buches (Camman, 2017) die Notiz findet: „erst auf Seite 755 fallen in Petersburg die Schüsse des Panzerkreuzers Aurora, mit denen der Kommunismus an die Macht kommt und nicht mehr nur Sache einer seltsamen Sekte ist“. Welch ein eindrückliches Beispiel dafür, wie tief sich sowjetische Propagandabilder wie jene von OKTJABR ins ikonographische Gedächtnis der Nachwelt eingegraben haben (vgl. Schwarz, 2017). So sehr, dass man offensichtlich von seinen liebgewordenen Bildern nicht lassen will, selbst wenn man die entsprechende – nachfolgend wieder gegebene – Buchpassage auf Seite 755 gelesen hat:

„Es gab [am 25.11.1917] im Winterpalast ein paar sporadische Schusswechsel (eher Warnschüsse als Gefechte), während Gruppen neugieriger und beutelustiger Soldaten und Rotgardisten im Dunkeln bereits durch Seiteneingänge in den riesigen Palastkomplex eindrangen, sich staunend umsahen, widerspruchslos festnehmen und entwaffnen ließen, den Verteidigern aber kameradschaftlich zuredeten, einfach zu gehen. Das taten auch immer mehr – erst recht, als die gegenüberliegende Peter-und-Paul-Festung einen Blindschuss abfeuerte (sich einer Beschießung des Palastes aber verweigerte) und der kleine Panzer ‚Aurora‘ [kein ‚Panzerkreuzer‘, der einem gleich die Potjomkin vor Augen treten ließe] in der ersten Morgenstunde [des 26.11.1917] ein Dutzend Granaten auf den Palast abschoss, die das riesige Ziel wundersamerweise verfehlten oder nur den Putz beschädigten. Dann passierte wieder nichts.“

Gerd Koenens hier vorliegendes Werk ist das ultimative Buch zum Kommunismus und dessen Geschichte. „Ultimativ“ im zwiefachen Sinne des Wortes: (heraus-)fordernd und auf der Höhe des Könnens. Ich sehe – und lasse dabei den Blick über nationale, sprachliche und kulturelle Grenzen schweifen – derzeit niemanden, der in absehbarer Zeit ein besseres Buch zur hier behandelten Thematik vorlegen könnte.

Fazit

Das Buch ist ein „Muss“ für alle, die den Kommunismus für die historisch falsche Antwort, die Frage aber, auf die er eine Antwort sein wollte, nach wie vor für aktuell halten. Mao Tse-Tungs Forderung (in „Gegen den Liberalismus“ von 1947) „Aus früheren Fehlern lernen, um künftige zu vermeiden“ ist ja nicht deshalb passé, weil man(n oder frau) in Mao keinen Orientierungspunkt mehr sehen mag. Lernen aus Fehlern ist, um es in wissenschaftlichem Jargon auszusprechen, als ein Spezialfall des erfahrungsbasierten Lernens anzusehen.

Literatur

  • Camman, A. (2017). Vergesst die Dämonen nicht. Gerd Koenens Meisterwerk über den Kommunismus: ‚Die Farbe Rot‘. DIE ZEIT vom 23. November 2017, S. 64. Online verfügbar unter (letzter Aufruf am 27.11.2017).

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
Website
Mailformular

Es gibt 186 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245