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Katja Flämig: Freiwillig und verbindlich (Angebote in der Kita)

Rezensiert von Prof. Dr. Arnd Götzelmann, 21.03.2018

Cover Katja Flämig: Freiwillig und verbindlich (Angebote in der Kita) ISBN 978-3-7799-2557-6

Katja Flämig: Freiwillig und verbindlich. Ethnografische Studien zu »Angeboten« in der Kindertageseinrichtung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 282 Seiten. ISBN 978-3-7799-2557-6. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.

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Thema

„Pädagogische Angebote“ in Kindertageseinrichtungen oder in der Praxis der Frühpädagogik meist nur kurz „Angebote“ genannt, werden seit Jahrzehnten z.B. neben dem Stuhl- bzw. Sitzkreis und dem freien Spiel durchgeführt. Über ihre Anwendungspraxis ist wissenschaftlich wenig gearbeitet worden. Die Autorin widmet sich in ihrem Buch den praxistheoretischen Fragen nach der mikrostrukturellen Organisation, den situativen Anforderungen und den Bedingungen der Durchführbarkeit dieser pädagogischen Aktionsform. Damit leistet sie einen Beitrag zur Klärung der Funktion und Relevanz des „Angebots“ in der und für die Praxis der Kindertagesbetreuung.

Autorin

Dr. phil. Katja Flämig ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut e.V., Außenstelle Halle (Saale). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind qualitative Bildungsforschung, Frühpädagogik und Kindheitsforschung.

Entstehungshintergrund

Der Buchveröffentlichung liegt eine durch Ursula Rabe-Kleberg betreute Dissertation zugrunde, die von der Philosophischen Fakultät III Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen und am 31.05.2016 mit der Disputation abgeschlossen wurde. Das ethnografische Material wurde „in einem knapp anderthalbjährigen Feldaufenthalt in zwei Kindertageseinrichtungen“ (S. 13) hervorgebracht und u.a. mit „Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums ‚ethnografische Unterrichtsforschung‘ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter Leitung von Prof. Georg Breidenstein“ (S. 5) diskutiert und zusammen mit weiteren Fachpersonen interpretiert. Sie werden im Vorwort genannt.

Aufbau und Inhalt

In elf Kapiteln entwickelt die Autorin ihr Anliegen.

Kapitel 1 führt in die Themen- und Fragestellung ein und gibt einen Überblick über den Aufbau des Buches. Es befasst sich mit den „methodischen Verfahrensweisen von Kindern und Erzieherinnen, die dazu beitragen, dass eine soziale Form der Tagesgestaltung in der Kindertageseinrichtung als ‚Angebot‘ zur sozialen Wirklichkeit wird“ (S. 11). Der Autorin geht es allerdings nicht um programmatisch-konzeptionelle Überlegungen oder normative Bewertungen sondern um eine ethnografische Beschreibung der Eigenart, der situativen Ausformung, Herstellung und Aufrechterhaltung von ‚Angeboten‘ in der alltäglichen Praxis von Kindertageseinrichtungen. Ein Ziel der Studie ist es, „über die empirische Beschreibung des ‚pädagogischen Angebotes‘ einen Beitrag zum Verständnis der alltäglichen gelebten Praxis zu leisten und die Bewegungsgesetze zu artikulieren, die einem Ausschnitt des alltäglichen Geschehens im Kindergarten zugrunde liegen“ (S. 13).

Kapitel 2 systematisiert die begrifflichen Grundlagen des erziehungswissenschaftlichen terminus technicus „Angebot“ in früh-, sozial- und erwachsenenpädagogischen Diskursen, gibt einen Überblick über den nicht allzu üppigen Forschungsstand zum Thema und klärt die Fragestellung der Arbeit samt ihrer theoretischen Grundlagen, die sie in der Theorie sozialer Praktiken nach Andreas Reckwitz (2003) findet.

Kapitel 3 begründet von dieser praxistheoretischen Basis aus die gewählte Forschungsmethodik der Ethnografie als rekursives Forschungsdesign. Befremdungstechniken, längere Teilnahmen im Feld mit entsprechende Distanznahme, normativer Enthaltsamkeit, Betrachtung der Zustände mit einer Theatermetaphorik, schriftliche Dokumentation als „Dekontextuierungsprozess“ (S. 51), der Wechsel von Beobachtungs- und Analysephasen – all diese in der Studie angewandten Methoden und Techniken werden genauer beschrieben und theoretisch rückgebunden. Das Feld – „zwei Kindertageseinrichtungen in einer ostdeutschen Großstadt“ (S. 52) – wird hier ebenso beschrieben wie der Feldzugang der Forscherin.

Die Kapitel 4 bis 10 bieten den empirischen Hauptteil der Studie und widmen sich der Ethnografie des „Angebots“.

Kapitel 4 kommt dabei der Einführung in den empirischen Teil gleich und stellt die Verfahrensweisen dar, die dazu beitragen, dass die soziale Form als ‚Angebot‘ in Abgrenzung zu anderen Formen wie „Stuhlkreis“ oder „Freispiel“ sichtbar und kommunizierbar wird. Territorial-räumliche, begriffliche, personelle, organisationale, zeitliche und gemeinschaftsherstellende Verfahrensweisen werden unterschieden.

Kapitel 5 widmet sich der Konstitutionsbedingung Teilnehmerzahl. Hier werden die Techniken, Maßnahmen und Praktiken von Erzieherinnen beschrieben, die angemessene Teilnehmerzahl für das betr. „Angebot“ zu formieren, zu erweitern oder zu begrenzen.

Kapitel 6 befasst sich mit der Analyse der Strukturprinzipien der Durchführung von „Angeboten“, die als „Formate“ in einem gewissen Ablaufprozess beschreibbar sind. Die „Geordnetheit des sozialen Geschehens“ (S. 107) werde u.a. durch die Konstituierung von situativen sozialen Identitäten, das „Berührrecht“ (S. 112) der Materialien, rituelle Kommunikation, Materialverteilung und Instruktionen gesichert.

Kapitel 7 richtet den Fokus auf die Umgangsweisen mit der sozialen Form des „Angebots“, die in Verpflichtungen und Verbindlichkeiten für die Kinder als „Mitmacher“ oder zuweilen auch vorübergehend als „Zuschauer“ sichtbar werden.

Kapitel 8 stellt die Ergebnisse der ethnografischen Untersuchung zum praktischen Wissen der Erzieherinnen dar, mittels dessen sie die Kohäsion, die Ablauforganisation und die Dramaturgie des „Angebots“ sicherstellen. Zu den Techniken hier gehören die Fokussierung der Aufmerksamkeit, die Erzeugung von Attraktivität und die Aktivitätsverläufe in Bewegung zu halten.

Kapitel 9 wechselt die Perspektive hin zur Sicht der Kinder und zeigt deren Umgangsweisen auf, die als kooperative, subversive und oppositionelle Mitgestaltung und als Transformation peerkultureller Themen in der Aufrechterhaltung des „Angebots“ verstehbar werden.

Kapitel 10 fokussiert die Praktiken zur sukzessiven und kollektiven Beendigung des „Angebots“, die einen Beitrag zur Lösung des Problems darstellen, die Zeitvorgaben der Organisation Kindertageseinrichtung mit den Teilnahmezeiten der Kinder zu vereinbaren.

Kapitel 11 bündelt die Ergebnisse, verdichtet sie theoretisch und wertet den Studienertrag unter den – auch für den Titel der Buchveröffentlichung gewählten – Stichworten „freiwillig und verbindlich“ sowie unter der Kategorien „Unklarheit des Gegenstandes der Veranstaltung“ und „Anforderungen an das Management der Situation“ aus. Hier erörtert die Autorin zudem die Funktion des „Angebots“ für die frühpädagogische Praxis und sichert den Ertrag ihrer praxistheoretischen und ethnografischen Studie für die Praxis der Kindertageseinrichtungen. Eine These der Autorin dabei ist, dass sich die doppelte Aufgabenbestimmung der Kindertageseinrichtung zwischen Bildungsfunktion und Betreuungsfunktion in der Organisationsform „Angebot“ „als Gemenge aus ‚Freiwilligkeit und Verbindlichkeit‘ niederschlägt“ (S. 251). Externe Erwartungen und Funktionszuweisungen werden so von der Organisation aufgenommen und handhabbar gemacht. Eben darin liege der Gebrauchswert der „Angebote“, dass sie nämlich ein raum-zeitliches Formats schaffen, mit dem die vielfältigen Umwelterwartungen bewältigt werden können. Dabei haben „Angebote“ in der Kindertageseinrichtung wegen ihrer offeneren Organisationsform anders als der institutionell klar gerahmte „Unterricht“ in der Schule notwendigerweise mit der „Unklarheit des Gegenstandes der Veranstaltung“ (Kapitel 11.2) umzugehen. Umso mehr sind hier hohe „Anforderungen an das Management der Situation“ (Kapitel 11.3) und damit an die Professionalität der Erzieherinnen gestellt. Doch auch die Kinder kommen als „Organisationsteilnehmer“ in den Blick, denn sie modulieren ihrerseits die Ordnungen der Organisation im Umgang mit den „Angeboten“ mit.

Diskussion

Haben sich andere Untersuchungen und Publikationen mit dem pädagogischen „Angebot“ meist aus normativer, konzeptioneller, programmatischer oder modellprojekthafter Perspektive bezogen auf seine Wirkungen beschäftigt, so bietet diese Studie nun mit ihrer ethnografischen Methodik einen erfrischend unvoreingenommenen erfahrungswissenschaftlichen Blick auf das „Angebot“ in der Kindertageseinrichtung. Hier werden in der sozialen Wirklichkeit vorhandene Praktiken des frühpädagogischen Alltags als sozial-kulturell und nicht nur subjektiv geprägt durch teilnehmende Beobachtung, Feldnotizen, Memos und Beobachtungsprotokolle im Feld zweier Kindergarteneinrichtungen inspiziert und theoriebezogen analysiert. Dabei eröffnen die ethnomethodischen Techniken der Herstellung von Fremdheit und der normativen Enthaltsamkeit ebenso wie die performations- und theaterwissenschaftlichen Zugänge zum Geschehen in den Kindertageseinrichtungen neue Perspektiven auf pädagogisches Handeln.

Fazit

Die Studie von Katja Flämig thematisiert die altbekannte pädagogische Praxis der so gen. „Angebote“ in den Tageseinrichtungen für Kinder neu, indem sie einen erfahrungswissenschaftlichen, ethnografischen und soziologischen Zugang wählt. Damit kommen die Konstitutionsbedingungen der sozialen und pädagogischen Form des „Angebots“ ganz neu in den Blick: Mit der Autorin kann die Leserin und der Leser das, was alle, die in den letzten Jahrzehnten einmal in einer Kindertageseinrichtung gearbeitet oder auch nur hospitiert haben, als „Angebot“ kennen gelernt und mitgestaltet haben, nun betrachten wie ein fremdes Land mit einer unbekannten Kultur. Indem Wissenschaft – wie Kunst auch – die Wirklichkeit fremd macht, das alltägliche Tun und Verstehen seiner Routinen entkleidet und mit unvoreingenommenem Blick auf die Dinge schaut, wird soziale Wirklichkeit neu sichtbar, damit anders versteh- und gestaltbar. Hierzu leistet das vorgestellte Buch einen wichtigen Beitrag und kann für die Lehre und Forschung in der Pädagogik insbesondere der Früh-, Elementar- oder Kindheitspädagogik spannende Impulse geben.

Rezension von
Prof. Dr. Arnd Götzelmann
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Es gibt 4 Rezensionen von Arnd Götzelmann.

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ISSN 2190-9245