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Alfred Schäfer: Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 25.09.2017

Cover Alfred Schäfer: Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt ISBN 978-3-7799-3705-0

Alfred Schäfer: Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 2. Auflage. 150 Seiten. ISBN 978-3-7799-3705-0. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.

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Thema

Theodor W. Adorno hat sich – wie übrigens auch Max Horkheimer – in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingehend mit Fragen der Bildung und der Erziehung beschäftigt. Der Hintergrund dieser Bemühungen, die v.a. in dem vielgelesenen Sammelband „Erziehung zur Mündigkeit“ und in dem Essay „Theorie der Halbbildung“ dokumentiert sind, ist das Fortleben offen oder versteckt nazistischer Verhaltens- und Denkweisen sowie der Wille, einer Wiederholung des Geschehenen entgegen zu arbeiten. Einige von Adornos Texten, vornehmlich „Erziehung nach Auschwitz“ offenbaren dem halbwegs unvoreingenommenen Leser eine erschreckende Aktualität. Es ist alles andere als abwegig, sich dem Pädagogen Adorno zuzuwenden und die Voraussetzungen seiner Überlegungen und Stellungnahmen offen zu legen. In diesem Sinne wäre Alfred Schäfers „Pädagogisches Porträt“, das nunmehr in 2. Auflage vorliegt, ein hoch willkommenes Buch. (Die Erstauflage ist 2004 erschienen und lediglich durch ein zweiseitiges Nachwort ergänzt.)

Autor

Der Autor, Jg. 1951, ist emeritierter Professor für systematische Erziehungswissenschften an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg

Aufbau und Inhalt

Die Einleitung beginnt mit einer Abgrenzung gegen die pädagogische Anwendung der Habermas´schen Diskustheorie auf die Pädagogik. Diese Anwendung diene dem pädagogischen Traum einer „Verleugnung des unauflösbaren Macht- und Legitimationsproblems“. (8 f.) Dass demgegenüber die Überlegungen Adornos einen besseren pädagogischen Ansatzpunkt liefern könnten, wird man nicht lange vermuten. Nach Schäfer ist Adorno allein dazu geeignet, die „Erfahrung selbstkritischer Kritik zumindest nicht ganz unmöglich“ erscheinen zu lassen. Orientierungen, praktische Hinweise und positive Ziele gibt es nicht.

In diesem Sinne werden im 1. Kapitel, das in der Überschrift den Titel „Erziehung nach Auschwitz“ zitiert, auch nicht die in diesem Aufsatz von Adorno dargelegten Überlegungen und Vorschläge behandelt. Es ist keine Rede von der Arbeit gegen die Vormacht aller Kollektive, die Ziele der Reflexionsfähigkeit und Selbstbestimmung werden nicht analysiert; es wird nicht erwogen wie dem „Ideal der Härte“, dem Technikfetisch oder der bürgerlichen Kälte zu begegnen sei. Nicht einmal der Realitätsgehalt dieser Begriffe wird geprüft oder erläutert. All dies, auch die hervorgehobene Rolle des Nationalismus, spielen bei Schäfer keine Rolle. Sein Interesse gilt dem „Dilemma der Kritik, die sich noch auf ihre Voraussetzungen richtet.“ (17) Gesellschaftskritik ist erst in modernen Gesellschaften möglich. Wie, um alles in der Welt, kann sie dann moderne Gesellschaften kritisieren? Dieses Problem hat etwas Ausgedachtes und entsteht überhaupt nur, wenn man Kritik als etwas begreift, das sich selbst erhalten soll. Tatsächlich weist Kritik über sich hinaus auf eine Praxis, die sie überflüssig macht. – Die sachliche Voraussetzung von Schäfers Dilemma besteht darin, das, was zu einer Gesellschaft gehört, auch funktional für sie sein muss. (22 f.) Mit diesem Dogma ist die Möglichkeit, dass es Sprengsätze gibt, von vornherein ausgeschlossen. Dieser absolute Immanenzcharakter reproduziert sich in der Frage des Maßstabs der Kritik, den Adorno nicht ausweisen könne. Die Forderung, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, sei aporetisch, weil Adorno selbst das Ansinnen einer diskursiven Begründung der Forderung abweist. Aber dies geschieht keineswegs, wie Schäfer meint, weil es keinen Standpunkt außerhalb des Geschehens „Auschwitz“ gibt, von dem aus man vernünftig darüber sprechen könne (28); vielmehr hält Adorno den Ruf nach Begründung für „ungeheuerlich“, weil dieser Ruf unterstellt, die Forderung selbst bedürfe überhaupt einer Begründung. Was in Frage gestellt werden muss, ist die Erklärung des Geschehens und die praktischen Schlüsse, die man daraus zu ziehen hat, nicht jene Forderung.

Das 1. Kapitel ist ein gutes Beispiel dafür, wie der „Vorrang des Objekts“, den Adorno proklamiert, durch den Vorrang der Methode umgangen werden kann. Die Maßstabsfrage, statt sich an den Phänomenen selbst zu entfalten, wird zu einem abgelösten Formalismus, der sich vor die Sache stellt. Diesen Vorwurf kann man dem 2. Kapitel über die Theorie der Halbbildung nicht machen. Schäfer referiert die Adorno´sche Theorie, der zufolge Erfahrung in der subjektiven Aneignung von Kultur – eben das ist „Bildung“ – ersetzt wird durch ein Bescheidwissen, in dem die zu Fakten versteinerten Gehalte zum Besitz werden und Status verleihen sollen. Schäfer sieht völlig richtig, dass die Kritik der Halbbildung nur möglich ist durch den Rückgriff auf das neuhumanistische Bildungsideal, das sich etwa mit den Namen der Humboldts oder Schillers und Hegels verbindet. Aber dieser Rückgriff verabsolutiert nicht das Bildungsideal vergangener Zeiten, sondern weist auch auf die Widersprüche hin, die ihm von Anfang eigen waren. Die wichtigste Erkenntnis, die man durch den Rückgriff auf den neuhumanistischen Bildungsbegriff gewinnen kann, besteht darin, dass Bildung und Ausbildung in einer notwendig widersprüchlichen Einheit sich befinden, die herrschaftskritisch offengelegt werden muss. Für den Kritikbegriff selbst hat der Rückgriff auf den Neuhumanismus Modellcharakter. Es ist die Figur des relativierenden Rückgriffs auf Vergangenes, durch den die Gegenwart ihre Widersprüche und zukünftigen Möglichkeiten offenbart, welche ihrerseits das Vergangene relativieren und als beschränkt erweisen. Diese Figur darf selbst nicht formlaisiert und dogmatisiert werden, aber sie ist in der Marx´schen Entfremdungskritik ebenso wieder erkennbar wie in der „Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“, welche von Horkheimer (schon 1937 in „Der neueste Angriff auf die Metaphysik“) und von Adorno in der „Negativen Dialektik“ geübt wird.

Das 3. und 4. Kapitel beschäftigt sich mit Grundbegriffen und Konzeptionen der „Dialektik der Aufklärung“, der „Negativen Dialektik“ und der „Ästhetischen Theorie“. Die Darstellung ist kenntnisreich, obwohl ihr eine gewisse Vertrautheit mit der wirklichen Frühgeschichte ganz gutgetan hätte. Notwendig setzt sie Akzente, die eben auch anders gesetzt werden könnten. Die Verbindung zur pädagogischen Frage wird selten explizit.

Erst im 5. Kapitel „Zur pädagogischen (Nicht-) Rezeption“ wird das im Buchtitel versprochene und in der Einleitung angerissene Thema wieder aufgegriffen. Der Tenor bleibt, dass die Pädagogik Adorno nicht rezipiert hat, weil er ihr klarmachen könnte, dass sie sich eigentlich nur selbst aufgeben kann. Die Zielbestimmung der Mündigkeit, die Adorno selbst geteilt hat, verfällt der Schäfer´schen Kritik. Der zugrundeliegende Fehler besteht darin, dass Schäfer die Idee der gesellschaftlichen Selbstbestimmung (d.h. der Auflösung der gesellschaftlich produzierten „Naturgesetze“ der Ökonomie) kurzschließt mit der Verabsolutierung des Subjekts und der Naturbeherrschung. Hingegen fordert die Beendigung des Krieges gegen die Natur – im Menschen sowohl wie in seiner Umwelt – genau das, was Adorno die Einsetzung der Gesellschaft als Subjekt, die Verwirklichung des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts genannt. Dass man an dieser Verwirklichung verzweifeln könnte – und das keineswegs nur wegen des zum Fetisch gewordenen Faschismus – darf die wirklichen Zusammenhänge und die sie aufschließenden Gedanken Horkheimers und Adornos nicht verdunkeln.

Fazit

Es fällt schwer, in Schäfers Buch ein pädagogisches Porträt Adornos zu entdecken. Dazu hätte er sich näher auf die einschlägigen Schriften beziehen und vielleicht auch einen Blick auf Adornos Praxis als akademischer Lehrer werfen müssen, eine Praxis, von der man sich mittlerweile anhand der Veröffentlichung vieler Vorlesungen ein besseres Bild machen kann. Auch seine Wirkung in der Musikpädagogik hätte thematisiert werden müssen. Schäfers Buch ist deshalb nicht so sehr ein pädagogisches Porträt als vielmehr eine, an pädagogische Themen wie das Erziehungsziel anknüpfende, Einführung in Adornos Philosophie. Diese Einführung ist kenntnisreich und gut geschrieben und verdient eine unvoreingenommene Beschäftigung. Nach meiner Ansicht ist sie zu sehr an den zirkulären Formulierungenen Adornos und der leidigen Maßstabsfrage orientiert, die sich vor die, im Kapitel über die „Halbbildung“ beispielhaft aufgezeigte, inhaltliche Kritik zu schieben vermag. Damit will ich eine wesentliche Einsicht nicht verkleinern: Mit Adorno lässt sich einem pädagogischen Machbarkeitswahn so wenig dienen wie dem pragmatischen Ruf nach Rezepten oder Werkzeugkästen. Vielmehr wird, wer Adorno liest, eine Vorstellung davon bekommen, wie groß die Schwierigkeiten für denjenigen sind, der mit dem Erziehungsziel der Mündigkeit Ernst machen will.

Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 31 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.

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Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 25.09.2017 zu: Alfred Schäfer: Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 2. Auflage. ISBN 978-3-7799-3705-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23148.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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