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Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 12.10.2017

Cover Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus ISBN 978-3-406-65492-3

Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus. Verlag C.H. Beck (München) 2017. 3., überarbeitete Auflage. 143 Seiten. ISBN 978-3-406-65492-3.

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Thema

Die Formen und Veränderungen, die der Handels-, Industrie- und Finanzkapitalismus vom Mittelalter bis zur Globalisierung durchlaufen hat. Läßt sich aus der Geschichte etwas für die Gegenwart lernen?

Autor

Jürgen Kocka ist emeritierter Professor für Geschichte der industriellen Welt am der Freien Universität Berlin. 2001-2007 war er Präsident des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung und wurde für seine Arbeiten mit dem Leibniz- und Holberg-Preis ausgezeichnet.

Veröffentlichungen u.a. zu ‚Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen‘ (1990) und mit M. van der Linden (Hg.) ‚Capitalism. The Reemergence of a Historical Concept‘ (2016).

Entstehungshintergrund

Die Kritik am Kapitalismus seit der Finanzkrise 2008, seine Widersprüche, Entwicklungspotentiale und nachhaltigen Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelten.

Aufbau

Beginnend mit der Definition ‚Was heißt Kapitalismus?‘, geht Kocka auf den frühen ‚Kaufmannskapitalismus‘ ein und die spätere Expansion, insbesondere während der Industrialisierung und Globalisierung seit 1800. Das Buch endet mit einem – kritischen – Ausblick.

Inhalt

I. Was heißt Kapitalismus? (18 Seiten)

Kapitalismus, ein kontroverser, umstrittener Begriff, meinte, aus der Kaufmannssprache hervorgegangen, zunächst investiertes oder verliehenes Geld, später auch Vermögen an Waren und Produktionsanlagen. Im 17. Jahrhundert stand ‚Kapitalist‘ für den ‚capitalreichen Mann‘, der mit ‚Capitalien‘ handelt und seit dem 18. Jahrhundert – klassengesellschaftlich kritisch – im Gegensatz zum Lohnarbeiter (sozialistische Alternative) mit wirtschaftlicher und politischer Macht assoziiert wird.

Kocka referiert die Klassiker: Marx, Weber, Schumpeter anerkennend und kritisch und lässt auch andere Stimmen zu Wort kommen (Keynes, Polanyi, Braudel). Kennzeichnend sind folgenden Merkmale: Individuelle Eigentumsrechte, Koordinierung über Märkte, Preise und Wettbewerb, Kapitalinvestitionen in die Zukunft, die Herausbildung von Unternehmen als Entscheidungs-, Handlungs- und Zurechnungseinheiten und das Tauschprinzip zwischen Beschäftigern und Beschäftigten. Lange Zeit ein vorwiegend westliches Phänomen spielen inzwischen zunehmend globale Verflechtungen eine prägende Rolle.

II. Kaufmannskapitalismus (24 Seiten)

Frühe Ansätze des Kapitalismus finden sich im Fernhandel in den Händen von selbständigen Kaufleuten. Verdichtungen entstanden durch den Ausbau von Verkehrswegen, Betrieb von Bergwerken und ein Minimum an Ordnung. Primär war die Sicherung von Renten wichtiger als das Streben nach Profit. In China erlaubte die Han- und Sung-Dynastie einen Ausbau der internationalen Handelsbeziehungen, getragen von privaten Kaufleuten. Dieser Kaufmannskapitalismus erwies sich als wenig widerständige gegenüber einem mächtigen Zentralstaat.

Im arabischen Großreich unter den Omajjaden und Abbasiden entwickelten entlang der Karawanenruten Kaufmannsstädte. Mit einer missionarischen Religion und Söldnerheeren wurde die arabische Halbinsel und der nahe und mittlere Osten unterworfen. Persische und arabische Kaufleute erschlossen neue Handelswege nach Afrika, Südostasien und Europa. Das muslimische Recht bot eine gute Basis für Verträge und deren Einhaltung. Das Kapital stammte aus Eroberungen und Raubzügen, wobei Familienbeziehungen und Geschäftspartnerschaften genutzt wurden.

Im mittelalterlichen Europa entwickelte sich der Handelskapitalismus infolge des Zusammenbruchs des weströmischen Reichs und der Völkerwanderung relativ spät und setzte sich vor allem im Fernhandel durch. Um die Risiken zu reduzieren bevorzugten die Kaufleute genossenschaftliche Lösungen (Karawanen, Flotten). Die Hanse, zunächst ein Zusammenschluss fahrender Kaufleute gemeinsamer Herkunft, war ein mächtiges, lockeres Bündnis für Handel und Politik von zeitweise mehr als fünfzig Städten im Nord- und Ostseeraum. Sie bildete kleine Handelsgesellschaften. Kauf und Verkauf auf Kredit war die Regel. Wichtige Entscheidungen wurden in Ratsversammlungen, durch die Regierungen der beteiligten Städte und auf ‚Hansetagen‘ getroffen.

Dynamischer entwickelte sich der Kaufmannskapitalismus im Fernhandel der oberitalienischen und oberdeutschen Städte. Vorschüsse und Kredite, zum Teil 20-40% Zinsen, und das Bedürfnis nach Risikominderung formten Gesellschaften auf Zeit zur Kapitalvermehrung und zur Akkumulation von Generationen übergreifenden Reichtum. Doppelte Buchführung – Soll und Haben – war in Norditalien im 14. Jahrhundert in Gebrauch, daneben bargeldlose Kreditvergabe, Wechselgeschäfte und Terminhandel, z.T. übernommen von den arabischen Konkurrenten. Die Entwicklung des Handel in Europa in Richtung Finanzkapitalismus wurde beschleunigt durch das Eindringen in die Produktion. Zunehmend konzentrierten sich Kaufleute auf das Geldgeschäft. Es entstanden seit dem 12, Jahrhundert in Italien Banken als Familienunternehmen mit vielen Filialen, die an Geld-, Wechsel- und Girogeschäften verdienten. Sie vergaben selbst Kredite und Anleihen. Staatsbildung und die Anfänge des Finanzkapitalismus waren eng verbunden. Mit dem Einfluss auf die Produktion von Waren (Rohstoffe, Aufträge) änderte sich der Status der Produzenten in Richtung Lohn-, bzw. Stück-Arbeit. Unter Kaufleuten fanden sich sehr unterschiedliche Existenzen: eingesessene Patrizier, Geldwechsler und Wucherer, Gilden, der Gelegenheitskaufmann und der Kaufmann-Bankier. Eigeninteresse wurde mit Härte wahrgenommen; Geld wurde nicht mehr gehortet, sondern investiert, obgleich immer noch ein hoher Anteil in den Luxuskonsum und Erwerb von Liegenschaften als einer vererbbaren Grundlage gesteckt wurde. Die christliche Lehre verbot solidarisch eine zinstragende Kreditvergabe von Christen an Christen, wurde aber oft umgangen.

Zwischen 500 und 1500 war der Kaufmannskapitalismus ein globales Phänomen und entwickelte sich unter unterschiedlichen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bedingungen. Die Entwicklung hinkte in Europa hinterher, zeigte sich aber dann dynamischer. Eine Ausdifferenzierung von Wirtschaft und Staat fand nicht statt, jedoch gab es in Europa mehr bürgerschaftlich-politische Autonomie. Der intensive Marktbezug, die starke Gewinnorientierung, die relative Selbständigkeit des Handels, die Bedeutung von Investition und Akkumulation durch den Einsatz von Krediten und die Orientierung am Profit sprachen für Kapitalismus, auch wenn Subsistenz- und Hauswirtschaft und nicht-ökonomische Formen von Abhängigkeit dominierten.

III. Expansion (32 Seiten)

Kolonialisierung und Welthandel gingen Hand in Hand. Um 1500 kontrollierten europäische Mächte ca. 7% des Weltterritoriums, 1775 waren es 35%, dabei spielten Machtansprüche und christlich-missionarische Zielsetzungen eine Rolle. Entscheidend aber waren das Streben nach Reichtum, Profit, die Gier nach Edelmetallen und Handelsvorteilen. Konquistadoren nahmen erhebliche Kredite auf. Ihre Schulden stachelten sie zu neuen Raubzügen an: eine aggressive Gemengelage aus Handel und Krieg. Es bildete sich ein Welthandelssystem heraus, ein Dreieckshandel von Waren für die afrikanische Westküste, von Afrikanern als Sklaven nach Amerika und Zucker, Tabak und Baumwolle nach Europa. Agrarüberschüsse aus Ost- und Mitteleuropa wurden in westliche Regionen importiert. Amsterdam und London wurden Zentren der Weltwirtschaft. Zunehmend setzte sich der Kapitalismus in der Landwirtschaft, Gewerbe und Konsum im westlichen Europa durch. Aktiengesellschaften und mit Effekten handelnde Börsen breiteten sich aus. Die Teilhaber der Kapitalgesellschaften erhielten Dividende ohne Einfluss auf die Leitung (Ankauf, Verkauf und Transport von Waren und Produktion) zu haben. Die VOC (Vereinigte Ostindische Kompanie) war ein Monopolunternehmen mit quasistaatlichen Kompetenzen (Krieg führen, Verträge schließen, Land in Besitz nehmen und Festungen zu bauen). Geld-, Wechsel-, Transfer- und Versicherungsgeschäfte gehörten in Europa zum Kaufmannskapitalismus, Banken wurden Kreditgeber für den Staat. Private Banken wurden durch städtische ergänzt, das Kapital verstärkt und damit auch die Spekulationsmöglichkeiten, und entsprechende Krisen. Die wachsende Zahl von Territorialstaaten benötigte mehr finanzielle Mittel als die Einkünfte hergaben, Erfolg und Misserfolg hing damit nicht nur von den Märkten, sondern auch von politischer Willkür ab. In der niederländischen Republik und in der konstitutionellen Monarchie in England gelang Ende des 17. Jahrhunderts eine Konsolidierung der öffentlichen Schulden und damit ein Anstieg der Kreditwürdigkeit.

Der frühneuzeitliche Kapitalismus war mit einer massenhaften Zunahme unfreier Arbeit verbunden (Zwangsarbeit, Sklaverei); Vertragsknechte arbeiteten als Aufseher. Die Plantagenwirtschaft machte Menschen zur Ware und nicht zu gleichberechtigten Marktteilnehmern. Sie war noch im 19. Jahrhundert in Brasilien, Kuba und den amerikanischen Südstaaten hoch rentabel, ehe sie auf politischen Druck hin verboten wurde. Aus sich heraus zeigte der Kapitalismus wenig Widerstand gegen Inhumanität.

Die Produktivität in der Landwirtschaft wuchs langsam, unterbrochen durch Rückentwicklungen, und war durch Gemeinschaftlichkeit, statt Individualisierung und Konkurrenz, gekennzeichnet. Auch schränkte der Feudalismus wirtschaftliche Denk- und Handlungsspielräume ein durch verschränkte Eigentumsrechte, Einbau von Pachtverhältnissen und Leibeigenschaft. Eine exportorientierter Agrarkapitalismus überlebte auch noch nach der Bauernbefreiung des frühen 19 Jahrhunderts bei den kapitalistisch wirtschaftenden früheren Feudalherren. In den Niederlanden hingegen entwickelte sich ein florierender Binnenmarkt mit einem Anreiz zu Verbesserungen der Anbaumethoden und Entwicklung neuer Produkte. Bereits im 16. Jahrhundert wurde ein Drittel der geleisteten Arbeit für Lohn und Gehalt erbracht.

Die Entwicklung in England: Die Privatisierung von Gemeindeland und die Flurbereinigung durch Zusammenfassung von Kleinbesitz wurde politisch zugunsten aristokratisch-großbürgerlicher Machteliten (Agrarkapitalismus) durchgesetzt mit der Folge von Ausdehnung von Lohnarbeit und Arbeitslosigkeit. Gewinnorientierung und Erneuerungsstreben führten zur Agrarrevolution und einem Anstieg der Produktivität.

In Europa hingegen war auch das Gewerbe durchorganisierte Zünfte kapitalismusfern; einige Gewerke waren allerdings in den überregionalen Handel eingebunden. Grundlegende Veränderungen kamen erst mit dem Eindringen des Kaufmannskapitals ins Gewerbe (Erzbergbau) und vor allem aber im Bereich der ‚protoindustriellen‘ Hausindustrie und Heimarbeit in der Umgebung von Städten und auf dem Land, einhergehend mit einem Verfall des städtischen Gewerbes. Kaufleute wurden zu Unternehmern: Die Produzenten behielten eine gewisse Selbständigkeit waren aber vom Kapital abhängig, ein Stück Kapitalismus in einer insgesamt noch vorkapitalistischen Welt ohne nennenswerten technischen Fortschritt. Es änderte sich aber die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Teilnahme an neuen Konsumchancen und die Erziehung zu disziplinierter Arbeit als Vorlauf zur Industrialisierung.

Nur in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich von Grossbritannien wurde der Kapitalismus zum dominanten Steuerungsprinzip, in den Niederlanden im handels- und finanzkapitalistischen Export-Bereich, in England im Gewerbe und der inländischen Nachfrage, einhergehend mit einer forstschreitenden Urbanisierung. Zudem bestand in England eine förderliche Wechselbeziehung zwischen Geschäft und Geselligkeit (‚consumer revolution‘): Alphabetisierung und Wissen förderten das Unterhaltungsbedürfnis, die Spiel(Wett)leidenschaft und Neugier auf Neues. Klassendifferenzen wurden deutlicher. Intellektuelle breiteten den Weg nicht nur für eine ökonomische sondern auch moralische und philosophische Aufwertung des Kapitalismus im Hinblick auf Menschenrechte, Freiheit, Frieden und Wohlstand (Grotius, Hobbes, Locke und Spinoza). Smith analysierte das kapitalistische Wirtschaftssystem: Arbeitsteilung, Handel, Kapitalbildung, Angebot und Nachfrage, Preismechanismen und die Fähigkeit, auf kurzfristige Belohnung im Hinblick auf langfristigen Nutzen zu verzichten. Gesunde Eigenliebe könnten zur Förderung des Gemeinwohls beitragen bei einer angemessenen Regelung von Regierung, Gesellschaft und Markt. Elemente des Zwangs, der Gewalt und sozialer Ungleichheit wurden unterbewertet im Hinblick auf den realen Wohlstandsgewinn als Ergebnis langfristiger Prozesse.

IV. Der Kapitalismus in seiner Epoche (47 Seiten)

Die Deutung des Kapitalismus als zivilisatorischen Fortschritt wurde bereits von Sombart und Weber infrage gestellt. Gefürchtet wurde Zwanghaftigkeit, Sinnentleerung, Gefährdung von Freiheit, Spontaneität und Menschlichkeit, Erosion überkommener Sitten und sozialer Bindungen. Sozialistisch wurde Ausbeutung, Entfremdung und Ungerechtigkeit kritisiert und ein Zusammenbruch prophezeit. Seitdem der Agrarkapitalismus neue Regionen erobert und die Feudalordnung beseitigt hatte, kam es zu einer zunehmenden Verstädterung, zu einer Revolutionierung von Verkehr, Transport und Kommunikation und einem wachsenden Handelskapitalismus. Ohne den Ausbau des Finanzkapitalismus (Banken, Börsen, Versicherungen, Investmentgesellschaften und Anlagefonds) wäre die Krise 2008 wahrscheinlich vermieden worden.

Industrialisierung bedeutete technisch-organisatorische Neuerungen (z.B. Dampfmaschine, Digitalisierung von Produktion und Kommunikation, massenhafte Ausbeutung von Energiequellen, Verbreitung der Fabrik als arbeitsteiligen Produktionsbetrieb. Industrie, Landwirtschaft und Verkehr veränderten die Kommunikation, die Steigerung der Produktivität (einschließlich der menschlichen Arbeit) zu einem – trotz Schwankungen -kontinuierlichem Wachstum. Der Beschäftigungsanteil verlagerte sich von der Landwirtschaft auf den gewerblich-industriellen- und Dienstleistungsbereich. Zwischen den industrialisierten und nicht-industrialisierenden Regionen entstand ein Wohlstandsgefälle.

Kocka empfiehlt zwischen Kapitalismus und Industrialisierung zu unterscheiden, auch wenn im 19. Jahrhundert die Industrialisierung überall in kapitalistischen Strukturen verlaufen sei. Zentralverwaltungswirtschaftliche, z.B. sozialistische, Modelle hätten sich als unterlegen erwiesen. Die Arbeitsbeziehungen – Arbeitskraft gegen Lohn – wurden kapitalistisch strikt kalkuliert. Rentabilitätskontrolle führte zur Systematisierung der Unternehmensstruktur. Die technologische und organisatorische Innovationsgeschwindigkeit nahm zu (‚schöpferische Zerstörung‘ nach Schumpeter). Dabei gab es Gewinner und Verlierer: Fortwährende Umwälzungen, Erschütterungen, Unsicherheit und Unruhe delegitimierten den Kapitalismus 1873, 1929 und 2008. Krisen entstanden durch übermäßige Spekulation und Fehlentwicklungen im Finanzsektor.

Begrifflich ist zwischen Kapitalgeber und Unternehmer zu unterscheiden, letzterer trifft Entscheidungen über die Ziele, die Position auf dem Markt, die Strukturen im Inneren und den Einsatz der Arbeitskräfte. In der ersten Industrialisierungsphase war eine Person Eigentümer und Leiter des Unternehmens, ihr Führungsanspruch wurde mit ihrer tragenden Rolle, ihr Gewinnanspruch mit der erfolgreichen Führung gerechtfertigt. Das Gründungskapital stammte oft aus dem Familien- oder Bekanntenkreis und die Familie war Voraussetzung und Mittel des Markterfolgs. Man musste aber – angepasst an unterschiedliche gesellschaftliche Gegebenheiten – vorwärtsdrängen, um nicht zurückzufallen. Familienunternehmen finden sich auch heute noch im kleinen und mittelständischen Bereich, in den meisten Großunternehmen setzten sich jedoch der Manager-Kapitalismus (mit beschränkter Haftung) und einer gewissen Trennung von Kapitalisten- und Unternehmerfunktion oder Mischformen durch, führend darin die USA, Deutschland und Japan. Die Zahl der Arbeiter und Angestellten nahm durch inneres Wachstum oder Zusammenschlüsse zu mit dem Ziel von verbesserten Umsatz- und Gewinnchancen, dem Streben nach Macht und Reichtum und der Verteidigung gegen eine aggressive Konkurrenz. Das Eigenkapital überstieg zunehmend die Möglichkeiten einer Eigentümer-Familie und erzwang die Organisationsform der Kapitalgesellschaft.

In der zweiten Industriellen Revolution um die Wende zum 20. Jahrhundert bildeten Elektrotechnik, Chemie und Fahrzeugbau neue Industrien, hinzu kam die Erschließung von Erdöl als Energie und die Zunahme der Bedeutung von Technik und Wissenschaft. Gleichzeitig bildeten sich Zusammenschlüsse des Kapitals (Kartelle, Verbände, Holdings, Konzerne), die versuchten, die Konkurrenz zu begrenzen oder auszuschalten, unterstützt von den Banken, die in die Industrie investierten: Eine Vernetzung von Industrie- und Bankkapital. Macht und Reichtum gelang in die Hände einiger Grossindustrieller (Rockefeller), verknüpft mit multinationalen Strukturen und einer Vereinigung von Rohstoffversorgung, Produktion, Weiterverarbeitung und Vertrieb und einem professionellen Leitungspersonal: ‚Organisierter Kapitalismus‘, seit 1945 eher dezentralisiert. Hoffnung auf eine größere Streuung des Eigentums und Befürchtungen vor einer strukturierten Verantwortungslosigkeit haben sich zunächst nicht bestätigt. Der Finanzkapitalismus als gigantisches Zirkulationssystem hat sich seit den 1970 Jahren rasch ausgedehnt unterstützt durch eine ‚neoliberale‘ Deregulierungspolitik. Profite ohne Wertschöpfung herausgelöst aus realwirtschaftlichen und sozialen Einbettungen, eine wachsende Staatsverschuldung und eine sinkende Sparrate der Haushalte begünstigten einen Konsumkapitalismus und einen Übergang vom Spar- zum Pumpkapitalismus (Dahrendorf). Der Aufstieg der Kapitalanlagegesellschaften und das ‚investment banking‘ liessen die Spielräume der Unternehmen, unter der Kontrolle der an Rendite orientierten Vertreter der Fonds, schrumpfen. Nicht ökonomische Interessen und Orientierungen standen im Vordergrund und entfalteten – Finanzkrise 2008 – ein destruktives Potential.

Kocka hält an dem Begriff der Lohnarbeit als Arbeit in einem Tauschverhältnis für einen bestimmten Zeitraum fest. Der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts fand bereits eine Gemengelage von Tagelöhner, Gelegenheitsarbeitern und Arbeitern in Manufakturen vor, machte jedoch Lohnarbeit zu einem Massenphänomen vor allem in der Fabrik- und Bergwerksindustrie. In den Unternehmen wurden Produktivitätsfortschritte erzielt, Missstände durch staatliche Intervention bekämpft und Arbeiterbewegungen gebildet, die den Prozess der Demokratisierung von Politik und Gesellschaft vorantrieben. Aktuell ist eine zunehmende Fragmentierung der Lohnarbeit in Raum und Zeit zu beobachten: Teilzeit oder als Leiharbeiter befristete Arbeiter oder Minijobber, Grauzonen zwischen Arbeit, Freizeit, Teilzeit, Gleitzeit bergen Chancen und Gefahren im Hinblick auf eine geringere Vergesellschaftung von Arbeit. Hinzukommen prekäre Arbeitsverhältnisse ohne gesetzliche Schutzbestimmungen. Unter globaler Perspektive ist Lohnarbeit eine Herausforderung für Interventionen durch starke Staaten.

Staat und Markt sind unterschiedlichen Logiken verpflichtet: Tausch oder Debatte, Geld oder Macht. Das Ziel der Politik ist das allgemeine Wohl (oder sollte es sein). Eine enge Verbindung zwischen Wirtschaft und staatlicher Politik ist in wechselnden Formen historisch die Regel gewesen: Im Westen gab es in der frühen Neuzeit eine enge Verquickung von Markt und Staat, dem folgte eine relative Trennung mit einer wirtschaftsliberalen Deregulierung im Zeichen des Freihandels und eine zunehmend verdichtete Interdependenz von Markt und Staat (gesteuerter Kapitalismus) und schliesslich einen ‚Laissez-faire-Kapitalismus‘ und revitalisierten Marktkapitalismus im 20. Jahrhundert. Nach der Diskreditierung des Finanzkapitalismus und der Folge einer Verschuldung der Staaten stellt sich die erneut Frage nach der politischen Entscheidungs- und Gestaltungskraft. Das Beispiel Schweden beweist, dass ein wettbewerbsfähiger Kapitalismus mit einer funktionierenden Demokratie und hohen sozialstaatlichen Leistungen vereinbar ist. Auch entfaltet sich die kapitalistische Dynamik auch unter autoritären Bedingungen (China, Singapur und Südkorea). Märkte brauchen aber politische Rahmenbedingungen, die destruktive Entwicklungen des Finanzkapitalismus kontrollieren und begrenzen und sozialen und politischen Erschütterungen durch wachsende Ungleichheit und Ungerechtigkeit vorbeugen. Dem globalen Kapitalismus entspricht allerdings keine grenzüberschreitende Staatlichkeit – ein ungelöstes Problem.

V Ausblick (5 Seiten)

Vorherrschend sind in Europa zur Zeit kapitalismuskritische Urteile; dennoch sind Fortschritte in Bezug auf Gesundheit, Wahlmöglichkeiten, Freiheiten nicht zu übersehen. Erfolgreiche Industrialisierung hat Kapitalismus vorausgesetzt. Die Verelendung der Arbeiterklasse ist heute kein Thema, und die Arbeiterfrage spaltet die Gesellschaft nicht mehr. Auch Kriege lassen sich nicht mehr vor allem ökonomisch erklären: Frieden ist schließlich auch die Voraussetzung einer erfolgreichen Geschäftstätigkeit. Angeprangert wird heute die ‚strukturierte Verantwortungslosigkeit‘ im Finanzsektor: Entscheiden und das Einstehen für die Folgen sind auseinander getreten. Wachsende Ungleichheit, Unsicherheit, Beschleunigungsdruck und Individualisierung brauchen für den Zusammenhalt der Gesellschaft eine demokratische und politische Gegensteuerung.

Kritik am Kapitalismus ist so alt wie der Kapitalismus selbst; sie hat aber seinen Aufstieg nicht verhindern können. Er kann unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Zielen dienstbar gemacht werden, auch in Richtung auf Erneuerbarkeit und Nachhaltigkeit, und lebt von seiner immer wieder herzustellenden sozialen, kulturellen und politischen Einbettung in die Gemeinschaft.

Diskussion

Die lange Zusammenfassung beinhaltet nur einen Bruchteil, des in diesem schmalen Buch enthaltenen reichen aktuellen und historischen Materials über die Geschichte, Wandlungen und unterschiedlichen Ausprägungen des Kapitalismus. Kocka verschweigt weder die Gefahren noch die Chancen und plädiert für eine politische und gesellschaftliche Kontrolle seiner destruktiven Seiten. Es scheint mir besonders geeignet für die heranwachsende Generation, sich – informiert – reflektierend und gestaltend gesellschaftlich und politisch an der zukünftigen Entwicklung zu beteiligen und könnte den Geschichtsunterricht um den allgemein beklagten vernachlässigten ökonomischen Aspekt bereichern und zukünftigen Gestaltungswillen wecken.

Fazit

Eine nicht immer leicht zu lesende, aber auf jeder Seite anregende Lektüre, die mehr enthält als nur die ‚Geschichte‘, da die Auswirkungen im Guten wie im Bösen bis in die Gegenwart reichen und die Probleme benannt werden, die in Zukunft anders und besser gelöst werden müssen.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 129 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.

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ISSN 2190-9245