Alexander Amberger, Thomas Möbius (Hrsg.): Auf den Spuren Utopias. Utopie und Utopieforschung
Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 13.12.2017
Alexander Amberger, Thomas Möbius (Hrsg.): Auf den Spuren Utopias. Utopie und Utopieforschung.
Springer VS
(Wiesbaden) 2017.
430 Seiten.
ISBN 978-3-658-14044-1.
69,99 EUR.
Festschrift für Richard Saage zum 75. Geburtstag.
Thema
Gegenstand des Bandes ist der Wandel und die gegenwärtige Bedeutung des Utopiebegriffs von der namengebenden Veröffentlichung des Thomas Morus über den Auftritt von negativen Utopien (Dystopien) und der Wiederbelebung der Gattung im Zuge der ökologischen Krise und der 68er Bewegung bis zur Gegenwart. Das Buch „versammelt Aufsätze, die ideengeschichtliche und interdisziplinäre, uorthodoxe und klassische Zugänge zum Thema bieten. Es gibt Beiträge zu einzelnen Utopien, zu übergreifenden thematischen und theoretischen Fragen und Beiträge, die die Utopie kritisch belichten.“ (S. 4)
Herausgeber
Dr. Alexander Amberger ist Politikwissenschaftler und Mitarbeiter für politische Bildung bei „Helle Panke“ e.V.- Rosa Luxemburgstiftung Berlin. Er ist bekannt geworden durch die Untersuchung: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Paderborn 2014.
Dr. Thomas Möbius ist Sozial- und Literaturwissenschaftler. Er ist hervorgetreten durch die Untersuchung: Russische Sozialutopien von Peter I bis Stalin, Berlin 2015.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um eine Festschrift zum 75. Geburtstag von Richard Saage, der die deutsche Utopieforschung der letzten Jahrzehnte maßgeblich geprägt hat. Zufällig fiel dieser Geburtstag mit dem 500. Jahrestag des Erscheinens von Thomas Morus´ „Utopia“ zusammen.
Aufbau und Inhalt
Die Schrift gliedert sich in vier Abteilungen, denen ein Beitrag von Dan Diner über die Bewusstseinsgeschichte der Nachkriegs-BRD mit dem Angelpunkt des ikonischen Jahrs 1968 vorangestellt ist. Beschlossen wird der Band durch das Nachwort eines der Reihen-Herausgeber, Christopher Coenen, der das Verhältnis von Technikfolgenabschätzung und Utopie bedenkt und dabei besonders auf transhumanistische Zukunftsvorstellungen eingeht. – Im Anhang befindet sich ein Verzeichnis der Publikationen von Richard Saage zur Utopieforschung.
In der ersten Abteilung werden fünf Aufsätze zu klassischen Werken zusammengefasst. Thomas Schölderle („Thomas Morus und die Herausgeber – Wer schuf den Utopiebegriff?“) setzte sich kritisch und in akribischer historischer Argumentation mit der These auseinander, dass es eine grundlegende Überarbeitung der „Utopia“ bei der Grundlegung gab, an der Morus nicht beteiligt war. Barbara Holland-Cunz („Vergesellschaftete Reproduktion, vermischte Sphären. Ein halbes Jahrtausend in Utopias Speisehäusern“) thematisiert die Gestaltung des Zubereitens und Essens in den utopischen Entwürfen von Morus bis Marge Piercy (1976), wobei sie auf das Geschlechterverhältnis eingeht. Peter Seyferth („Mönchische Strenge und ketzerische Subversion. 500 Jahre ‚Utopia‘ und 500 Jahre ‚Bayerisches Reinheitsgebot‘“) konstruiert aus dem chronologischen Zufall einen inneren Zusammenhang, in dem „Reinheitsgebot“ und „Utopia“ zentrale Elemente gleichförmiger Geschichtsstrukturen darstellen. An Voltaires „Candid“ und Samuel Johnsons „The History of Rasselas, Prince of Abbyssinia“ unternimmt es Hans Ulrich Seeber die Besonderheiten der spätaufklärerischen Utopie herauszuarbeiten. Schließlich stellt Matthias Kaufmann Tommaso Campanella und den italienischen Philosophen Benedetto Croce ( 1866-1952) vor und referiert dessen wenig schmeichelhafte Sicht auf Campanellas „Civitas Solis“ (Sonnenstaat).
Die zweite Abteilung vereint unter dem Titel „Utopie in der Ideengeschichte“ fünf Aufsätze eher philosophiegeschichtlicher Provenienz. Eun Jeung Lee stellt das Konzept des Idealstaats im Denken von Konfuzius dar, wobei er ihm kontraktualistische und utopische Elemente zuschreibt. Nach Gerhard Göhler beweist der Hegelschüler Eduard Gans, dass Utopien nicht unbedingt eine radikale Abkehr von Hegel bedeuten müssen. Gans habe die Hegelsche Philosophie mit utopischen Elemente verbunden, indem er sie für republikanische Vorstellungen geöffnet und für das bei Hegel ungelöste Problem der „Erzeugung des Pöbels“ eine systemimmanente Abhilfe angeboten habe. Axel Rüdiger („Die Utopie des unbedingten Grundeinkommens als Gebot der praktischen Vernunft“) erinnert an Adolf Dori, einen frühkommunistischen deutschen Radikalen um 1800, der, von Kant ausgehend, die Gemeinschaftlichkeit des Grundeigentums fordert und behauptet, der Staat sei verpflichtet, jedem ein Amt zu geben. Warum dies mit dem heute diskutierten arbeitsunabhängigen („bedingungslosen“) Grundeinkommen identisch sein soll, bleibt allerdings unklar. Peter Nitschke untersucht das Verhältnis von Utopie und Chiliasmus („Die kritische Differenz der Utopie – oder: Wie sinnvoll ist die Abgrenzung zum Chiliasmus?“), wobei die anthropologischen Voraussetzungen und die Rolle der Gegenwartskritik, die Vorstellung vom neuen Menschen und das Problem der Säkularisierung zur Sprache kommen. Nach Mathias Lindenau („‚Utopien, das wäre vielleicht eine Aufgabe, der ich gewachsen wäre‘. Kontingenzbewusstsein in der Utopie von Gustav Landauer“) war es Landauers infinit dynamischer Utopie „vorbehalten, bereits vor der dystopischen Wende die Kontingenzaversion des utopischen Denkens zu durchbrechen“ und mit seiner Emphase von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung postmaterielle Utopien vorwegzunehmen.
Abteilung III („Utopie in politischer Theorie und Praxis“) enthält drei Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und zwei Aufsätze, die gegenwärtige diskursstrategische Themen behandeln. Helga Grebing („Die deutsche Arbeiterbewegung braucht keine Utopie. Versuch einer Umorientierung“) vertritt, ausgehend von August Bebel, die These, dass die Arbeiterbewegung schon vor 1914 antiutopisch und auf die Entwicklung und institutionelle Absicherung der Arbeiterkultur ausgerichtet war. (Demnach wäre umgekehrt die dezidiert antiutopische Haltung der Arbeiterbewegung mit der reformistischen Einstellung eng verbunden.) Wolfgang Maderthaner („Das kommunale Experiment des Roten Wien – die ‚Veralltäglichung‘ der Utopie?“) vergegenwärtigt das Milieu des Austromarxismus und seine reformistischen Grundanschauungen vom Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus und von einer „graduellen Machterlangung“. Zu den großen Erfolgen der Wiener Sozialdemokratie in den zwanziger Jahren gehörte der kommunale Wohnungsbau mit seiner modernen Architektur und seiner pädagogischen, hygienischen und kulturellen Infrastruktur. Alexander Amberger erinnert an die Utopien von Harich, Havemann und Bahro, die, Blochs „Das Prinzip Hoffnung“ vor Augen, in der DDR eine demokratische und ökologische Alternative des Sozialismus zu entwickeln versuchten. (Es ist freilich unzutreffend, von einem „absolut instrumentellen Naturverständnis“ bei Bloch (S. 235) zu sprechen; seine Rede vom „Natursubjekt“, von einer möglichen „Allianztechnik“, die uns mit dem „Herd des Produzierens in der Natur“ verbinden soll, sowie seine Metapher, die bisherige Technik stehe in der Natur wie eine Besatzungsarmee in Feindesland (Das Prinzip Hoffnung, S. 802 ff.), sprechen eine andere Sprache.) Walter Reese-Schäfer („Die aktuelle Diversitätsdebatte“) thematisiert mit großem philosophiegeschichtlichen Einsatz die „Schwierigkeiten mit dem Traum von der Universalität“. Den Abschluss dieser Abteilung bildet Franco Zottas „Kritik des misanthropischen Kapitalismus“, die im Geiste Walter Benjamins den Fortschrittsbegriff und den gegenwärtigen Marktradikalismus zur christlichen Theodizeeproblematik in Beziehung setzt.
Unter dem Titel „Utopie in der Moderne“ werden in der vierten Abteilung folgende Beiträge gesammelt: Thomas Möbius hat Konstantin S. Mereschkowskijs Utopie „Das Irdische Paradies“ von 1903 ausgegraben. Der russische Autor hält eine Gesellschaft für wünschenswert, deren Mitglieder durch „Zuchtwahl“ verbessert werden und die ihre Arbeit durch eigens gezüchtete Sklaven verrichten lässt. Auch Peter Steinbach entreißt einen eher unbekannten Autor dem Vergessen, wobei Hans Paasche (1881-1920), der sich an der Berliner Räterepublik nach Ende des 1. Weltkriegs beteiligt hat und als Pazifist und Kritiker des Kolonialismus ermordet wurde, eine weitaus erfreulichere Gestalt ist. Paasche hat 1912/1913 in zwei Zeitschriftenartikeln einen fiktiven Bericht über die Reise eines zentralafrikanischen Gesandten ins wilhelminische Deutschland („Die Forschungsreise des Afrikaners Lukunga Mukara ins innerste Deutschlands“) veröffentlicht und dabei den ethnologischen Blick umgekehrt: Die stolzen Europäer werden distanziert betrachtet, ihre Lebensgewohnheiten wie das Essen von Tieren und ihre Institutionen wie das Geld erscheinen als unvernünftig und barbarisch. Im Kontrast zu Paasche steht die Dystopie des Jean Raspail, die von Udo Bermbach („Vom Untergang des weißen und christlichen Abendlandes“) vorgestellt wird. Raspails Roman „Das Heerlager der Heiligen“ von 1973 malt das Schreckbild des Endes der französischen Kultur durch die Invasion von einer Million völlig verarmter und hungernder Inder, die nach einer Irrfahrt ihrer Schiffe im Süden Frankreichs landen. Martin d´Idler („Die Büchse der Pandora“) interpretiert James Camerons Spielfilm „Avatar“ als ökologische Utopie, weil er die Grundstruktur von Gesellschaftskritik und utopischem Gegenentwurf aufweist. Es handelt sich um eine moderne, selbstreflexive Utopie, weil ihre Bewohner nicht als „Neue Menschen“, sondern in einer Unvollkommenheit gezeichnet werden, die den realen Menschen ähnelt. Felicia Englmann („Unort, Unsinn, Unzeit“) beschäftigt sich mit „Utopie im zeitgenössischen Musiktheater“. Oper spiele immer im u-topos, das zeige allein ihre Darbietungsform. Als Kronzeugen der Moderne werden Nono, Ligeti und Boulez herangezogen. Die Zwölftonmusik, für die im Bereich der Oper Bergs „Lulu“ steht, sei „ein radikal demokratischer Ansatz“. Im Musiktheater der Gegenwart – genannt werden die Komponisten Maazel, Staude, Machover, Widmann und Schnebel - finde eine Selbst-bewusstwerdung der utopischen Natur der Gattung statt. Schließlich beschäftigt sich Eva-Maia Seng mit „Utopie und Architektur zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ anhand des Romans „The Circle“ von Dave Eggers. Es handelt sich um eine Dystopie, in der ein Unternehmen der IT Branche totalitäre Herrschaft über seine Angestellten anstrebt und verwirklicht. Diesem Zweck dient auch die Firmenarchitektur, die den neuen bzw. geplanten Konzernzentralen der großen IT-Firmen wie Aplle, Google und Facebook nachempfunden ist.
Diskussion
Es fällt bei 23 Beiträgen jeweils anderer Autoren schwer, einzelne Artikel aus dieser Sammlung hervorzuheben. Sie sind durchweg interessant und lesenswert, wenn sie auch bisweilen Widerspruch hervorrufen müssen. Deshalb sei hier nur ein Problem herausgegriffen, dessen sich so mancher Autor durchaus bewusst ist. Es betrifft die Utopie als Gattungs- oder Allgemeinbegriff. Geht man aus von Saages Begriff der Utopie als „Wunsch- oder Furchtbild einer zukünftigen Gesellschaft“, muss der freizügige Umgang mit den Begriffen „Utopie“ und „utopisch“ als verfehlt erscheinen. Selbst wenn man einräumt, dass schon der Bezug einzelner Aspekte auf eine zukünftige Gesellschaft die Bezeichnung rechtfertigen kann, kommt man doch nicht umhin, eine Inflationierung des Utopiebegriffs auch in diesem Band festzustellen. Die Inflationierung beginnt vielleicht schon mit Landauers Erhebung der Utopie zu einem omnihistorischen Begriff und setzt sich fort in Blochs Rede von den Bereichsutopien. Die Unbestimmtheit, zu der die Inflationierung des Utopiebegriffs zwangsläufig führt, ist in der Blochschen Philosophie zum Programm erhoben: Da sich die Utopie auf ein eschatologisches Sein bezieht, das noch unbestimmt und noch nicht bewusst ist, wird die Beziehung darauf zwar nicht beliebig – es gibt auch für Bloch Ereignisse und Taten, die einfach nur schrecklich sind, und es gibt die große Welt der Langeweile und Hohlheit – aber doch entgrenzt. Ich möchte nicht Bloch für die Inflationierung des Utopiebegriffs verantwortlich machen, aber er hat sie zweifellos gefördert.
Der beliebigen Verwendung des Begriffs korrespondiert seine praktische Bedeutungslosigkeit. Sie hat vermutlich damit zu tun, dass kaum mehr eine Infragestellung des Privateigentums gedacht werden kann. Von Morus (und selbst von Platon) her war die Kritik des Privateigentums ein Kernelement der Utopie. Marx und Engels haben die utopischen Entwürfe ihrer Zeitgenossen kritisiert, weil sie nur einzelne Seiten der bürgerlichen Gesellschaft, wie einen abstrakten Gleichheitsbegriff, verabsolutiert und in die Zukunft projiziert haben. Sie wollten die historische Spontaneität und Erfindungsgabe der Arbeiterklasse nicht durch Idealkonstruktionen vom Schreibtisch aus beengt sehen. Aber in der Folgezeit hat das aus der Kritik abgeleitete Tabu über die Utopie der Hinnahme der bestehenden Eigentumsverhältnisse gedient. Dabei war Marx nicht ganz so zurückhaltend in Bezug auf seine Zukunftsvorstellungen, wie es bisweilen dargestellt wird. Diese Zukunftsvorstellungen und ihr Zusammenhang mit der Utopiekritik wären sicher ein Thema gewesen, dessen Behandlung die Verdienste dieser Veröffentlichung noch gesteigert hätte.
Fazit
Der Band ermöglicht einen vielfältigen Blick auf das Thema „Utopie“ und gibt in seinen Einzelaspekten wie in der Gesamtschau eine Fülle von Anregungen für jeden am Thema Interessierten. Dieses Thema ist wichtig, weil Utopien in einer – bei all ihrer Dynamik – zunehmend geschlossenen Welt zum Denken in Alternativen und zum entsprechenden Handeln beitragen können.
Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 13.12.2017 zu:
Alexander Amberger, Thomas Möbius (Hrsg.): Auf den Spuren Utopias. Utopie und Utopieforschung. Springer VS
(Wiesbaden) 2017.
ISBN 978-3-658-14044-1.
Festschrift für Richard Saage zum 75. Geburtstag.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23164.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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