Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus
Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 13.09.2017

Erik Olin Wright: Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2017.
530 Seiten.
ISBN 978-3-518-29792-6.
D: 24,00 EUR,
A: 24,70 EUR,
CH: 34,50 sFr.
Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2192.
Thema
Es gibt keine Alternative – dieser Slogan hat nicht nur die wirtschaftsliberale Umwandlung der kapitalistischen Ökonomien begleitet, sondern ist das Etikett einer globalen Ordnung, die ebenso dynamisch („Wachstum“) wie am Ziel der menschlichen Bestimmung sein will. In der geschlossenen Welt, in der es nichts Neues unter der Sonne gibt außer dem dernier cri der Technik, der Mode und der Drohung mit der finalen Zerstörung, die freilich auch schon in die Jahre gekommen ist, wird jede soziale Alternative mit dem Begriff der Utopie belegt. Dieser Begriff soll im pejorativen Sinn verstanden werden und das Unmögliche bezeichnen. Aber seit Thomas Morus, der das Wort zu Beginn der Neuzeit geschaffen hatte, meinte Utopie die gedankliche Konstruktion einer besseren Gesellschaft, die aus der Kritik der Bestehenden hervorgeht und eine moralische Verbindlichkeit besitzt. An diese Bedeutung von Utopie knüpft das hier zu besprechende Werk an. Es gibt der Frage der Utopie einen besonderen Akzent, indem es Erfahrungen präsentieren will, die mit dem Versuch, der stationären Dynamik des Kapitalismus zu entrinnen, gemacht worden sind und immer noch, abseits der hot spots medialer Aufmerksamkeit, gesammelt werden. Deshalb geht es um reale Utopien.
Autor
Erik Olin Wright, Jg. 1947, ist Professor für Soziologie an der Universität Wisconsin, USA.
Entstehungshintergrund
Wright war zwischen 1970 und 1990 vornehmlich mit der Klassentheorie beschäftigt. Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Staatssozialismus hat er sich den Fragen der Utopie zugewandt und das „Real Utopias Project“ initiiert. Bis zum Jahre 2009 waren aus dem Projekt sechs Bücher verschiedener Autoren hervorgegangen. (S. 29) Das vorliegende Buch, das siebte der Reihe, entstand aus dem Plan, über „Sociological Marxism“ zu schreiben. Es stellt die Verselbständigung und Erweiterung des für dieses Buch ursprünglich vorgesehenen Schlusskapitels dar.
Aufbau und Inhalt
„Reale Utopien“ ist in drei Teile gegliedert, die von zwei einleitenden Kapiteln und einem Schlusswort umrahmt werden.
Das Vorwort zur deutschen Ausgabe umreißt den Kerngedanken: „Anstatt den Kapitalismus durch Reformen ‚von oben‘ zu zähmen oder mittels eines revolutionären Bruchs zu zerschlagen, sollte [er] dadurch erodiert werden, dass in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume gekämpft wird. Reale Utopien sind Institutionen, Verhältnisse und Praktiken, die in der Welt, wie sie gegenwärtig beschaffen ist, entwickelt werden können, die dabei aber die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen und dazu beitragen, dass wir uns in dieser Richtung voranbewegen.“ (S. 11) Ziel ist das, was Wright die gesellschaftliche Ermächtigung nennt, gerade auch im Hinblick auf die Wirtschaft. Und eben dies wäre das Kernelement von Sozialismus.
Die Einleitung (1.Kapitel) gibt eine Art Vorschau über die realen Utopien, die Wright behandeln wird, während das 2. Kapitel (über emanzipatorische Sozialwissenschaft) zunächst die normativen Grundlagen der Analyse offenlegt. Zugrunde liegt ein radikaldemokratisches und egalitäres Verständnis von Gerechtigkeit. Es geht um den gleichen Zugang zu den zur Führung eines erfüllten Lebens notwendigen Mittel (soziale Gerechtigkeit) und um den gleichen Zugang zu den Mitteln der Beteiligung an Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen (politische Gerechtigkeit). Im zweiten Schritt werden die Kriterien entwickelt, denen der Entwurf sozialer Alternativen genügen muss. Es handelt sich um Wünschbarkeit, Gangbarkeit und Erreichbarkeit. Gangbarkeit ist von Erreichbarkeit zu unterscheiden, weil sie die Frage nach der Funktionsfähigkeit eines Modells stellt, wobei der historische Kontext berücksichtigt werden muss. Die dritte Aufgabe besteht in der Theorie der Transformation, d.h. einer Theorie des Übergangs aus der bestehenden Gesellschaft in eine neue, die den normativen Kriterien genügt und ihre Versprechungen einlöst. Diese drei Aufgaben charakterisieren die drei Teile, in die das Buch gegliedert ist.
Der erste Teil gilt der Diagnose und Kritik der Welt, wie sie ist. Er besteht aus nur einem Kapitel (dem 3.) mit der schönen Überschrift „Was ist so schlimm am Kapitalismus“? Wright definiert den Kapitalismus durch das Klassenverhältnis von Kapitalisten, die Privateigentum an den Produktionsmitteln besitzen, und Lohnarbeitern, sowie durch eine wirtschaftliche Koordinierung, die durch dezentralisierte Tauschhandlungen auf dem Markt vollzogen wird. Warum sollte es wünschenswert sein, dieses System, das in konkreten Varianten existiert, hinter sich zu lassen? Wright nennt insgesamt 11 Gründe, ohne der Versuchung zu erliegen, den Kapitalismus für alles Übel in der heutigen Welt verantwortlich zu machen. Offenkundig verletzt er jedoch die im 2. Kapitel dargelegten Prinzipien sozialer und politischer Gerechtigkeit. Zudem zerstört er die Umwelt, fördert eine konsumistische Haltung, die der menschlichen Entfaltung schädlich ist, zersetzt die Fähigkeit zur Bildung von Gemeinschaften und befeuert Militarismus und Imperialismus. Besonders hervorzuheben ist die Kritik einer spezifischen Ineffizienz im Kapitalismus. Genannt werden u.a. die Unterproduktion öffentlicher Güter, die Unterbewertung der Naturressourcen, die Pathologien intellektueller Eigentumsrechte sowie die Kosten der sozialen Ungleichheit. Merkwürdigerweise fehlt ein Hinweis auf die Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums durch die unbeherrschbare Krisendynamik. Übrigens sind die Ablehnungsgründe sachlich vorgetragen und rufen nach empirischer Untermauerung und kontroverser Diskussion – die sie freilich auch vertragen dürften.
Der weitaus umfänglichste zweite Teil (S. 147-372) trägt die Überschrift „Alternativen“ und enthält vier Kapitel. (4-7) Bezogen auf die Trias von Wünschbarkeit, Gangbarkeit und Realisierbarkeit aus dem 2. Kapitel ist das beherrschende Thema dieses Teils die Gangbarkeit von Alternativen. Das 4. Kapitel rekapituliert und kritisiert die Marx´sche Krisen- und Revolutionstheorie. Im 5. Kapitel werden die Idealtypen Kapitalismus, Etatismus und Sozialismus verglichen und sodann sieben verschiedene Pfade gesellschaftlicher Ermächtigung (empowerment) diskutiert, auf denen die Idee des Sozialismus, die Ausweitung gesellschaftlicher Macht auf die Wirtschaft, verwirklicht werden kann. Zu diesen Methoden gehört auch die sozialdemokratisch-etatistische Regulierung neben dem, was Wright den sozialen Kapitalismus nennt. Auch „Sozialwirtschaft“, verstanden als wirtschaftliche Tätigkeit freier Assoziationen ohne Gewinnerzielungsabsicht, und die Marktwirtschaft von Kooperativen werden aufgeführt. Hervorzuheben ist die Diskussion über Sinn und Machbarkeit einer sozialistischen Marktwirtschaft im 7. Kapitel. (344-366) Wright verschweigt nicht die Gegenargumente, wie sie von Michael Albert in seinem alternativen Konzept der participatory economics (Parecon) vorgetragen werden, neigt aber dazu, die Abschaffung von Markt und Warenproduktion für unrealisierbar zu halten. Umgekehrt sieht er Gründe dafür, dass sich die Marktlogik und ihre Ungleichheitsdynamik unter den Bedingungen des Sozialismus einhegen ließe. (S. 362 f.) – Die Experimente, die für den Buchtitel „reale Utopien“ Modell gestanden haben, werden in den Kapiteln 6 und 7 besprochen: partizipative städtische Haushaltsplanung im brasilianische Porto Allegre; Wikipedia, Sozialwirtschaft in Quebec in den Bereichen Kinder- und Altenpflege, die baskischen Kooperativen Mondragon u.a. Eine zentrale Stellung nimmt das Konzept eines bedingungslosen und allgemeinen Grundeinkommens ein, da es als Voraussetzung dafür gilt, dass solche alternativen Projekte ohne den ökonomischen Druck, für den Lebensunterhalt sorgen zu müssen, realisiert werden können. (S. 305-311) Auch im Vorwort zur deutschen Ausgabe nimmt diese Strategie einen breiten Raum ein. (S. 20-25)
Im dritten Teil (Kapitel 8-11, S. 375-485) beschäftigt sich Wright mit der Theorie der Transformation. Sie soll die Frage nach der Erreichbarkeit der als wünschenswert und gangbar behaupteten Konzepte prüfen. Grundlage ist eine Theorie der Reproduktion des kapitalistischen Systems und ihrer Widersprüche, an denen transformative Strategien ansetzen können. (Kap. 8) Diese Strategien sind der revolutionäre Bruch, die Metamorphose, die auf der Ausweitung von Freiräumen besteht und entweder evolutionär oder revolutionäre gedacht worden ist, sowie schließlich eine Metamorphose, die durch „symbiotische Transformationen“ oder Klassenkompromisse erreicht werden soll. Die Kapitel 9, 10 und 11 sind der Analyse und Diskussion je einer Strategie gewidmet. „Keine dieser Strategien ist einfach oder unproblematisch. (.) Einer dieser Transformationsmodi kann sich an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit als der effektivste erweisen, oft sind sie aber alle drei relevant. (.) Soll eine langfristiges emanzipatorisches Transformationsprojekt Aussicht auf Erfolg haben, muss es sich jedoch mit dem schwierigen Problem einer Koordination verschiedener Elemente dieser Strategien befassen, auch wenn die Strategien in der Praxis oft quer zueinander stehen.“ (S. 418)
Diskussion und Kritik
Die normative Grundierung von Wrights Kritik und seinem Handlungsentwurf scheint mir gut begründbar – es geht, wie wir gesehen haben, um die Idee menschlicher Entfaltung und um die Idee der Gerechtigkeit im sozialen und politischen Sinn. Zwei weitere Prämissen scheinen mir unanfechtbar:
- Kapitalismus ist trotz seiner einmaligen Steigerung der Produktivität ein System, das für die überwiegende Mehrzahl der Menschen mit hohen Kosten verbunden ist. Es sollte geändert werden, wenn es Wege gibt, dies mit einem Weniger an menschlichem Leid zu erreichen.
- Eine Gesellschaft jenseits des Privateigentums an den Produktionsmitteln wird nicht entstehen können, wenn die Mehrheit der Menschen sie nicht will. Sie kann sie nicht wollen, wenn es keine praktikablen Vorstellungen von dem gibt, was da ins Werk gesetzt werden soll.
Gleichwohl sehe ich eine Reihe von Problemen. Fragwürdig ist v.a. das Konzept der Erosion des Kapitalismus durch die allmähliche Ausdehnung von Projekten, die alternative Organisationsprinzipien verwirklichen. Fragwürdig ist insbesondere die allgemeine theoretische Grundlage dieses Konzepts, welches sich in der These zusammenfasst, dass wirtschaftliche Strukturen stets Mischformen sind. Wenn damit gemeint ist, dass in einer Gesellschaftsformation (sei es Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus oder Staatssozialismus) immer auch andere Formen der Beschäftigung oder des Wirtschaftens neben der dominanten existieren, ist die These sicher nicht falsch. Abwegig scheint aber die Vorstellung, dass es sozusagen eine friedvolle Koexistenz verschiedener Produktionsweisen geben könnte. (vgl. S. 487) Das historische Beispiel der Entwicklung kapitalistischer Produktionsweise in einem vom Feudalismus dominierten Milieu (vgl. S. 437 f.) ist insofern nicht überzeugend, da es im Feudalismus nicht jene zentralisierte Macht des modernen Staates gegeben hat, die für eine moderne kapitalistische Gesellschaft unverzichtbar ist. Die Vorstellung, dass staatliche Aktivitäten, die den Arbeitsmarkt oder die Arbeitszeit regulieren und – etwa durch Gesundheitsschutz oder die gesetzliche Einführung des Achtstundentags, die Ausbeutungsmöglichkeiten beschränken – sozialistisch (oder in irgendeinem anderen Sinn nichtkapitalistisch, nämlich etatistisch) seien, scheint eher aus dem Gruselkabinett der Marktradikalen zu stammen als aus den wirklichen Verhältnissen. Wright hat vielleicht doch kein hinreichendes Verständnis vom Staat der kapitalistischen Wirtschaft, obwohl er die Realität anerkennt, dass der Staat mitunter den Interessen aller einzelnen Kapitalisten zuwiderhandelt, um die allgemeinen Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion in kapitalistischer Form zu erhalten. (vgl. S. 183; 398 f.). Ein solches Agieren macht den Staat noch nicht zu einem „Frankenstein“ oder zu etwas anderem als dem Staat der bürgerlichen Gesellschaft. Der Name Etatismus sollte für jene Formationen reserviert bleiben, in denen der Staat unmittelbar in die Produktion eingreift – was in einer kapitalistischen Variante (Erhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln; Modell Nazi-Deutschland) und einer sozialistischen Variante (Modell Sowjetunion) möglich ist: als Staatkapitalismus wie als Staatssozialismus.
Die Problematik der Erosion durch Ausdehnung lässt sich an zwei der Hauptbeispiele, die Wright heranzieht, erläutern. Zunächst an der Genossenschaftsbewegung. Marx hatte die Kooperativen, die im 19. Jahrhundert aufgekommen waren, als eine Vorstufe zum Sozialismus geschätzt. (Vgl. die etwas tendenziöse Darstellung bei Wright, S. 328 ff.) An manchen Stellen, so in der „Kritik des Gothaer Programms“ hat er den Sozialismus geradewegs als die genossenschaftliche, auf dem Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründete Gesellschaft charakterisiert. Allerdings sah er die Gefahr, dass sich die bestehenden Genossenschaften in eine Art Aktiengesellschaften verwandeln, wenn sie nicht in den Kampf um die politische Macht eingebettet werden. Insbesondere schlug er vor, sich auf Produktionsgenossenschaften zu konzentrieren (nicht auf Konsum- oder Bankgenossenschaften) und dafür Sorge zu tragen, dass die Einlagen aller Beteiligten gleiche Höhe haben. Die Entwicklung der Genossenschaftsbewegung hat gezeigt, dass Marx Recht hatte. Die Kooperativen wurden zu Elementen der kapitalistischen Wirtschaft, zu einer bürgerlichen Rechtsform, und haben jeden Bezug auf eine andere Wirtschaftsform verloren. Sie können nicht mehr als Vorwegnahmen einer neuen Gesellschaft in der alten gelten. Wer weiß heute schon, dass REWE oder die Volksbanken genossenschaftlich verfasst sind? Genossenschaften mögen im Einzelfall Vorteile bieten, aber eine echte Alternative zum Kapitalismus stellen sie, für sich genommen, nicht dar.
Eine vergleichbare Crux des Verhältnisses von punktueller Veränderung und gesellschaftlichem Rahmen ergibt sich bei der Frage des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE), das für Wright aus den oben genannten Gründen eine strategische Schlüsselrolle einnimmt. Die Idee als solche ist älter – schon Erich Fromm hat sich 1966 zu ihr geäußert. Nach Fromms Auffassung wird die positive Wirkung eines BGE von der Änderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen abhängen, z.B. einer drastischen Verschiebung von der Produktion für individuelle zu einer Produktion für öffentliche Bedürfnisse sowie einer umfassenden Demokratisierung. Das Grundeinkommen kann, wie Butterwegge gezeigt hat, auch für die Entlastung der kapitalistischen Betriebe genutzt werden, wenn es etwa mit einer Einschränkung der Gesundheitsvorsorge und der Streichung der Arbeitgeberbeiträge einhergeht. Natürlich wendet sich Wright gegen entsprechende Einschränkungen – das öffentliche Bildungssystem und die öffentliche Gesundheitsversorgung sollen weiterbestehen. (S. 43) Dennoch erhält man den Eindruck, dass die Schaffung von kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen, unter denen das BGE etwas anderes wäre als eine Umschichtung in den Sozialausgaben, die zu Erleichterungen für die Unternehmen führt, eine so radikale Veränderung implizieren würde, dass das Grundeinkommen als solches an strategischer Bedeutung erheblich verliert.
Man kann also mit Recht bezweifeln, dass die Ausnützung von Freiräumen überhaupt so etwas wie eine Transformations(!)strategie sein kann. Ähnliches gilt für die Strategie des Klassenkompromisses oder der symbiotischen Transformation. Klassenkompromisse zwischen Arbeiterschaft und Kapitalisten wie die deutsche Mitbestimmung oder das schwedische Steuersystem sind eben Kompromisse von Klassen und implizieren die Aufrechterhaltung der Klassenstruktur, welche mit einer egalitär-demokratischen Vorstellung von social empowerment in der Wirtschaft unvereinbar ist. Die Aufrechterhaltung der Klassenteilung bedeutet insbesondere die Erhaltung der Entscheidungsfreiheit für die Fabrikeigentümer. Wright selbst zeigt sehr schön, wie die Kompromissbereitschaft der schwedischen Unternehmer an dem Punkt ein Ende fand, als die Einrichtung eines „Lohnfonds“ zur Aushebelung ihrer Entscheidungsfreiheit hätte führen müssen. Dies eben war der „Kipppunkt“ (S. 473), an dem die Kompromisse zu einer Transformation hätten führen können. Im Übrigen beschweigt Wright die Rolle, welche die internationale Konkurrenz der Kapitale bei der Bereitschaft zum Kompromiss spielt. Der Gedanke scheint mir nicht so abwegig, dass halbwegs stabile Klassenkompromisse nur in dem Maße möglich sind, als sie auf Kosten Dritter geschlossen werden können.
Diese Einwände gipfeln also in der These, dass Freiräume und Kompromisse nur Teil einer Transformationsstrategie sein können, wenn die Notwendigkeit des Bruchs mitgedacht wird. Ich würde Wright zustimmen, dass auch die Strategie Bruchs auf Elemente der experimentellen Freiräume und des Kompromisses angewiesen ist – aber nicht in gleicher Weise wie sie auf ihn. Der Bruch lässt sich ohne sie nicht verwirklichen; die beiden anderen lassen sich ohne ihn als Transformationsstrategien nicht einmal denken.
Aber natürlich hat die Vorstellung der Transformation als Bruch einen entscheidenden Nachteil, den Wright auch benennt. „Eine nennenswerte Entwicklung hin zu realer gesellschaftlicher Ermächtigung bedroht die Interessen mächtiger Akteure, die am stärksten von kapitalistischen Strukturen profitieren und ihre Macht einsetzen können, um solche Entwicklungen zu bekämpfen.“ (S. 375) Wenn „Sozialismus“, die Ermächtigung der Gesellschaft über die Wirtschaft, die dominierende Struktur werden soll, müssen eines Tages die Schlüsselindustrien der modernen Wirtschaft – Energie- und Produktionsmittelsektor, Chemie-, Kommunikations- und Transportmittelsektor und natürlich die Banken – in Gemeinbesitz überführt werden. Spätestens dann wird der Kampf wahrscheinlich unausweichlich und es ist gefährlich, sich darüber hinwegzutäuschen. Es kann keinen Sozialismus geben, ohne dass die Macht des großen Geldes gebrochen wird, die nicht zuletzt in der Verfügung über Massenmedien und Gewaltmittel besteht. Wer aber will einen Kampf auf Leben und Tod riskieren? Die Bewahrer von Klassenverhältnissen kennen nicht den Abscheu vor Gewalt, den eine intellektuelle Tätigkeit in der Regel mit sich bringt.
Allerdings ist es wohl falsch, die mögliche Ursache künftiger Gewalt und Brutalisierung allein oder vorrangig darin zu sehen, dass der Kapitalismus durch eine sozialistische Alternative in die Enge getrieben wird. Viel wahrscheinlicher ist eine gleichsam autonome Entwicklung, die Ähnlichkeiten mit der zum Faschismus besitzt, denn gewaltsame Expansion, die Verstärkung der Repression und die Erfindung und Bekämpfung innerer wie äußerer Feinde ist die endemische Antwort des Systems, wenn es in ernsthafte Reproduktionsschwierigkeiten geraten sollte. Diese historische Erfahrung unbedacht zu lassen, ist vielleicht der gravierendste Mangel von Wrights Reproduktions- und Transformationstheorie.
Fazit
Wrights Buch über reale Utopien hat die Idee des Sozialismus auf eine Weise belebt, wie es in keiner anderen zeitgenössischen Veröffentlichung der Fall ist. Seine Ausführungen sind gut durchdacht und seine Vorschläge und Positionen werden ohne dogmatischen Eifer vertreten. Mag seine Vorstellung einer Erosion des Kapitalismus auch anfechtbar sein, so werden ihm zwei Verdienste nicht abgesprochen werden können: Er hat mögliche Alternativen aufgezeigt und argumentativ analysiert. Und er hat im Bestehenden die Ansätze gesellschaftlicher Selbstermächtigung und Selbstverwaltung hervorgehoben, die als Keime und Modelle einer Gesellschaft jenseits kapitalistischer Produktion wirken können. Eine dritte Leistung wird nicht einmal intendiert sein: Wright eröffnet uns den Zugang zu einer bemerkenswert differenzierten und gedankenreichen Diskussion an akademischen Universitäten, die hierzulande im akademischen Milieu offenbar nicht möglich ist. Warum eigentlich?
Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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