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Annemarie Jost, Jan V. Wirth: Mehrperspekti­visches Arbeiten in der Kinder- und Jugendhilfe

Rezensiert von Silvia Gavez, 25.05.2018

Cover Annemarie Jost, Jan V. Wirth: Mehrperspekti­visches Arbeiten in der Kinder- und Jugendhilfe ISBN 978-3-17-032097-0

Annemarie Jost, Jan V. Wirth: Mehrperspektivisches Arbeiten in der Kinder- und Jugendhilfe. "Steven M." - ein Junge mit FASD. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2017. 280 Seiten. ISBN 978-3-17-032097-0. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.

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Thema

In diesem Buch wird ein so genannt komplexer Kinder- und Jugendhilfefall rekonstruiert, in den Fachpersonen aus verschiedenen Disziplinen mit je unterschiedlichen Zuständigkeiten involviert waren. Steven, ein Kind mit dem Krankheitsbild Fetale Alkohol-Spektrum-Störung (FASD), wächst bei seiner Großmutter als Pflegekind auf. Die leibliche Mutter von Steven ist drogen-, alkohol- und medikamentenabhängig. Gegen ihren Willen verliert sie das Sorgerecht an ihre eigene Mutter, die Großmutter von Steven. Mutter und Tochter stehen in einem ambivalenten, zweitweise konflikthaftem Verhältnis zueinander.

Die Bearbeitung des Falles ist aus Sicht von Jost und Wirth (Hrsg.) verbesserungswürdig. Es wird dargestellt, wie es Fachkräften gelingen kann – insbesondere bei komplexen Fällen – Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit gerecht zu werden, indem sie dazu befähigt werden, das eigene Leben nach erfolgter Unterstützung besser fortzuführen.

Aufbau und Inhalt

Die Deusche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Im ersten Kapitel finden sich auf rund 50 Seiten Aktenauszüge aus verschiedenen Einrichtungen und von Fachkräften verschiedener Disziplinen. Die Akten sind chronologisch aufgeführt und werden nicht kommentiert.

Der darauf folgende Beitrag (Kapitel 2) stammt von der Großmutter, auch Pflegemutter von Steven, die ihr Leben und ihre Situation mit Steven schildert. Da Steven nicht für eine Beteiligung gewonnen werden konnte, fehlt seine Perspektive. Es folgen acht Beiträge von Autoren und Autorinnen aus den Fachgebieten Soziale Arbeit, Psychiatrie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Recht. Mit Bezugnahme zu den Akten und zum Bericht der Großmutter bringen sie ihre fachliche Sichtweise ein und reflektieren den Fall.

In Kapitel 3 erläutert Becker auf leicht verständliche Art das Krankheitsbild FASD. Sie verweist darauf, dass eine frühzeitige Diagnostik wichtig ist, damit der Zugang zu den richtigen Hilfen gewährt werden kann. Mit Bezugnahme auf die Akten zeigt sie auf, wo die Verhaltensweisen von Steven falsch interpretiert wurden und welche Interventionen angebrachter gewesen wären.

In Kapitel 4 betrachtet Baldauf-Himmelmann den Fall aus systemischer Perspektive. Sie hinterfragt die Auftragsklärung und stellt fest, dass es offensichtlich versäumt wurde, die Perspektive aller Familienmitglieder einzubeziehen, bevor die Hilfen eingesetzt wurden. Es folgen Ausführungen zur systemischen Wahrnehmung. Damit einhergehende Grundhaltungen und Reflexionsleistungen von Fachkräften werden aufgeführt.

In Kapitel 5 wirft Jost in ihrem Beitrag zunächst grundsätzliche Fragen zu sozialpsychiatrischen Diagnosen auf, und thematisiert deren Vor- und Nachteile. Auch führt sie auf, weshalb es selbst für Fachpersonen schwierig ist, die Diagnose FASD zu stellen. Zum Fall bemerkt sie, dass die biologischen Beeinträchtigungen nicht erkannt wurden und die Schwierigkeiten Stevens auf andere Faktoren zurückgeführt wurden, wie beispielsweise Beziehungs-, Erziehungsdefizite oder mangelnde Motivation.

Kapitel 6: Eichfeld widmet sich aus schulischer Perspektive individueller Förderung und bringt unter anderem Grundlagen (sonder-)pädagogischer Förderung und inklusionspädagogischen Ansätzen zusammen. Er moniert unter anderem die lückenhafte Dokumentation des Falles.

Kapitel 7: Aus der Perspektive des Verfassungs- und Familienrechts, des Kinder- und Jugendhilferechts schildert Höflich die rechtlichen Grundlagen. Er stellt fest, dass Fachkräfte die Pflegemutter falsch informiert haben und ihr damit ihr zustehende Hilfen verwehrt haben. Dies offensichtlich aufgrund mangelnder Rechtskenntnisse.

In Kapitel 8 folgen Ausführungen zu den Verfahren und Prozessen beim Jugendgericht aus Sicht des Jugendstrafrichters Grauer. Aus seiner Perspektive wurde es zum Beispiel unterlassen, weiterführende Ermittlungen anzuordnen. Zudem verweist er darauf, dass die Jugendstrafjustiz mit der gegenwärtigen Rechtslage nicht auf die Bedürfnisse von Personen mit einer FASD eingestellt ist und somit mögliche Rechtsfolgen den Betroffenen kaum gerecht werden können.

Kapitel 9: Decarli betrachtet die rechtlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf eine geplante inklusive Neuausrichtung des Sozialgesetzbuches VIII. Anhand des Falles legt sie dar, wie wichtig es ist, sich für eine inklusive Lösung mit einer gemeinsamen Zuständigkeit der Behindertenhilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe einzusetzen. Damit könnte sichergestellt werden, dass alle Kinder und Jugendlichen – ob mit oder ohne Behinderung – Zugang zu allen Leistungen haben, die sie für das gelingende Aufwachsen und Teilhabe in der Gesellschaft benötigen.

In Kapitel 10 bringt Wirth die soziologische Perspektive ein und zeigt, wie sich der soziale Wandel in den Institutionen niederschlägt und was dies für Familien bedeutet. Zum Fall bemerkt er, dass Fachkräfte die Ambivalenzen in dieser Familie – insbesondere die Beziehung zwischen Stevens leiblicher Mutter und Großmutter – nicht reflektiert und in ihr Handeln einbezogen haben. Um Komplexität zu bearbeiten, so der Autor, sollte man passende Methoden anwenden und das Nichtwissen zu einem Fall reflektieren. Ein offener Blick eröffnet zudem Perspektiven, die immer anders sein könnten.

Das Fazit besteht erstens aus einer Darstellung der Ergebnisse eines Diskussionsprozesses der beteiligten Autorinnen und Autoren, zweitens wird das mehrperspektivische Arbeiten definiert und das konkrete Vorgehen wird anhand von fünf Schritten erläutert.

Diskussion

Das mehrperspektivische Arbeiten zeigt sich in den Beiträgen, in denen Fachkräfte aus ihrer fachlichen Perspektive den Fall beurteilen und anschließend Antworten darauf suchen, wie Unterstützung verbessert werden kann.

Im Buch zeigt sich, dass je nach (fachlicher) Perspektive eine bestimmte Lösung oder Entscheid als richtig oder als fragwürdig erachtet wird. Zum Beispiel war die Tatsache, dass Steven bei seiner Großmutter in der Pflegefamilie aufwächst, von einem Autor als „die richtige Hilfe zur Erziehung“ eingeschätzt worden, während dies in anderen Beiträgen zumindest in Frage gestellt wurde. Wer weiß nun, was für Steven das Beste gewesen wäre? Dieses Buch bringt darauf mehrere Antworten. Ein mehrperspektivisches Herangehen bedeutet unter anderem, dass sich die in einem Fall involvierten Fachkräfte trotz differierender Erwartungen und Ansichten auf eine gemeinsame Vorgehensweise und Qualitätsstandards einigen. Zudem sind die Ziele, Aufgaben und Schritte mit den Adressatinnen und Adressaten dialogisch zu erarbeiten und auszuwerten.

Kritikpunkte:

  • Obwohl es ein Anliegen von Jost und Wirth (Hrsg.) war, die Perspektive der Angehörigen mit einzuflechten, wird diese mit der Großmutter sehr einseitig vertreten. Steven konnte für eine Beteiligung nicht gewonnen werden. Unklar ist, weshalb die Perspektive der leiblichen Mutter fehlt. Vermisst wird eine Reflexion darüber, was es bedeutet, wenn von Seite der Angehörigen nur eine Perspektive dargelegt wird und nur darauf Bezug genommen wird.
  • Im ersten Kapitel, in dem die Akten zum Fall in chronologischer Reihe aufgeführt sind, wäre eine bessere Leseführung wünschenswert gewesen. Zum Beispiel ist manchmal die Bedeutung gewisser Inhalte, wie ein Bescheid, nicht klar, weil weitere Informationen dazu fehlen. Zu Beginn ist zwar ein chronologischer Ablauf zum Fall eingeführt, der jedoch zu wenig zu einem vertieften Verständnis beiträgt.
  • Das gendergerechte Formulieren wird nicht durchgängig berücksichtigt.

Fazit

Das Buch ist sehr empfehlenswert für Fachkräfte der Sozialen Arbeit und solchen unterschiedlicher Fachrichtungen, die mit Menschen mit FASD arbeiten. Anhand der Geschichte von Steven, eines Jungen mit einem Fetalen Alkohol-Spektrum-Störung, der bei seiner Großmutter lebt, die zugleich auch seine Pflegemutter ist, wird das Krankheitsbild dargestellt. Zugleich wird das Verständnis für das Leben und die Situation von Menschen mit FASD bzw. der Familien mit einem solchen Kind gefördert. Es wird aufgezeigt, wie man den Umgang mit Betroffenen und ihren Angehörigen verbessern kann. Auch weitere Ziele von Jost und Wirth (Hrsg.) konnten eingelöst werden. So finden sich Anregungen zu Weiterentwicklungen der Hilfen im institutionellen Bereich, zur Beziehungsarbeit sowie zu Methoden.

Rezension von
Silvia Gavez
lic.phil., wissenschaftliche Mitarbeitende an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
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Es gibt 1 Rezension von Silvia Gavez.

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Zitiervorschlag
Silvia Gavez. Rezension vom 25.05.2018 zu: Annemarie Jost, Jan V. Wirth: Mehrperspektivisches Arbeiten in der Kinder- und Jugendhilfe. "Steven M." - ein Junge mit FASD. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2017. ISBN 978-3-17-032097-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23171.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.


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