Cosimo Mangione: Familien mit ,geistig behinderten‘ Angehörigen
Rezensiert von Prof. Dr. Erik Weber, 20.03.2019

Cosimo Mangione: Familien mit ,geistig behinderten‘ Angehörigen. Stellvertretende biographische Arbeit, Handlungsparadoxien und -dilemmata. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2017. 520 Seiten. ISBN 978-3-8474-2094-1. D: 59,90 EUR, A: 61,60 EUR.
Thema
„[…] bei dem Versuch, mich in meiner professionellen Praxis bei der Gestaltung meines Alltagshandelns an dem Konzept der Selbstbestimmung zu orientieren, [kam] allmählich der Verdacht auf[…], dass die Äußerungen und lebensgeschichtlichen Perspektiven von einigen der Klientinnen und Klienten Ausdruck dessen waren, was deren Eltern bzw. Familien an Lebenswegen und Vorstellungen über sie entwickelt hatten“ (Mangione 2018, 59).
Das Thema, das der Autor Cosimo Mangione in seiner 2018 veröffentlichten Dissertationsschrift präsentiert, ausarbeitet und analysiert, ist vielfältig: Es geht einerseits um eine noch näher zu beschreibende Analyse der Lebenslagen von Familien mit einem ‚geistig behinderten‘ Angehörigen (ein Thema, das im Fachdiskurs zwar nicht neu ist, aber lange Zeit nicht mehr so intensiv und umfangreich erörtert worden ist – auch dazu unten mehr), andererseits geht es, wie der Titel des Buches im Untertitel aufzeigt, um eine sog. stellvertretende biographische Arbeit (im Kontext von Eltern ‚geistig behinderter‘ Angehöriger) und deren Handlungsparadoxien und Handlungsdilemmata, die sich in dem dieser Rezension vorangestellten Zitat des Autors widerspiegeln. Was der Buchtitel nicht direkt mitteilt, aber in der Schrift von Mangione eine große Rolle spielt, ist die Reflexion aktueller professioneller Handlungsparadigmata (er fokussiert dies auf die Begriffe Normalisierung, Selbstbestimmung und Inklusion) der sog. Behindertenhilfe, und letztlich ist sein Werk auch als bereichernder und innovativer Beitrag zur Theoriebildung der Biographie- bzw. Familienforschung zu verstehen.
Autor
Der Autor, Prof. Dr. Cosimo Mangione, forscht und lehrt an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, mit den Schwerpunkten Theorien und Handlungslehre in der Sozialen Arbeit sowie rekonstruktive Sozialforschung. Er beschäftigt sich mit den Forschungsgebieten der Familienforschung, der angewandten Biographieforschung, der Professionsforschung und mit Disability Research. Vorausgegangene Tätigkeiten u.a. im Kontext der sog. Behindertenhilfe befähigen ihn zu einer umfassenden Sicht auf seinen Forschungsgegenstand.
Entstehungshintergrund
Das Werk von Cosimo Mangione ist eine Dissertationsschrift, einerseits mit den für dieses „Genre“ üblichen „Kompetenznachweisen“, andererseits aber – und vor allem – eine intensive Erörterung eines im Diskurs um Familien mit behinderten Familienangehörigen oftmals nicht im Fokus stehenden Phänomens, welches er mit der „Komplexität der Beziehungsdynamiken und der Vielschichtigkeit der Kommunikation“ (25) in ebendiesen Familien umschreibt. Sein erklärtes Ziel ist es hierbei, „eine analytische Distanz zu diesen Phänomenen zu gewinnen“ (26), wobei er zu „diesen Phänomenen“ u.a. die geschilderte Beobachtung zählt, dass im Kontext seiner Berufserfahrungen „einfache und persönliche Fragen [an behinderte Familienangehörige, e.w.] (…) von den Eltern beantwortet oder von diesen ‚übersetzt‘ wurden“ (26). Wie es dazu kommt, warum es dazu kommen kann oder gar muss, was dies mit dem Spannungsfeld des Alltagshandelns von Familien und professionellen Leitbildern zu tun hat, breitet der Autor in seinem Buch aus.
Aufbau und Inhalt
Die Schrift von Cosimo Mangione ist umfangreich: Ohne das umfangreiche Literaturverzeichnis dürfen sich die Lesenden (und der Rezensent) durch 470 Seiten Text durcharbeiten, die sich wie folgt gliedern.
Nach Vorwort und Einleitung werden in Kapitel 2 zunächst die „Fragestellung und deren Forschungsrelevanz“ (20 ff.) thematisiert. Mangione benennt hier zentral sechs Fragestellungen, denen er sodann, wie noch aufzuzeigen sein wird, nachgeht:
„1. Wie gestalten Familien die stellvertretende biographische Arbeit für die Angehörigen mit einer geistigen Behinderung? Welche Dimensionen und Prozessmechanismen lassen sich dabei entdecken?
2. Welche kommunikativen Praktiken lassen sich in der Interaktion zwischen den betroffenen Angehörigen und den Eltern bzw. den weiteren Familienmitgliedern entdecken?
3. Welche Kernprobleme, Paradoxien bzw. Handlungsdilemmata charakterisieren die permanente sozialisatorische Familienpraxis?
4. Wie wirken die biographischen Bedingungszusammenhänge, Verletzungsdispositionen und soziobiographischen Prozessstrukturen der einzelnen Familienmitglieder bei der Gestaltung der stellvertretenden biographischen Arbeit für die betroffenen Angehörigen?
5. Wie gestaltet sich der Erkenntnisprozess der Eltern über die Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der Behinderung ihres Kindes und wie wirkt sich dies bei der Dynamik der Interaktion mit diesem aus?
6. Welche praktischen Implikationen lassen sich aus den Ergebnissen ableiten?“ (31 f.).
Der Autor weist bereits in diesem Kapitel darauf hin, dass er diesen Fragestellungen mithilfe durchgeführter und ausgewerteter narrativ-biographischer Interviews mit Familien von ‚geistig behinderten‘ Angehörigen (in Anlehnung an Glaser/Strauss) nachgegangen sei, sowie mittels autobiographisch-narrativen Interviews (mit Verweis auf Schütze) (vgl. 32). Die Auswertung der durchgeführten 22 Familien- bzw. Paarinterviews bzw. der durchgeführten 19 autobiographisch-narrativen Einzelinterviews (vgl. 93) erfolgte schwerpunktmäßig anhand narrationsstruktureller und konversationsanalytischer Verfahren (vgl. 32).
Bevor dies ab Kapitel 6 (zunächst exemplarisch in zwei breit wiedergegebenen Einzelfallstudien) geschieht, befasst sich Cosimo Mangione in Kapitel 3 mit dem Phänomen der „Behinderung im Licht unterschiedlicher Disziplinen“ (33 ff.), in Kapitel 4 wird der „theoretische und methodologische Rahmen“ der Studie abgesteckt (59 ff.) und in Kapitel 5 wird noch „der Forschungsprozess“ insgesamt dokumentiert (90 ff.).
Nach der Darstellung der bereits benannten beiden Einzelfallstudien (Kapitel 6), folgt in Kapitel 7 eine „vergleichende Betrachtung“ (230 ff.) zentraler Dimensionen, Prozesse und Phasen der familialen Auseinandersetzung mit Behinderung. Dies geschieht vielfältig (wie das ausgewertete Material es bedingt), indem bspw. die Dimensionen (folgend nur eine Auswahl!) Entwicklung des Kindes, die Rolle von ärztlichem Fachpersonal, die Gefährdung der familiären Zusammengehörigkeit, die notwendige Neugestaltung des Familienalltags, seine Therapeutisierung und Aspekte wie Normalisierung, und Inklusion m Kontext der Schule und der Arbeitswelt abgeleitet und analysiert werden. Die Dimension um die Zukunft des betroffenen Familienmitglieds nimmt hier eine exponierte Stellung ein (vgl. 319 f.).
Kapitel 8 wendet sich dann der biographischen Arbeit als solcher zu, unter dem Aspekt der, wie Mangione es benennt, „autonomisierenden stellvertretenden biographischen Arbeit als aktualtextliches und familienbiographisches Phänomen“ (331 ff.). Unter autonomisierender stellvertretender biographischer Arbeit versteht er folgenden, zentral herausgearbeiteten Sachverhalt: „In dem Versuch der Eltern, die Autonomie der betroffenen Angehörigen ansatzweise zur Entfaltung zu bringen, übernehmen sie für diese stellvertretend die Prozesse der biographischen Arbeit (…) und erzeugen, ja, verstärken dadurch paradoxerweise das Abhängigkeitsverhältnis, das sie überwinden möchten“ (339).
Diese zentrale Erkenntnis Mangiones vertieft er im Kapitel 9 „Rekonstruktionsarbeit als gemeinsame kommunikative Arbeit der familialen Wir-Gemeinschaft“ (393 ff.), wonach er in Kapitel 10 die „biographische Bedeutung des Erlebens der Interaktion zwischen Familien und Expertinnen bzw. Experten“ (433 ff.) erneut in den Fokus rückt. Hier stellt er die, wie er es nennt, „logische Unvereinbarkeit zwischen Lebenswelt bzw. Lebenssituation der Klientin bzw. des Klienten und der Sinnprovinz der Wissenschaft, aus denen diese Deutungskategorien hervorgehen“ (436) in den Mittelpunkt seines Denkens. Die Beschreibung und analytische Reflexion dieser komplexen Interaktionsphänomene veranlasst ihn zu einem Plädoyer für die „Notwendigkeit der Förderung eines entmystifizierenden Umgangs mit den eigenen Theoriebeständen und die Reflexion der familienbiographischen Bedingungen, welche die Interaktionsgeschichte mit den Professionellen prägen“ (447).
Kapitel 11 reflektiert noch einmal kurz zentrale und in den Analysekapiteln angesprochene „Aspekte der biographischen Arbeit von Menschen mit geistiger Behinderung“ (448 ff.). Hier wird die oft schwierige kommunikative Grundsituation im Interviewsetting nochmals kritisch beleuchtet.
Das umfangreiche Werk Mangiones schließt mit einem kürzeren Schlusskapitel 12, in dem der Autor dann „praktische Implikationen der Studie“ herausarbeitet und somit den gleichsam (sozial-)politischen Charakter seiner Studie unterstreicht. Er betont hier nochmals, „wie wichtig eine Reflexion bezüglich der pädagogischen Kategorien ist, die sowohl aufgrund deren gesetzlicher Verankerung als auch wegen deren Bedeutung im einschlägigen Fachdiskurs handlungsrelevant für die Gestaltung der konzeptionelle Grundlagen von Organisationen der Behindertenhilfe und für die professionelle Arbeit in diesem Arbeitsfeld sind“ (464). Insbesondere im aktuellen Diskurs um schulische Inklusion meint er, „eine völlige Ausblendung der Interaktionsqualität in solchen heterogenen Klassengemeinschaften“ (465) zu erkennen, was einhergehe mit „paradoxen Effekte[n] von Inklusion“ (ebd.). Was insgesamt fehle, seien Studien, die „auch die komplexen Beziehungen, welche mit einem inklusiven Schularrangement verknüpft sind, im Rahmen von qualitativ-ethnographischen Forschungsprojekten in den Blick nehmen würden“ (ebd.).
Diskussion
Paradoxe und sich in Dilemmata verstrickende kommunikative Praktiken gibt es viele. Jedoch ist die Auseinandersetzung mit den kommunikativen Praktiken in Familien mit ‚geistig behinderten‘ Angehörigen im Kontext stellvertretenden biographischen Arbeitens ggf. als Verdichtung dieser Problematik zu betrachten.
Dies macht Cosimo Mangione in seiner Arbeit zum Thema. Er verbindet dies aber weitergehend mit einer kritischen Reflexion aktueller Leitbegriffe in der sog. Behindertenhilfe (hier wie beschrieben: Normalisierung, Selbstbestimmung und Inklusion), da er hier erhebliche Diskrepanzen zwischen den hinter diesen Begriffen stehenden Handlungserfordernissen und dem Alltagserleben der befragten Familien sieht. Somit schafft er dreierlei: Er tätigt diese Reflexion, er begibt sich tief in die kommunikativen und handlungsbezogenen Paradoxien und Dilemmata und erweitert die Theoriebildung im Kontext biographischer Familienforschung.
Das vertiefte und tiefe Hineinbegeben in die kommunikativen Praktiken der Familien gelingt ihm durch seinen mehrdimensionalen, sehr ambitionierten methodologischen Ansatz, der nicht Ansatz bleibt, sondern konsequent durchexerziert wird: Hier liegen in den Augen des Rezensenten die absoluten Stärken dieser Arbeit: Alleine die beiden zentral hervorgehobenen Fallgeschichten in Kapitel 6 verdienten eine eigene Veröffentlichung, denn an dem hier dokumentierten Material wird das oben Beschriebene sehr deutlich: Die Unaufhebbarkeit der Paradoxien und Dilemmata einerseits, aber auch deren ursächliche Zusammenhänge.
Somit hat die Studie von Mangione nicht nur handlungsleitende Relevanz für die in seinem letzten Kapitel beschriebenen Felder, sondern die Lektüre seines Buches motiviert zu einer grundlegenden kritischen Reflexion aktueller Fachdiskurse. Seine Studie leistet aber darüber hinaus noch etwas anderes: Die Aufwertung von Familien und Angehörigen im Gesamtdiskurs – hier hat es in der Vergangenheit viel Schweigen und Stilstand, gar gegenseitiges Ignorieren und Sprachlosigkeit gegeben. Mangiones Studie hat das Potenzial, dass hier wieder ein fruchtbarer Dialog zwischen „Betroffenen“ und Wissenschaft entstehen könnte.
Einige wenige kritische Aspekte können dennoch kurz angemerkt werden: Was den Rezensenten stutzig macht, ist die nahezu vollkommene Abwesenheit der Erkenntnisse zentraler Autorinnen und Autoren der Heil-, Sonder- und/oder Behindertenpädagogik, bspw. bei der Auseinandersetzung um den Begriff der (sog. geistigen) Behinderung. So taucht bspw. Dederich mit nur einem Titel im Literaturverzeichnis auf, Feuser und/oder Jantzen überhaupt nicht. Hier wären interessante Anknüpfungs- aber auch Reibungspunkte denkbar gewesen. Auf der anderen Seite erfreut die Hinzunahme von Erkenntnissen des internationalen Diskurses, die im deutschen (behindertenpädagogischen) Diskurs oftmals unbeachtet bleiben.
Fazit
Mangiones abschließender Appell für eine „Gestaltung von ‚Gelegenheiten der Selbstthematisierung‘ (…), in welcher die Klientinnen und Klienten die eigene Identitätsentwicklung, die biographischen Brüche und Handlungsorientierungen zum Ausdruck bringen können“ (470), wäre somit als Auftrag für Wissenschaft, Professionelle und Familien zu verstehen und die Lesenden dieses Buches dürfen sich im Verlaufe der Lektüre dieses ungewöhnlichen und auch hier und da sperrigen Buches Gedanken darüber machen, wie dies künftig zu geschehen hätte – durchaus im Sinne von Normalisierung, Selbstbestimmung und Inklusion.
Rezension von
Prof. Dr. Erik Weber
Diplom-Heilpädagoge, Professur Inklusive Bildungsprozesse bei geistiger und mehrfacher Behinderung
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