Arthur Engelbert: Idiorrhythmie. Vorschläge für ein anderes Lernen
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Schäfer, 11.05.2018
Arthur Engelbert: Idiorrhythmie. Vorschläge für ein anderes Lernen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2017. 226 Seiten. ISBN 978-3-8487-4314-8. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Thema
Im Zentrum des Buches stehen die Kritik an den Institutionen des westlichen Bildungssystems und die Suche nach „Vorschlägen für ein anderes Lernen“, wie es der Untertitel zum Ausdruck bringt. Dem Autor geht es um ein Lernen in der Gemeinschaft, das diese Bezeichnung wirklich verdient. Dabei beschäftigt ihn die Frage, ob die Gesellschaft erst ihr Ausbildungssystem verändern muss oder umgekehrt, ob erst die Gesellschaft verändert werden muss, um ein anderes Lernen zu ermöglichen. Zentral sind in der Argumentation die Begriffe idiorrhythmisch und koinovitisch. Der griechische Begriff der Idiorrhythmie bezeichnet ursprünglich eine Lebensform des orthodoxen Mönchtums, bei der – im Gegensatz zum Koinobitentum – die Mönche für sich leben und nur in den Gottesdiensten Gemeinschaft haben. Während idiorrhythmisch für den Verfasser meint, dass der Einzelne als Teil der Gemeinschaft sein eigenes Maß finden kann, bedeutet für ihn koinovitisch, dass jeder das eigene Maß nicht für sich allein findet, sondern nur zusammen in der Gemeinschaft. Der Autor liefert philosophische und kulturwissenschaftliche Reflexionen zum Zustand der heutigen westlichen Welt, die um das zentrale Thema des gegenwärtigen und auch eines zukünftigen Lernens kreisen.
Autor
Arthur Engelbert war von 1996 bis 2017 Professor für Medientheorie und Kunstwissenschaft an der Fachhochschule Potsdam. Er gründete im Jahr 2012 mit anderen Personen das Institut für angewandte Realitätsveränderung (i-a-r). Neben seiner Lehrtätigkeit hat er zehn Jahre lang ein Multimediaunternehmen in Berlin geleitet.
Aufbau und Inhalt
Die in diesem Buch gewählte Darstellung der Inhalte ist reich an Analogien, Fabeln und Metaphern. Die Gedankenführung ist dabei zum Teil sehr assoziativ. Beides hat Auswirkungen auf den Aufbau des Buches, das zwei große Teile aufweist:
- „Lernen und Leben“
- „Spielen und Leben“.
Hierin ist die These verborgen, dass Lernen wieder mehr zu einem Spielen werden soll.
Die beiden Teile sind jeweils in 13 Abschnitte untergliedert, die keiner auf den ersten Blick erkennbaren systematischen oder disziplinären Struktur folgen, sondern eher den Eindruck einer assoziativen Reihung vermitteln.
Der Teil „Lernen und Leben“ beinhaltet folgende Kapitel:
- Verlernen und Lernen,
- Leben und Lernen,
- der Baukasten,
- Chaos,
- Ordnung,
- stationäres Lernen,
- mobiles Lernen,
- das Parmenides Experiment,
- Wildheit und Rebellion,
- Selbsterziehung,
- die Initiative der Poetin und
- die Intervention des Schamanen.
Der Vollständigkeit halber seien an dieser Stelle auch die Kapitelüberschriften des zweiten Teiles „Spielen und Leben“ genannt, sie lauten:
- Zerlegen und Zusammensetzen,
- Spielen und Lernen: Grundausstattung,
- immobile Bühne,
- mobile Bühne,
- Durchatmen,
- doppeltes Spiel,
- eine fragmentarische Vision,
- selbstlos und anmaßend,
- Lernhaus mit Terrasse,
- Draußen ist nichts los,
- Licht und Bewusstsein,
- unendliche Spiele sowie
- kleine Bilanz mit Gebrauchsanweisung.
Den Abschluss bilden zwei Anhänge:
- Vorschlag für einen Medienpass und
- praktischer Hinweis für Lerngruppen für forschendes meditatives Lernen.
In der Einführung konstatiert der Verfasser: „Alles, was sich dazu sagen, aufschreiben lässt, ist hier verpackt in einem eigenwilligen Stil“ (S. 12). Dies trifft in der Tat zu. Der Autor spricht über sich selbst, wenn er schreibt, dass er ein Thema behandelt, „von dem er selbst nicht loskommt“ und er fährt fort über sich selbst Auskunft zu geben: „Der Autor gehört zu einer untergehenden Spezies (…); er beherrscht die mitreißende Fähigkeit der Improvisation (…) Er hat sein Faktenwissen durch Spekulationen vermenschlicht (…) Man wird nicht klug aus ihm. Seine Ausführungen über die Kunst des Lernens sind nicht die ganze Wahrheit“ (S. 11.). Soweit die kritische Selbsteinschätzung.
Das Buch beginnt in dem ersten Teil „Lernen und Leben“ mit der Erkenntnis, dass wir auf der Welt sind, um zu lernen. Die institutionalisierten Instrumente, die hierfür in Abhängigkeit von unterschiedlichen kulturellen Bedingungen geschaffen wurden, seien allerdings, so die Argumentation, zu Differenzierungsfallen geworden. Das Lernen selbst sei zur Nebensache geworden. Eine pervertierte Form von Lernen trainiere lediglich „die Leistungsfähigkeit von Anpassung um ihrer selbst willen“ (S. 15). Deshalb müsste der Lernende die Fähigkeit einer selbstbestimmten Einstellung zum Lernen entwickeln. Ein solches Lernen sei nicht zuletzt aufgrund der heute möglichen universellen digitalen Zugänge zu Informationen auch außerhalb verkrusteter Institutionen des Bildungssystems möglich; allerdings nur in kleinen Gruppen außerhalb des formalen Lernens innerhalb des Bildungssystems. Zwar habe die „Digitalisierung den Erwerb und die Verbreitung des Wissens revolutioniert, aber die Konsequenzen daraus sind noch nicht einmal ansatzweise gezogen worden“ (S. 19). Die Leere des verschulten institutionellen Lernalltags wird einerseits am Beispiel der Universitäten und Hochschulen infolge des Bologna-Prozesses und andererseits des Schulsystems ausführlich beschrieben, wobei der Verfasser sich in der Argumentation flüssig zwischen beiden Bereichen bewegt.
Um ein Lernen zu realisieren, das sich nicht als Selbstanpassung instrumentalisieren lässt, sondern der Selbstbestimmung verpflichtet ist, wirft der Autor die Frage auf, ob wir andere Formen von Gesellschaft benötigen, um auch andere Lernformen realisieren zu können. Die Antwort, die hierauf gegeben wird, ist ambivalent: Die Metapher des Lebenslangen Lernens fordere „sowohl die Gesellschaft zu anderen Ausbildungsformen als auch das Individuum zu anderen Formen der Selbstbestimmung heraus“ und werde zu einer „Aufforderung, die Bedingungen des Lernens zu erweitern und anders zu gestalten“ (S. 38).
In den Überlegungen zur Lernarchitektur wird auf die Dimensionen von Raum und Zeit sowie insbesondere auf die Rolle des sozialen Verbundes, der Gruppe von Menschen, in der gelernt wird, eingegangen. Der zuletzt genannte Aspekt ist dem Verfasser besonders wichtig; er versteht Lernen als die „zeitlich befristete Selbststeuerung in der Hand von kleinen Gemeinschaften“ (S. 80). Dort, wo sich Gemeinschaften von Lernenden zusammenfinden, taucht auch die Frage nach den Rollen von Lehren und Lernen auf. Diesbezüglich postuliert der Autor apodiktisch die Auffassung: „Eigentlich wollen alle, die Lernen, auch andere erziehen. Denn Lernen ist ein Programm, das (von Vermittlern) vermittelt wird. Vermittlung ist wiederum der Kern des Lernens“ (S. 87). Eine argumentative Begründung für diese Position, die in einem starken Kontrast sowohl zu konstruktivistischen, ermöglichungsdidaktischen als auch beziehungsdidaktischen Ansätzen steht, ist nicht erkennbar. Auch eine begriffliche Differenzierung zwischen Erziehung, Lernen, Bildung und Sozialisation unterbleibt hier. Dass es neben der Vermittlung auch um die Aneignung bzw. die Anverwandlung im Prozess des Lernens geht, wird hier nicht erwähnt. In einem späteren Kapitel geht der Verfasser allerdings nochmals auf Aspekte des Vermittelns ein, ohne dass jedoch auch andere Grundformen des pädagogischen Handelns, wie zum Beispiel das Beraten und Arrangieren eine Berücksichtigung finden.
Im zweiten Teil des Buches, in dem es um „Spielen und Leben“ geht, entfaltet der Autor seine Überlegungen zu der These, dass wir als Menschen nur deshalb lernfähig sind, „weil wir nicht wissen, was die Realität für uns bereithält bzw. bedeutet“ (S. 156). Die Realität wird so zu einem Spielplatz der Ideen. Die Lernherausforderung besteht somit darin, „mit sich und anderen zu spielen“ (S. 158). Ohne explizit darauf hinzuweisen, sind diese Gedanken anschlussfähig an das, was bereits Friedrich Schiller im Jahre 1793 konstatierte: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Auch der Philosoph Christoph Quarch und der Hirnforscher Gerald Hüther (2016) bestätigen dies, wenn sie in ihrem Buch „Rettet das Spiel“ konstatieren, dass die Ursache für das Lernen das Spiel sei und wir uns als Menschen ohne die immer neue spielerische Erkundung der in uns angelegten Potenziale nicht hätten weiterentwickeln können. In dieser Gedankentradition stehen auch die Ausführungen des Autors, wenn er Lernen und Spielen konzeptuell zu verbinden sucht. Der Bogen, der hier geschlagen wird, reicht von der Kosmologie Rudolf Steiners und der Quantenmechanik Werner Heisenbergs bis hin zu kulturwissenschaftlichen und künstlerischen Ansätzen von Joseph Beuys.
Auch wenn der Verfasser zunächst desillusionierend feststellt, dass „die Veränderer ausgespielt haben“ (S. 164), entwirft er dennoch die Grundzüge einer Lernutopie, deren Kern ein sich selbst motivierendes und kritisch reflektierendes Leben ist. Dieses ist für ihn am ehesten in kleinen Gruppen möglich. Der Autor gibt eindeutig „der koinovitischen gegenüber der idiorrhythmischen Regelung den Vorzug“ (S. 166).
Abschließend sei noch die Überzeugung des Verfassers erwähnt, „die bisherige Geschichte der Menschheit ist ein Überschuss des Lebens im Lernen“ (S. 178). Lernen ist demzufolge eine noch nicht erkannte Befähigung, nämlich die, ein anderes Selbst zu entwickeln. Nachdem die Ausbeutung der Bodenschätze im Äußeren an ihre Grenzen stoße, drohe nun der innere Abbau von Ressourcen als „Angriff der Technik auf das menschliche Bewusstsein“ (S. 188). Auf diese Weise lasse sich das neue Selbst nicht entwickeln. Der Autor wehrt sich deshalb entschieden gegen eine Ökonomisierung des Bewusstseins, wie exemplarisch der Boom der Meditationsschulen mit ihren Achtsamkeitstechniken zeige. Diese sind für ihn das „einschläfernde Erziehungsprogramms des Kapitalismus“ (S. 189). Der Verfasser spricht sich keineswegs gegen eine bewusstseinserweiternde Kontemplation aus, sondern möchte „die Meditation in der Gruppe gegen den Mainstream setzen“ (S. 193).
Resümierend stellt der Autor fest, dass Lernen eine Gratwanderung zwischen Offenheit und Anpassung sei. Es komme für jeden einzelnen Lerner darauf an, „dass er einerseits die individuelle Offenheit maximiert und dass er andererseits die institutionelle Eingebundenheit minimiert“ und zwar jeweils „im Verbund der ihn unterstützenden Gruppe“ (S. 204).
Diskussion
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Lernen findet in diesem Buch zum einen aus einer gesellschaftstheoretischen und zum anderen vornehmlich aus einer philosophischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive statt. Der Autor hat mit diesem Text selbst einen sehr eigenwilligen Stil gewählt, der in der Lage ist, den Leser produktiv zu irritieren. Dies kann im Sinne eines selbstreflexiven Lernens durchaus sinnvoll sein. Es handelt sich hier nicht um einen traditionellen wissenschaftlichen Text, sondern eine eher essayistische Darstellung. Der Text kommt gänzlich ohne Zitate aus; allerdings werden in den viel zu klein gedruckten Fußnoten am Ende des Buches wichtige Hinweise gegeben, die für den interessierten Leser die Möglichkeit eröffnen, bestimmten Gedanken stärker nachzugehen. Dass in einzelnen Fußnoten allerdings der Versuch unternommen wird, das gesamte Literaturverzeichnis unterzubringen, ist kritisch anzumerken.
Das Verdienst der Publikation sehe ich darin, dass es das Verhältnis von Selbstlernprozessen und Lernen als gruppenbezogene soziale Aktivität thematisiert. Dies ist in Zeiten einer zunehmenden Individualisierung auch von Lernprozessen, die durch die Digitalisierung noch beschleunigt werden, eine wichtige Frage. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die durch zunehmende individuelle und soziale Desintegrationstendenzen gekennzeichnet ist. Die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft nehmen in einem besorgniserregenden Maß auch im Bildungssystem zu. Institutionen des Lernens haben deshalb auch als Begegnungsort von Menschen eine zentrale Bedeutung. Informationen kann man sich sicherlich autodidaktisch aneignen, damit daraus auch Wissen werden kann bedarf es allerdings der Reflexion von Erfahrungen und deshalb sind lernende Subjekte auf die Interaktion mit und das Feedback von anderen Menschen angewiesen. Gemeinsame Lernprozesse können auf diese Weise zur Stärkung der zentripedalen gesellschaftlichen Kräfte beitragen.
Die Stärke des hier rezensierten Buch ist sicherlich die bildhafte Sprache und die Tatsache, dass es gelingt, über Geschichten, Analogien, Metaphern und geistreiche Bezüge, vornehmlich auf die abendländische Mythologie, eine Ebene zu finden, die eine zusätzliche Option schafft, sich mit den behandelten Inhalten auseinanderzusetzen. Mir ist bewusst, dass die hier vorgelegte Rezension der Vielschichtigkeit dieses Teils des Buches und seines künstlerisch ästhetischen Anspruchs nicht gerecht werden kann.
Ein Manko ist es allerdings, wenn sich der Verfasser lediglich mit dem System der Schule und Hochschule auseinandersetzt. Zwar spricht er das lebenslange Lernen an, aber auf den quartären Bildungsbereich, die Erwachsenen- und Weiterbildung geht er leider nicht ein. Auch bleiben sozial- und erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse und Diskussionsstränge der letzten Jahrzehnte zum Thema Lernen unberücksichtigt. Als Beispiel hierfür sei einerseits auf die bereits aus den siebziger Jahren stammende Kulturkritik von Ivan Illich am Schulsystem bzw. die detaillierten Analysen des Bologna-Prozesses aus Sicht der Hochschulforschung und andererseits die Erkenntnisse zum Verhältnis von Lehren und Lernen, wie sie von der der systemischen Erziehungswissenschaft und der Neurobiologie vorgelegt wurden, verwiesen. Bezüge hierauf hätten helfen können, begriffliche Unklarheiten zu beseitigen, die Gedankenführung an sozial- und erziehungswissenschaftliche Diskurse anschlussfähig zu machen und einige Herausforderungen anders zu akzentuieren.
Das Buch Idiorrhythmie stellt eine Herausforderung dar, die dem, der sie bewältigt, Hinweise und Ideen gibt, darüber nachzudenken, wie ein anderes Lernen aussehen könnte.
Fazit
Das Buch „Idiorrhythmie. Vorschläge für ein anderes Lernen“ von Arthur Engelbert behandelt das Thema Lernen primär aus einer kunst-und kulturwissenschaftlichen Perspektive in einem essayistischen Stil, der sich durch eine sehr bildhafte Sprache, Analogien, Metaphern und mythologische Bezüge auszeichnet. Kritisch behandelt werden die Fragen des Verhältnisses von Lernen und Gesellschaft. In dem Buch wird dafür plädiert, die Voraussetzungen und Bedingungen des Lernens zu erweitern und anders zu gestalten. Lernen wird dabei als eine Gratwanderung zwischen Offenheit und Anpassung gesehen, bei der der Einzelne in eine soziale Gruppe eingebunden sein sollte.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Schäfer
Studiengangsleiter des berufsbegleitenden Masterstudienganges Coaching und Führung an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena
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Es gibt 8 Rezensionen von Erich Schäfer.
Zitiervorschlag
Erich Schäfer. Rezension vom 11.05.2018 zu:
Arthur Engelbert: Idiorrhythmie. Vorschläge für ein anderes Lernen. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2017.
ISBN 978-3-8487-4314-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23212.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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