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Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 13.09.2017

Cover Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele ISBN 978-3-96006-009-3

Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft. oekom Verlag (München) 2017. 247 Seiten. ISBN 978-3-96006-009-3. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

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Homo consumens

Bei den Imponderabilien, Implikationen und Improvisationen darüber, was des Menschen Sinn des Lebens, seiner idealisierten Einstellungen und seines Irrens ist, werden seine Einstellungen, Verhaltensweisen und sein Gewordensein wie er ist, mit Begriffen versehen, die ihn charakterisieren sollen: Homo oeconomicus, Homo empathicus, Homo excentris, Homo globalis… Bei der Betrachtung seines Habenmodus und seiner Seinsexistenz (Erich Fromm) steht dem Egoismus der Altruismus gegenüber. Der Homo consumens ist dabei, seinen Lebensraum für sich und seine Nachkommen unlebbar zu machen! Er hat die alte indianische und natürliche Weisheit vergessen: „Die Erde gehört nicht den Menschen – der Mensch gehört zur Erde!“ (Jos Schnurer, Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?, 23. 11. 2013, www.socialnet.de/materialien/168.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Die Warnung, dass „die kannibalische Dynamik der Konsumgesellschaft“ zur Unmenschlichkeit und zu immer mehr Ungerechtigkeit in der Welt führt, ist nicht neu. Vor beinahe einem halben Jahrhundert prognostizierten Wissenschaftler, dass die Grenzen des ökonomischen Wachstums auf der Erde erreicht seien (1972), vor dreißig Jahren zeigte die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung mit dem Brundtland-Bericht an, dass dem „business as usual“ Einhalt geboten werden müsse und rief dazu auf, „sustainable development“, eine tragfähige Entwicklung, zu bewirken, und vor mehr als zwei Jahrzehnten appellierte die Weltkommission Kultur und Entwicklung: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Die Botschaften hör’ ich wohl – allein mir fehlt die Macht – und die Hoffnung, die Menschen würden endlich ihren Verstand einsetzen und postulieren: Eine gerechtere, friedlichere und menschenwürdigere (Eine?) Welt ist möglich! Die Auswirkungen dieses Unvermögens sind zu besichtigen: Die bereits Wohlhabenden und Besitzenden werden lokal und global immer reicher, und die Habenichtse immer ärmer!

Der Münchner Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer war einer der ersten, der Anfang der 1970er Jahre auf den Gegensatz von Homo sapiens und Homo consumens aufmerksam machte. Jetzt, in der immer deutlicher und existentieller sich darstellenden globalen „Gefährdung von Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit durch Depression und ihre Vorstufen, wie Burn-out, Mobbing und Stalking“, meldet er sich zu Wort mit dem „Psychogramm einer überforderten Gesellschaft“.

Aufbau und Inhalt

Mit der Studie „Raubbau an der Seele“ zeigt er auf, dass „die Depression (..) dem Zusammenbruch von seelischen Strukturen (folgt), die sich als unerfüllbare Erwartungen oder als manische Abwehr beschreiben lassen“ und sich als Verleugnungsstrategien und Verwöhnungsbedürfnissen des Homo consumens zeigen. Der Autor gliedert das Buch in vier Teile, die er in weitere Kapitel differenziert:

    I. Der Raubbau an unseren seelischen Ressourcen
  1. Die fatale Attraktion der Antidepressiva
  2. Den Menschen an das Produkt verkaufen
  3. Mehr verbrauchen als nachwächst
  4. II. Das Perfekte ist ein Märchen
  5. Der goldene Vogel
  6. Der Schritt vom Hunger zur Angst
  7. Die Bühne des Gehirns
  8. Auch Psychotherapie ist nicht perfekt
  9. III. Ressourcen aufspüren, umdenken
  10. Psychodynamik und Psychotherapie
  11. Deprimierende Beziehungen
  12. IV. Menschen, Bilder und unsere Zukunft
  13. Die Bildschirmkonkurrenz und das Interesse für Menschen
  14. Schutz des Planeten, des Körpers und der Seele.

In der Einleitung thematisiert Schmidbauer sein Konzept „Ökologie der Depression“. Er zeigt auf, wie depressive Erlebnisse zu depressiven Erfahrungen werden: „Das Ich der Depressiven erlebt weder Angst noch Neid und Wut, nur Erschöpfung, Freudlosigkeit und Unlust“. Die Reaktion und Aggression richtet sich meist nicht auf andere, „sondern in Gestalt von Schuldgefühlen und der Überzeugung, alles falsch gemacht zu haben, gegen das eigene Ich“. In dieser Situation ist der Consumer nicht der hilfreiche und ausgleichende Partner, sondern der Vermarkter und Verdränger.

Es sind die zahlreichen Fallbeispiele und psychoanalytischen Belegstücke, die depressive Entwicklungen und Zustände anschaulich machen und die Schritte hin zur Depression erkennbar und diskutierbar machen: Burn-out, Mobbing. „Nicht Angst, nicht Trauer sind das Problem… (sondern) ihre manische Abwehr“.

Momentanismus als eine gefährliche und gefährdende (Krankheits-)Entwicklung drückt sich ja in der Einstellung aus: „Ich will alles – und das sofort!“. Der Teufelskreis setzt ein: „In der globalisierten Konsumgesellschaft erodiert nicht nur die Bereitschaft zur Selbstdisziplin, sondern es gibt auch weniger Arbeitsplätze für Personen, die dem wachsenden Konkurrenzdruck nicht mehr standhalten“. Anstatt der langfristigen Verabreichung von Antidepressiva, sollte das „soziale Antidepressivum“ praktiziert werden, als empathische Aufmerksamkeit, Zuwendung, Verständnis und Anteilnahme.

Es gibt keine Rezepte gegen Formen von Mobbing, Selbsttötung oder inszeniertem Amok, jedoch präventive Maßnahmen, die hilfreich sein können, den Opfer-Täter-Fatalismus zu durchbrechen. Und es ist angesagt, die oftmals allzu hohe und beschwerliche Schwelle zur psychotherapeutischen Behandlung zu überschreiten. Es ist die Verlogenheit der endlosen, konsumtiven Versprechungen, die zu irrealen und imaginären Wunschvorstellungen und Erwartungshaltungen führen: „Die Waren und die Prozesse ihrer Vermarktung haben den Menschen zu einem Pendel gemacht, das im Takt eines unsichtbaren Räderwerks schwingt“.

In der Erzählung über psychotherapeutische und -analytische Analysen und Behandlungsmethoden kommt immer wieder das Geheimnis zum Vorschein, dass eine medizinische Auseinandersetzung mit depressiven Zuständen nicht als Rezeptologie wirkt, sondern nur wirksam werden kann, wenn es gelingt, das Selbstbild und Selbstwertgefühl des Patienten zu aktivieren und zu stärken. Es sind insbesondere die ärztlichen Künste der Deutung und der Konfrontation: „Eine Therapie soll den Klienten helfen, ihre Kränkungsverarbeitung zu regenerieren, ihre Aktivität zu steigern, ihre verborgenen Ressourcen wiederzufinden“. Als ein Rat lässt sich formulieren: „Ich bin nicht untätig, weil ich depressiv bin, sondern ich bin depressiv, weil ich untätig bin“.

Es sind die bekannten wie auch neuartigen, medialisierten, digitalisierten, virtuellen Kommunikationsformen und -störungen, die aus einer Handvoll von echten Freunden „1000 Freunde“ machen, und Unverbindlichkeiten, Unpersönlichkeiten und Abstraktionen schaffen. Es sind die allgegenwärtigen, scheinbar „allzeit-bereit“- liegenden und verfügbaren Konsumartikel und -gelegenheiten, die Unrast bewirken, Unzufriedenheit und Bodenlosigkeit erzeugen; aber auch die Widerständigkeiten, dass „wir ja auch nicht mehr auf die Bäume zurück wollen“. Gibt es aus diesen Dilemmata Lösungen? Es braucht keine neuen Erfindungen, denn sie sind bekannt: Fairer Konsum, Ökoroutine (Michael Kopatz), „Kurze Vollzeit“, Work-Life-Balance. Sie sind freilich als freiwillige, individuelle Aktivitäten nicht gesellschaftlich wirksam: „Wir brauchen Strukturen, die den Weg in diese Richtung weisen, damit Homo sapiens den Homo consumens überleben kann“.

Fazit

Der provozierende Titel „Raubbau an der Seele“ signalisiert keine Gebrauchsanweisung für ein besseres, erfülltes und erstrebenswertes Leben. Es ist ein Steinbruch mit vielen brauchbaren Elementen, die grabend, anstrengend und zielführend erschlossen werden können. Die psychoanalytischen Ratschläge, Anregungen und Fallbeispiele von Wolfgang Schmidbauer sind bei dieser Recherche hilfreich. Sie sind nützlich für professionelles Handeln, und auch für die Förderung beim alltäglichen Umgang!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1669 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 13.09.2017 zu: Wolfgang Schmidbauer: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft. oekom Verlag (München) 2017. ISBN 978-3-96006-009-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23224.php, Datum des Zugriffs 08.10.2024.


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