Laura Haddad: Anerkennung und Widerstand (islamische Identitätspraxis)
Rezensiert von Alexander Krahmer, 27.11.2017

Laura Haddad: Anerkennung und Widerstand. Lokale islamische Identitätspraxis in Hamburg. transcript (Bielefeld) 2017. 281 Seiten. ISBN 978-3-8376-3892-9. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 42,70 sFr.
Thema
Der europäische Diskurs über die „neue islamische Präsenz“ und Kontinuitäten (post-) kolonialer Ansichten zu ‚dem‘ Islam sind die Ausgangspunkte der Studie von Laura Haddad. Sie stellt sich bewusst gegen eine Dichotomisierung (Zweiteilung) von Islam und Europa und analysiert stattdessen deren Wechselbeziehungen, wie sie anhand ihrer Fallstudien zur „islamischen Identitätspraxis“ in Hamburg sichtbar werden.
Autorin
Lokalisierungsprozesse islamischer Identität bilden allgemein ein Forschungsinteresse von Laura Haddad (*1984), die hier ihre 2016 abgeschlossene Dissertation vorlegt (Universität Osnabrück, Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften). Außerdem forscht sie zu interreligiösen Initiativen sowie zur Entwicklung der akademischen Theologie. Beschäftigt ist sie derzeit an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg sowie am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.
Aufbau
Nach Einleitung des Themas und zentraler Begriffe geht das II. Kapitel auf wesentliche Merkmale des europäischen Islam-Diskurses [1] ein. In Politik wie Medien, aber auch der Forschung werden Europa und Islam zumeist als „zweigeteilt“ gezeigt (16). Diese nur scheinbare Front will Haddad in ihrer Untersuchung unterlaufen, indem sie deren Unzulänglichkeiten und fatale Wirkungen aufdeckt, vor allem aber sich in ihrer eigenen Forschungsperspektive vom politischen „Werte-Diskurs“ zu lösen versucht. Gleichzeitig distanziert sie sich dabei von einer ebenfalls binären Islamforschung (12 f.).
Das III. Kapitel bietet dafür das theoretische Instrumentarium. Es erweist sich außerdem als nützlich, um von einem universalistischen, statischem und zu akteursfixiertem Identitätsverständnis Abstand zu nehmen. Haddad versteht (islamische) Identität als „situatives“ Ergebnis lokaler, wechselseitiger Aushandlung und stellt fest, dass sie stets auch Ambivalenzen und Widersprüchlichkeit umfasst – womit sie ganz offensichtlich näher an der Wirklichkeit von Minderheiten wie den europäischen Muslimen ist.
Die Kapitel IV und V dienen der Einleitung und Durchführung ihrer Fallstudien, die solche „situativen Prozesse“ islamisch-hamburgischer Identitätsbildung (17) verhandeln. Das Kapitel VI verdichtet die Ergebnisse und weitet den Blick im Anschluss auf andere Aspekte der Stadtentwicklung.
Lokale islamische Identitätspraxis
Dem titelgebenden Begriffspaar (Anerkennung und Widerstand) ist eine doppelte Absetzung inhärent. Haddad positioniert sich sowohl gegen den „europäischen Islamdiskurs“, als auch gegen Versäumnisse „auf der akademischen Ebene“ (19), die jenen „reproduzieren“ (12, 56 f.): Entsprechend weist Haddad die in der Islamforschung beobachtbare Aufteilung zwischen Forschungen zur Institutionalisierung von Islam und solchen zur subjektiven bzw. kollektiven Religiosität zurück. Indem sie beides einbezieht, soll ein oft konfliktlos wirkende „Ringen um Anerkennung“ in der Identitätspraxis um die Perspektive auf „Widerstand“ ergänzt werden, was konfliktträchtigeren Facetten mehr Raum gibt. Neben der institutionellen Anerkennung werden so auch informelle Vorgänge bzw. „Mikropolitiken“ (57) in der Identitätsbildung gewürdigt. So kann das „Sprechen über Islam“ (20) um die „unterschiedlichen Ausprägungen von Religiosität, kulturellen Verortungen und Selbstethnisierungen“ ergänzt werden. Konkrete Aushandlungen islamischer Identität geschehen stets lokal und „im Spannungsfeld von Anerkennung und Widerstand“. Nur mit diesem Verständnis sei der dichotomisierenden Vereinheitlichung in der Islamdebatte wirksam zu begegnen, die sich häufig in symbolischen Kontroversen (um Moscheen, Kopftücher, Karikaturen) erschöpft. Durch Konzentration auf die „praktizierte“ Religion (13) habe man zudem die Verschiedenheit der Identitätsprozesse (50 ff.) im Blick, die neben post-migrantischen, „hybriden“ muslimischen Identitäten (50 ff.) auch den „Euro-Islam“ und die islamophobe Debatte (Sarrazin, Pro-Köln, Pegida etc.) umfassen. Alle sind sie Ausdruck lokaler Aushandlungen „islamischer, deutscher und anderer Identitäten“ (57) zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen (13, 25 et pass).
Basierend auf Beobachtungen in ihrer Feldforschung wählt Haddad demnach eine konstruktivistische und poststrukturalistische Perspektive auf „islamische Identitätspraxis“. Ihre Interviews und das Beobachtungsmaterial wertet sie dabei mit der Grounded Theory aus, während ihr im Wesentlichen drei Konzepte helfen, die lokalen Identitäten als Ergebnis städtischer Aushandlungen zu operationalisieren. Für das Konzept der Lokalität bezieht sie sich auf den „Spatial Turn“ (66 ff.) und vertritt einen relationalen Raumbegriff (vgl. 21, 24). Städtisch-islamische Identität ist das Ergebnis einer räumlichen „Spannung lokaler und translokaler Bezüge“ (65) sowie einer „post-säkularen“ Urbanität (82 ff.). Die Stadt ist „vermittelnde Instanz“ (15) und „Katalysator“ (150) für die Konfrontation jenes Diskurses mit besagten widerständigen Praktiken, weshalb Differenz hier besonders gut sichtbar wird (vgl. auch 250). Das Konzept der Identität wird von der Autorin über dieCultural Studies und im Anschluss an die Ansätze des Kommunitarismus und der Identity Politics (86 ff.) eingeführt. Setzt der eine auf ein Verständnis, das Kultur als Set hintergründigen Wissens begreift, das in individuelle Praktiken übersetzt wird, interessieren die Identity Politics „subversive Mikropolitiken“ (94), also Möglichkeiten zugesprochene ‚Identität‘ zu unterlaufen. Haddad beobachtet beides in ihren Fallstudien, weshalb sie die Ansätze verknüpft. Für die Diskussion der Aushandlung zieht sie praxistheoretische Konzepte heran (97 ff.): Performativität (verstanden als Inszenierung), Ritual (Wiederholung, aber mit Möglichkeit der Innovation) und Transgression (Wandel bekannter Ordnungen durch Grenzüberschreitung). Sie erlauben eine praxistheoretische Verlinkung von „Diskurs“ und „Praxis“, womit der Blick „auf die Mikrologik des Sozialen“ (A. Reckwitz, vgl. 97) geschärft, aber auch die Komplementarität von Anerkennung und Widerstand (248) sichtbar wird.
Aushandlungen islamischer Identität in Hamburg
Besonders plastisch wird diese Wechselwirkung unterdessen erst in den Fallstudien (141 ff.), worin neben der „performativen Qualität“ (17), auch deren „grenzüberschreitendes Potenzial“ deutlicher hervortritt. Haddad versucht an ihren Beispielen – „Momentaufnahmen“ islamischer Identität (248, 250) – die „spezifische Kombination aus situativer Praxis und diskursiver Einbettung von Islam und Hamburg“ (17) zu illustrieren.
Im Zentrum der ersten Fallstudie steht ein ‚Staatsvertrag‘ zwischen dem Hamburger Senat und drei islamischen Verbänden. Haddad rekonstruiert dessen Verhandlung und die Vorgespräche aus der Retrospektive und über Interviews (vgl. 141 ff.). Aus Sicht der Stadt ist der Vertrag eine Art „Hausordnung für den Islam“, die festlegt, „was Islam in Hamburg sein solle und was nicht“ (141). Die Autorin arbeitet die „(Be-)Deutungen“ des Dokuments für die involvierten Akteur*innen heraus und zeigt die Verhandlungen als „eingebettet“ in lokale und „translokale“ Abhängigkeiten (145, 149). Das Resultat hat bundesdeutschen Signalcharakter, wiewohl es selbst in Hamburg nicht alle Muslime repräsentiert (152 f., 168 f.). Dennoch setzte der Vertrag Akzente zur Entstehung eines ‚Hamburger Islams‘ (142 f., 148 et pass.).
Die zweite Studie untersucht Aushandlungen islamischer Identität anhand der Quartiersarbeit im Hamburger Stadtteil Veddel (172 ff.). Das analysierte Kunstprojekt lässt sich in die Leitidee der „unternehmerischen Stadt“ einordnen, auf das Haddad an verschiedener Stelle (kritisch) eingeht (bes. 164, 205, 242 ff.). Am Aufeinandertreffen von ‚Quartierskunstprojekt‘ (mit „erzieherischer Komponente“; 188 f.) und lokaler Jugendvereinstätigkeit beobachtet sie Prozesse gegenseitiger Anerkennen und Widerstände (194). Die Begleitung einer islamischen Mädchengruppe („Muslimische Mädchen Veddel“) macht die subjektiven und kollektiven Verstrickungen sichtbar, vor deren Hintergrund lokal islamische Identität ausgehandelt wird. Dabei sind die ‚Mädchen‘ außer mit den Beschränkungen im Viertel und durch den islamischen Dachverband zusätzlich mit einer aktivierenden Stadtpolitik und deren eigenen Ritualen (202 ff.) konfrontiert. Die (trans-)lokalen Kräfteverhältnisse erlauben nur dem Dachverband eine „pragmatische Identitätspolitik“ (205), während es den „Muslimischen Mädchen Veddel“ eigene Impulse in der Identitätspraxis, bis auf wenige Momente (204), verwehrt.
Das dritte Fallbeispiel behandelt die Umwandlung einer Kirche in eine Moschee im Stadtteil Horn. „Widerstand“ zeigt sich, wo interreligiöse Kontakte entstehen und sich lokale Identitäten über den Umwidmungsprozess neu knüpfen – selbst wenn auf überlokaler Ebene abweisend und kritisch auf das Projekt reagiert wird (211, 214). Beim Übergangsprozess kommen islamische Traditionen im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen zum Tragen (224, 230) und die lokalen christlichen Gemeinden reagieren locker und „pragmatisch“, was teils sogar zum Wandel des allgemeinen Diskurses beiträgt (vgl. 217 f.). Wie Haddad mit Blick auf beide Religionen hervorhebt, bedeutet ‚Widerstand‘ hier vor allem „gemeinsame() Aneignung und Umkodierung“ (206), eine „performative Transgression“ (220) durch muslimische und nicht-muslime Akteure.
Diskussion
Das Buch beginnt mit einem längerem vorbereitendem Teil, der geschichtliche Hintergründe klärt, theoretische und methodologische Fragen aufwirft und deren Antwortmöglichkeiten diskutiert. Der Autorin gelingt es hier stets mit engagiertem Schreibstil und eigenen Ideen die Leser*innen am Ball zu halten. Fragen tauchen höchstens dort auf, wo sie die segmentierte Wissenschaft (vgl. 11), die Forschungen zur „Institutionalisierung“ und solche zur „Subjektivierung“ von Islam trennt, parallel zum politischen Diskurs setzt, den sie bloß reproduziere (12). Der Eindruck bleibt, dass man es hier mit verschiedenen Ursachen (und Motiven) zu tun hat. M. E. sollte generell klarer zwischen dem politischen Diskurs – worin z.T. absichtsvoll ‚der‘ Islam diffamiert, und in Gegnerschaft zu ‚Europa‘ gebracht wird – und ‚einem‘ wissenschaftlichen Diskurs unterschieden werden. Natürlich kann Letzterer die problematische Zweiteilung verstärken (was dann zu kritisieren ist). Aber selbst wenn all unser Wissen vollständig diskursiv vermittelt wird, sind politische und wissenschaftliche Praxis (von der Art der inneren Machtausübung bis zu ihren Korrekturmöglichkeiten) damit nicht automatisch gleichzusetzen.
In den anschließenden Fallstudien, worin die Untersuchung viele interessante Ergebnisse zutage fördert, werden eine ganze Reihe subjektiver und kollektiver Identitätspraktiken zur (politisch-rechtlichen) Anerkennung ergänzt. Es bleibt aber zu fragen, ob diese „Mikropolitiken“ tatsächlich alle unter dem Begriff des ‚Widerstands‘ zu rubrizieren sind bzw. ob ‚harmlosere‘ Begriffe (z.B. Eigensinn) treffender gewesen wären. Während beim ersten Fallbeispiel die Stadt Hamburg (und zum Teil auch die beteiligten Verbände) gewillt sind, ‚den Islam‘ mittels ‚Staatsvertrag‘ zu vereinheitlichen (zu kontrollieren), scheint sich der „Widerstand“ hier für Haddad vor allem in der bleibenden Heterogenität des ‚Hamburger Islams‘ zu zeigen. So bleibt etwa die Frage der Repräsentativität des Vertrags (gerade für nicht-organisierten Muslime) bis zur Unterzeichnung unbeantwortet und auch deshalb das Dokument wohl weiterhin ein „umkämpftes Produkt“ (ebd.). Darüber hinaus kann er von intrareligiösen Minderheiten und Einzelmuslimen als „Mittel der Selbstermächtung“ (169) verstanden werden.
Im zweiten Fallbeispiel, zeigt sich der praktische Gestaltungswunsch der „Muslimischen Mädchen Veddel“ im eigenen Quartier von Beginn an mit einem „besetztem Raum“ (201) konfrontiert. Möglichkeiten, dessen Identitätspraxis mitzusteuern sind starken Beschränkungen vor Ort ausgesetzt (187 ff.). Als ‚Widerstand‘ macht die Autorin allenfalls „Nuancen“ (191) aus, die nur bei einem Ortswechsel subversiv (200) wirken. Im Quartier herrschen dagegen „Berührungsängste“ und Befremden vor (202 ff.). Im dritten Fallbeispiel kommt ‚Widerstand‘ schließlich als „Transgression“ (Grenzüberschreitung) zum Tragen, wobei sich die „Dialektik der Identitätspraxis“ (230) insofern voll entfaltet, als Muslime und Nicht-Muslime gemeinsam eine Art doppelte Abkehr von der diskursiven Makroebene vollziehen. Einerseits, geschieht das durch die ‚Identitätspraxis‘ des Vorstands des islamischen Zentrums, der sich zur strategischen Nutzung eines kulturalistischen Stereotypes (über Bewirtung und Gastfreundschaft im Islam; 223 f., 230) entschließt, um Sympathien für die Umwidmung der Kirche zu sammeln. Andererseits, ist es besonders der Performanz der interreligiösen Veranstaltungsreihe (gemeinsam mit der evangelischen Gemeinde; 226) zu danken, dass eine eigene lokale islamische Identität – gegen versuchte Einflussnahmen von außen – hervorgebracht werden kann.
Im letzten Kapitel kommt Haddad noch einmal auf die Leitidee der „unternehmerischen Stadt“ und eine mögliche Funktionalisierung islamischer Bräuche (242 ff.) zu sprechen. Während sie schon an früherer Stelle die Mängel der besagten Idee herausgearbeitet hat („Ökonomisierung der Quartierspolitik“, aber auch „der islamischen Gastfreundschaft“; 203 f., 244 ff.), wäre hier möglich gewesen, die Verbindung mit dem eigentlich kritisierten europäischen Islamdiskurs noch einmal enger zu knüpfen. So steht durchaus die Frage im Raum, ob über die damit teilweise ökonomistisch betriebene Integrationsarbeit nicht neue Ausschlussmechanismen gegen Muslime entstehen können bzw. hergebrachte sich bloß verfeinern. Am Islam als ‚Aushängeschild‘ einer ‚weltoffenen Stadt‘ werden sich jedenfalls auch die muslimischen Neuankömmlinge (249) messen lassen müssen, was neuen Formen der Selektion und möglichen Exklusion das Tor öffnet.
Fazit
Laura Haddad führt ihre ethnologische Forschung auf originelle Weise mit einer eigenen Theorie der Identitätskonstruktion in (post-)migrantischen Gesellschaften zusammen. Ihren Überlegungen zur Besonderheit islamischer Identitätspraxis folgen drei Hamburger Fallstudien, die spannende ethnographische Einblicke geben. Hier würde sich ein europäischer Städtevergleich sicher lohnen. Weist die Operationalisierung der Kategorien kleinere Schwächen auf, eröffnet das Buch umso mehr anregende und aktuelle Forschungsperspektiven.
[1] Die Autorin verzichtet auf eine Determination von „Islam“ (14), um die Existenz diverser gleichberechtigter Formen islamischer Religiosität sowie deren Wandelbarkeit zu unterstreichen. Eingeklammerte Seitenangaben beziehen sich auf das besprochene Buch.
Rezension von
Alexander Krahmer
M.A.,
Stadtsoziologe am Department für Stadt- und
Umweltsoziologie des Helmholtz Zentrums für Umweltforschung Leipzig
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