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Georg Theunissen: Autismus und herausforderndes Verhalten

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 07.11.2017

Cover Georg Theunissen: Autismus und herausforderndes Verhalten ISBN 978-3-7841-2980-8

Georg Theunissen: Autismus und herausforderndes Verhalten. Praxisleitfaden für Positive Verhaltensunterstützung. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2017. 292 Seiten. ISBN 978-3-7841-2980-8. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7841-3041-5 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Es wird davon ausgegangen, dass der Anteil an Menschen aus dem Autismus Spektrum an der Gesamtbevölkerung bei etwa 1 Prozent liegt, das wären in Deutschland ungefähr 800.000 Menschen. Mit diesem Buch wurde ein Leitfaden für heilpädagogische und pädagogische Fachkräfte und auch für Eltern konzipiert. Sie finden Hilfe oder Unterstützung beim Umgang mit herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen aus dem Autismus-Spektrum. Bemerkenswert an der positiven Verhaltensunterstützung ist, dass sie breit angelegt ist, was sich auf drei Handlungsebenen niederschlägt: die institutionsbezogene Ebene, die gruppenbezogene Ebene und die individuumbezogene Ebene (Einzelhilfe), was deutlich macht, dass immer mehrere Faktoren und Akteure das Verhalten beeinflussen und vor allem, dass die Verantwortung für eine Verhaltensveränderung auf mehrere Ebenen angesiedelt ist und sie nicht – wie es leider nicht selten geschieht – nur bei der auffällig gewordenen Person abgeladen wird. Bei der PVU geht nicht um den bloßen Abbau herausfordernder Verhaltensweisen bzw. der Herstellung einer reibungslosen Anpassung, sondern um die Schaffung von Situationen, in denen ein Kind, Jugendlicher oder Erwachsener seinen Lebensstil entwickeln kann und seine Persönlichkeit entfalten, sich positiv einbringen sowie soziale Bestätigung und Wertschätzung erfahren kann.

Autor

Dr. päd. Georg Theunissen, Jg 1951, ist Professor für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus am Institut für Rehabilitationspädagogik der Philosophischen Fakultät III Erziehungswissenschaften an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Er ist der erste Professor für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum. Acht Jahre war er als pädagogischer Leitung einer großen Behinderteneinrichtung tätig und fünf Jahre Professor für Heilpädagogik an der Kath. Fachhochschule Freiburg.

Georg Theunissen ist Vertreter des Empowerment-Konzepts, das er für die Behindertenarbeit aufbereitet und bekannt gemacht hat. Er forscht seit über 35 Jahren auf dem Gebiet der Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit Lernschwierigkeiten (geistiger Behinderung) und/oder Autismus. Die Positive Verhaltensunterstützung (PVU) hat einen wichtigen Stellenwert, sie gilt als ein nachweislich wirksames Konzept zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten, herausfordernden Verhaltensweisen oder Problemverhalten bei kognitiv beeinträchtigten und autistischen Menschen.

Entstehungshintergrund

Im Jahr 2014 gab Theunissen im Lebenshilfe-Verlag ein Buch im Umfang von 149 Seiten mit dem Titel „Positive Verhaltensunterstützung, eine Arbeitshilfe für den pädagogischen Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten, geistiger Behinderung und autistischen Störungen“ heraus. Die damals vorgelegte Arbeitshilfe bezog sich nur auf die dritte Ebene der pädagogischen Einzelfallhilfe. Dazu liegt ebenfalls eine Rezension vor: www.socialnet.de/rezensionen/16786.php.

Das hier vorgelegte Buch nimmt ausschließlich Menschen aus dem Autismus Spektrum in den Fokus. Es wird von autismus Deutschland e.V. herausgegeben.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist im Softcoverformat erschienen und hat einen Umfang von 292 Seiten. Es enthält fünf Kapitel und zahlreiche Unterkapitel. Zur besseren Orientierung findet man am Schnitt des Buches blaue Markierungen, jedes Kapitel setzt sich vom vorherigen mit einer blauen Trennseite ab. Am linken Seitenrand ist die Kapitelüberschrift abgedruckt, am rechten Seitenrand die jeweilige Überschrift des behandelten Abschnittes, auch das unterstützt die Orientierung. Zahlreiche Abbildungen komplementieren die Ausführungen, leider sind manche im Layout so klein oder farblich ungünstig gewählt, dass man die Inhalte kaum lesen kann. Als besonderen Service bietet der Lambertus Verlag die Möglichkeit, das Buch kostenlos auf PC oder Tablett/Smartphone herunterzuladen.

  • Autismus
  • Herausforderndes Verhalten
  • Positive Verhaltensunterstützung
  • Beispiele aus der Praxis
  • Tipps für Eltern und Familie
  • Anhang
  • Literatur
  • Sachwortverzeichnis

Im ersten Kapitel Autismus werden drei Psychiater*innen vorgestellt werden. Den Anfang macht Grunja Evimovna Ssucharewa (1891-1981), es folgen Hans Asperger (1906 – 1980) und Leo Kanner (1896 – 1981). An diese Vorstellung schließt sich die Klassifizierung von Autismus aus klinischer Sicht (DSM-5) an. Neben Erkenntnisse und Annahmen aus der Autismusforschung folgen die Beschreibung von Autismus aus der Betroffenensicht mit dem Fokus auf autistische Fähigkeiten, Autismus und Intelligenz, Autismus als primäre Behinderung und Autismus unter Aspekten der Sozialisation und des Lebenslaufs.

Das zweite Kapitel mit dem Titel Herausforderndes Verhalten nimmt eine Abgrenzung zu psychischen Störungen vor. Es beschreibt Erscheinungsformen und Definition von herausforderndem Verhalten im Allgemeinen und herausforderndes Verhalten bei Autismus. Die funktionale Betrachtung spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle. Theunissen weiß, dass traditionelle Ansätze wie z.B. die häufig eingesetzte Verhaltensmodifikation zu kurz greifen, weil sie nicht darauf angelegt sind, das Problemverhalten und seine Hintergründe zu verstehen, Erklärungsansätze sind nicht selten sehr eng gestrickt und laufen oft darauf hinaus, mit Strafen zu disziplinieren bzw. negative Konsequenzen anzuwenden. Zur Betrachtung gehören auch die Themen Vulnerabilität, Stress und die Bewältigung von Stress. Das Kapitel schließt mit Ausführungen zur Häufigkeiten von herausfordernden Verhaltensweisen.

Die Positive Verhaltensunterstützung (PVU), eine Methode, die Georg Theunissen repräsentiert, ist Gegenstand des dritten Kapitels, das mit der Entstehungsgeschichte beginnt, die Leitidee und Positionsbestimmung darstellt und die handlungsbestimmenden Prinzipien und Bezugswerte bespricht. Der Begriff der Positiven Verhaltensunterstützung stammt aus den USA der 1980er Jahre und ist die Übersetzung der Bezeichnung „Positive Behavior Support (PBS)“. Zeitgleich entwickelte Theunissen in Deutschland einen stärkenorientierten, lebensweltbezogenen Ansatz zum pädagogischen Umgang, der dem Amerikanischen ähnelt. Kennzeichen beider Ansätze ist das breit angelegte ganzheitliche Programm, welches sich in drei Handlungsebenen/-stufen niederschlägt: die institutions- und alltagsbezogene Ebene, die gruppenbezogene Ebene und die individuumbezogene Ebene (S. 136ff), die in unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz kommen kann. Die positive Verhaltensunterstützung ist offen, d.h. bezieht aktuelle Entwicklungen und Diskussion wie neurobiologische Befunde mit ein. Im Buch werden verschiedene Kontexte betrachtet: die PVU im Zusammenhang mit der Schule und dabei auch in Bezug auf Klassen und Gruppen, PVU in Zusammenhang mit der Alltagsarbeit in Wohngruppen und in Bezug zum Einzelwohnen sowie in der Einzelhilfe. Für jeden dieser Kontexte werden die Grundzüge der ersten Präventions- und Interventionsstufe benannt. Präventiv wirksam sind auch die medizinische Vorsorge und Unterstützung. Das dritte Kapitel enthält Forschungsbefunde und zentrale Erkenntnisse.

Theunissen berichtet aus den USA, wie das Konzept der PVU dort umgesetzt wird. Hervorgehoben werden zwei Ansatzpunkte (Bausteine I und II), die zu einem Gesamtkonzept gehören. Zur Bausteingruppe I gehören zentrale sechs Bereiche der Alltagsarbeit, zur Bausteingruppe II sieben spezielle Themen für die Konzeption. Didaktisch-methodisch werden sieben Methoden (von A-G) unterschieden wie z.B. Lernmethoden und Phasenmodelle, verhaltenssaufbauende und -stabilisierende Methoden sowie präventive Methoden. Besonders betrachten möchte ich an dieser Stelle die verstehende Diagnostik als Form des funktionalen Assessments. Dieses wird in ein indirektes und direktes Assessment gegliedert. Im direkten Assessment geht es um die konkrete Problemsituation, die nach dem Schema SABC beleuchtet wird, daran schließt sich die funktionale Problembetrachtung an, aus der Arbeitshypothesen und Ziele abgleitet werden. Zu den fünf vorgestellten Unterstützungsmaßnahmen zählen 1.Veränderungen der Kontextfaktoren, 2.Erweiterung des Verhaltens- und Handlungsrepertoire und 3.Veränderung der Konsequenzen, die sich wiederum auf zwei Schwerpunkte fokussieren: a) die positive Verstärkung des erwünschten Verhaltens und b) die Beeinflussung des herausfordernden Verhaltens z.B. durch die Reaktionen wie das Ignorieren des Problemverhaltens oder Notfallinterventionen. 4. Persönliche und lebensstilbezogene Konsequenzen sowie 5. Maßnahmen in Bezug auf Krisen.

Das vierte Kapitel beinhaltet Beispiele aus der Praxis. In einem Beispiel geht es um Kevin in der Kindertagesstätte, im zweiten Beispiel geht es um Nick in der Grundschule.

Das Buch schließt mit Tipps für Eltern und Familien ab.

Diskussion

Das gleichnamige Buch aus dem Jahr 2014 hatte den Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten, geistiger Behinderung und autistischen Störungen im Fokus, das hier vorlegte Buch bezieht sich ausschließlich auf Menschen aus dem autistischen Spektrum.

Das Buch beginnt schon sehr interessant mit einem fachhistorischen Einstieg, in dem der Autor drei Psychiater*innen vorgestellt, die das Phänomen zuerst beschrieben haben. Den Anfang macht Grunja Evimovna Ssucharewa (1891-1981), es folgen Hans Asperger (1906 – 1980) und Leo Kanner (1896 – 1981). Ssucharewa hat zur gleichen Zeit wie Asperger und Kanner gelebt und gearbeitet und beschrieb schon 1920 autistische Kinder und Jugendliche, dennoch sind ihre Ansätze in der Fachwelt bis heute kaum bekannt. So ergeht es mir auch z.B. mit Lew Vygotski, Alexej Leontjew oder der Alexander Lurjia aus der kulturhistorischen Schule oder aus der Neuropsychologie, was ich persönlich äußerst bedauerlich finde. Hier scheint der eiserne Vorhang bis in unsere Zeit fortzubestehen.

Schon in den 1920er Jahren, also vor Kanner und Asperger beschreibt Ssucharewa vier grundlegende Merkmale:

  1. Motorische Besonderheiten,
  2. Emotionale Besonderheiten,
  3. Intellektuelle Besonderheiten und
  4. eine autistische Grundhaltung (S. 15-19).

Die motorischen Besonderheiten sieht sie als die frühsten Symptome, der von ihr erfassten Betroffenen. Aus ihrer Sicht sollten sie eine starke Beachtung haben, hier deckt sich ihre Forderung mit denen von ASAN, die Autistic Self Advocacy Network, das Selbstvertretungsnetzwerk autistischer Menschen in den USA, das sich 2006 gegründet hat. Auch sind Grunja Evimovna Ssucharewa Erkenntnisse zum zweiten Merkmal der emotionalen Besonderheiten sehr modern, denn sie beschreibt eine leichte Verwundbarkeit (Vulnerabilität), die heute durch neurowissenschaftliche Theorien gestützt wird und auch ihr 4. Merkmal ist bemerkenswert modern, denn sie favorisiert die Strukturanalyse und damit einen Weg für eine funktionale Problemsicht. Diese trägt zum Verstehen von Autismus und dem Verhalten von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, bei.

Diese verstehende Sicht findet auch im Ansatz von Georg Theunissen sowie in meinen beruflichen Erfahrung aus 35 Jahren in der Begleitung von Menschen mit sog. herausfordernden Verhaltensweisen (www.abc-autismus.de) Entsprechung. Um zu Verstehen stützt man sich vorrangig auf Erlebensweisen, Vorstellungen und Aussagen (jedes Verhalten ist Kommunikation) der Fokusperson. Ergänzendes Anliegen von Theunissen ist, die Auffassungen von Betroffenen mit aktuellen, vor allem neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, Theorien und Hypothesen über Autismus abzugleichen und dadurch zu einem tragfähigen Verständnis über Autismus zu gelangen. Das Erreichen einer größtmöglichen Lebensqualität durch ein Leben unter den Bedingungen von Autismus ist handlungsleitendes Ziel.

Die Positive Verhaltensunterstützung streicht heraus, wie wichtig es ist, Menschen auf Grundlage einer Haltung von Wohlwollen und Akzeptanz zu begleiten. Bei manchen üblichen Verfahren der Verhaltensmodifikation wird anders als bei der Positiven Verhaltensunterstützung die Chance verpasst, zum Erwerb neuer oder alternativer Verhaltensweisen zu befähigen. Nicht selten wird der Fokus allein auf die Person gerichtet, die das Verhalten zeigt, mit der Folge, dass das Problem individualisiert und isoliert wird. Ich habe es selber oft erlebt: Mit dieser Reaktion wird eine Fülle von Ansatzpunkten verschenkt.

Zudem stellt Theunissen fest, dass der Einsatz von aversiven (bestrafenden) oder restriktiven Interventionen noch gängiges Mittel ist, obwohl schon lange bekannt (und wissenschaftlich belegt ist – siehe S. 135ff), dass das Bestrafen von Verhaltensweisen langfristig nicht zu dem gewünschten Erfolg führt, denn statt auf alternative Verhaltensweisen zu fokussieren, wird die Energie aller auf das unerwünschte Verhalten gerichtet. Bei Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Entwicklungsstörungen wie Autismus sind Strafen sinnlos, weil oft der Zusammenhang zwischen dem Auslöser und der darauffolgenden Konsequenz nicht verstanden wurde.

Der Einsatz von restriktiven und aversiven Interventionen legt Zeugnis über die Hilflosigkeit des Umfeldes ab, trägt aber nicht zu Veränderungen im Sinne einer positiven Verhaltensunterstützung bei. Leider gibt es immer noch Personen, die meinen, aversive oder restriktive Interventionen als regulierende Mittel einzusetzen. Es bedarf der Aufklärung, dass diese bestrafenden Interventionen in Sackgassen führen und die Person beschämen. Sie machen einzig deutlich, dass das Umfeld an Grenzen gekommen ist. Leider wird wertvolle Zeit verschwendet, in dem in der Dynamik oftmals viel zu lange abgewartet wird. Das hat zur Folge, dass wenig Spielräume bleiben, sodass dann oft nur noch re-agiert wird statt pro-aktive Strategien zum Einsatz zu bringen, die die Handlungsfähigkeit erhalten.

Es ist keine seltene Erfahrung, sich bei der Begegnung mit herausforderndem Verhalten in einer ausweglosen Situation zu wähnen, weil in dem Moment überlegte Handlungsoptionen fehlen. Dieses Buch ist deshalb so wertvoll, weil es zeigt, dass es eine Fülle von Optionen gibt, wenn man Wege kennt, sie zu erarbeiten und sich diesen Möglichkeiten öffnet. Das konkrete Vorgehen wird ab Seite 136 beschrieben.

Die Leserschaft findet einen gut gegliederten Text vor, der zentrale Handlungsschritte beschreibt, die praxistauglich sind. Es ist zu hoffen, dass diese Form der Darstellung dazu beiträgt, nicht nur in Krisengeprächen auf der Metaebene über Probleme zu reden oder im Alltag nach langem Zuwarten nach schnellen vermeintlichen Lösungen zu greifen, sondern ins Handeln kommt, mit Strategien, die nachhaltig sind.

Bemerkenswert an der Positiven Verhaltensunterstützung ist, dass sie breit angelegt ist und sich auf drei Handlungsebenen niederschlägt: die institutionsbezogene Ebene, die gruppenbezogene Ebene und die personenbezogene Ebene. Sie macht deutlich, dass immer mehrere Faktoren und Akteure das Verhalten beeinflussen. Diese Haltung unterstreicht, dass die Verantwortung für eine Verhaltensveränderung auf mehrere Ebenen angesiedelt wird und sie nicht – wie es leider nicht selten geschieht – nur bei der auffällig gewordenen Person abgeladen wird. Bei der PVU geht es nicht um den bloßen Abbau herausfordernder Verhaltensweisen bzw. der Herstellung einer reibungslosen Anpassung, sondern um die Schaffung von Situationen in denen ein Kind, Jugendlicher oder Erwachsener seinen Lebensstil entwickeln und seine Persönlichkeit entfalten kann, sich positiv einbringen sowie soziale Bestätigung und Wertschätzung erfahren kann.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei Georg Theunissen bedanken, denn ich finde meinen Arbeitsansatz und Erfahrungen in seinen Büchern wieder. Er beschreibt das, was ich in den fast 35 Jahren, in denen ich mit Menschen arbeite, die „herausfordern“, erfahren durfte und gelernt habe. Es sind viele Bausteine, die zusammengesetzt werden, um zu verstehen und erfolgreiche Verhaltensänderungen herbeizuführen, wenn diese nachhaltig sein sollen. Das Wissen darum findet sich in folgenden sechs Grundannahmen wieder, die Theunissen in seinem Buch aus dem Jahr 2014 beschreibt: Herausfordernde Verhaltensweisen sind erlernt, kontextbezogen, dienen einem persönlichen Zweck, was bedeutet, dass sie für das Individuum Sinn machen. Effektive Programme sind ganzheitlich angelegt, basieren auf einer funktionalen Betrachtung von herausfordernden Verhaltensweisen und verlangen eine gute Zusammenarbeit. Leider sind diese Grundannahmen noch nicht durchgängig bekannt. In meiner Beratungspraxis erfahre ich immer wieder davon, dass es ein gängiges Vorgehen ist, Fokuspersonen vom Schul- bzw. Institutionsbesuch zu befreien und nach Hause zu schicken bzw. diese ganz auszuschließen und als unzumutbar zu etikettieren. Damit entledigt sich die Institution der Verantwortung, individualisiert das Problem zu Lasten des Betroffenen und seines Umfeldes und verschließt sich einer konstruktiven Zusammenarbeit. Hier sind dringend ein Umlernen und eine Umsteuerung erforderlich!

Unterstreichen möchte ich den Stellenwert der „persönlichkeits- und lebensstilunterstützenden Maßnahmen“, denn sie beinhalten, dass neben den bisher vorgestellten profizentrierten Maßnahmen auch die Person mit ihren Bedürfnissen und Interessen, ihrer Perspektive, ihrem Lebensstil und Lebensentwurf von zentraler Bedeutung ist. Drei Leitfragen weisen den Weg:

  1. Wie kann ein Mensch in seiner Persönlichkeitsentwicklung und Lebensverwirklichung unterstützt werden, sodass auch Faktoren der Salutogenese wie Vertrauen in eigene Stärken oder Lebenszuversicht zur Förderung psychischer Gesundheit zum Tragen kommen?
  2. Welche Bedingungen können verändert werden, sodass die Person ihren Lebensstil verwirklichen kann?
  3. Welche Bedingungen geben Halt/Unterstützung und fördern die Entwicklung und den Lebensstil?

Diese Fragen machen dem Umfeld nochmals eindrücklich klar, dass es hier nicht um Lösungen geht, die vom Umfeld als sinnvoll angesehen werden, sondern darum, die Person als Experten in eigener Sache anzuerkennen. Meine Erfahrung ist, dass manche Lösungswege aus der Außensicht betrachtet ungeeignet, unscheinbar oder unattraktiv erscheinen und sich dann im Prozess der positiven Verhaltensunterstützung als wirksam und erfolgreich entpuppten.

Fazit

Es wird davon ausgegangen, dass der Anteil an Menschen aus dem Autismus Spektrum an der Gesamtbevölkerung bei etwa 1 Prozent liegt, das wären in Deutschland ungefähr 800.000 Menschen. Mit diesem Buch wurde ein Leitfaden für heilpädagogische und pädagogische Fachkräfte und auch für Eltern konzipiert. Sie finden Hilfe oder Unterstützung beim Umgang mit herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen aus dem Autismus-Spektrum. Bemerkenswert an der positiven Verhaltensunterstützung ist, dass sie breit angelegt ist, was sich auf drei Handlungsebenen niederschlägt: die institutionsbezogene Ebene, die gruppenbezogene Ebene und die individuumbezogene Ebene (Einzelhilfe), was deutlich macht, dass immer mehrere Faktoren und Akteure das Verhalten beeinflussen und vor allem, dass die Verantwortung für eine Verhaltensveränderung auf mehrere Ebenen angesiedelt ist und sie nicht – wie es leider nicht selten geschieht – nur bei der auffällig gewordenen Person abgeladen wird. Bei der PVU geht nicht um den bloßen Abbau herausfordernder Verhaltensweisen bzw. der Herstellung einer reibungslosen Anpassung, sondern um die Schaffung von Situationen, in denen ein Kind, Jugendlicher oder Erwachsener seinen Lebensstil entwickeln kann und seine Persönlichkeit entfalten, sich positiv einbringen sowie soziale Bestätigung und Wertschätzung erfahren kann. Die positive Verhaltensunterstützung bemisst ihren Erfolg an einer hohen Lebenszufriedenheit der unterstützten Person und an der Erlangung von mehr Autonomie und Lebensqualität.

In den vergangenen 50 Jahren hat sich im Umgang mit Menschen mit Behinderungserfahrungen viel entwickelt. Auf diesem Hintergrund ist es angezeigt, dass Methoden aus der Vergangenheit zurückgelassen werden. Ich schließe mich Maria Kaminski, der Vorsitzenden von autismus Deutschland in ihrer Forderung nach einem Paradigmenwechsel an und ergänze: es ist höchste Zeit, dass dieser endlich praktisch flächendeckend und nachhaltig umgesetzt wird! Die Verantwortung für eine Verhaltensveränderung geschieht auf mehreren Ebenen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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ISSN 2190-9245