Frank Dietrich (Hrsg.): Ethik der Migration
Rezensiert von Prof. Dr. Markus Babo, 17.10.2018
Frank Dietrich (Hrsg.): Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2017.
262 Seiten.
ISBN 978-3-518-29815-2.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR,
CH: 25,90 sFr.
Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 2215.
Thema
Die Themen Flucht und Migration wurden in der deutschen Forschungslandschaft seit jeher stiefmütterlich behandelt. Der bis heute vorhandene „Dementi-Konsens“ (Klaus J. Bade), dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, und der cordon sanitaire sicherer Drittstaaten haben offensichtlich mit dazu beigetragen, den Blick für diese Herausforderung zu versperren. Die Toten im Mittelmeer waren weit weg und wurden hierzulande jahrelang kaum zur Kenntnis genommen. Und Ungerechtigkeiten in Recht und Verwaltungspraxis verschwanden hinter der Komplexität des kaum mehr zu durchschauenden Asylrechts. Ethische Orientierung schien nicht nötig und so fand kaum entsprechende Reflexion statt. Dies sollte sich angesichts der sog. „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 rächen, als dieses Thema wieder einmal für politischen Populismus instrumentalisiert werden konnte.
Seither beschäftigt sich die Wissenschaft gewiss stärker mit den Themen Flucht und Migration; es bleibt aber Vieles ausbaufähig. Insbesondere im Bereich der praktischen Philosophie fehlt es an grundlegenden und für die Politik Orientierung gebenden Überlegungen. Dafür ist es sehr hilfreich, dass der Philosoph Frank Dietrich in der vorliegenden Anthologie einschlägige Beiträge der angloamerikanischen politischen Philosophie in deutscher Übersetzung zur Verfügung stellt. Darunter finden sich bekannte Texte von Michael Walzer, Peter Singer oder Joseph H. Carens aber auch im deutschen Sprachraum noch kaum bekannte Autoren, die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt werden.
Herausgeber
Prof. Dr. Frank Dietrich ist seit April 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Aufbau und Inhalt
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Nach einem kurzen Forschungsüberblick über migrationsethische Aussagen von Klassikern der Philosophie findet sich als erster Beitrag ein Auszug aus dem Kapitel „Mitgliedschaft und Zugehörigkeit“ in Michael Walzers Buch „Sphären der Gerechtigkeit“. Darin rekonstruiert der Sozialphilosoph aus Princeton gleichsam die Praxis souveräner Staaten, die Mitgliedschaft nach Art eines Clubs exklusiv nach selbst festgelegten Kriterien zu ermöglichen bzw. zu verweigern. Dabei spiele das Verwandtschaftsprinzip, d.h. die Berücksichtigung Nahestehender durchaus eine Rolle. Selbst wenn Walzer damit scheinbar kaum über den völkerrechtlichen Mindeststandard hinauszukommen scheint, ergeben sich nicht nur bei einer weiteren, nicht nationalen bzw. ethnischen Interpretation des Verwandtschaftsprinzips weitergehendere Verpflichtungen als sie die Staaten(gemeinschaft) bislang zu übernehmen bereit ist. Die denkbar weiteste Perspektive liefert wohl die Katholische Soziallehre, die von der „Einheit der Menschheitsfamilie“ ausgeht, in der es universale Verpflichtungen insbesondere gegenüber den Schwächsten gibt. Dies rückt die Frage von Zuwanderung und Asyl schnell in den Kontext globaler Gerechtigkeit, was jedoch das Anliegen Walzers bei Weitem überschreiten würde.
Im nächsten Beitrag wendet sich der britische Philosoph Hillel Steiner gegen die derzeitige Politik geschlossener Grenzen. Aufbauend auf der libertaristischen Staats- und Eigentumstheorie gesteht er den Staaten nur dann ein Recht auf Beschränkung der Zuwanderung zu, wenn das Eigentum an dem Land rechtmäßig erworben worden sei und er von den Bürgern zu einer restriktiven Migrationspolitik autorisiert wurde; in diesem Fall komme ein unerlaubter Grenzübertritt einem Eigentumsdelikt gleich. Da aber bei vielen Staaten erhebliche Zweifel sowohl an der Legitimität der Aneignung oder Übertragung des Landes bestünden als auch an der vorhandenen Autorisierung zur einem restriktiven Grenzregime, sei die gegenwärtige Staatenpraxis letztlich illegitim.
Noch einen Schritt weiter geht der im deutschen Sprachraum hauptsächlich durch seine umstrittenen bioethischen Positionen bekannte australische Philosoph Peter Singer. Er wendet sich in dem hier abgedruckten Auszug aus seinem Standardwerk „Praktische Ethik“ streng gegen jedweden Parikularismus. In einer eindrucksvollen Metapher vergleicht er die Weltsituation mit der nach einem Atomkrieg: Während die Privilegierten (sc. die von Menschen der nördlichen Erdhalbkugel) in ihrem komfortablen Bunker beste Überlebenschancen bei äußerst luxuriöser Lebensqualität hätten, sähe es für die übrige Menschheit „draußen“ düster aus. Geringe Einschränkungen des Überflusses derer „drinnen“ könnte mehr Menschen retten. Vor diesem Hintergrund fordert er die Interessen Aller gleichermaßen zu berücksichtigen, was für die „drinnen“ eine klare Verpflichtung bedeutet, weitaus mehr Menschen Einlass zu gewähren als dies gegenwärtig geschieht.
Demgegenüber sieht der Oxforder Politikwissenschaftler David Miller nationale Identitäten als wichtige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Staaten. Aus diesen lasse sich dann auch die territoriale Selbstbestimmung und damit die Kontrolle von Grenzen begründen. Auch wenn es kein globales Menschenrecht auf Freizügigkeit gebe, werde die staatliche Souveränität durch konkurrierende Interessen von Geflüchteten beschränkt, solange deren Menschenrechte in ihren Heimatstaaten bedroht würden. Jedoch habe jeder Staat das Recht über das Maß der Hilfe selbst zu entscheiden.
Würde man diese Argumentation freilich konsequent zu Ende denken, würde die Zahl der „refugees in orbit“, für die sich kein Staat zuständig fühlen würde, eklatant zunehmen. Diese Situation sollte durch die Genfer Flüchtlingskonvention ja grundsätzlich vermieden werden; deshalb wird darin stellvertretend für den beim Schutz seiner Bürger versagenden Heimatstaat die Solidarität der Staatengemeinschaft eingefordert. Diese müsste freilich noch in entsprechenden Strukturen und Institutionen konkretisiert werden.
Diesem Thema widmet sich der kanadische Politikwissenschaftler Arash Abizadeh. Es sieht – im Gegensatz zur opinio communis (wie sie im vorliegenden Sammelband beispielsweise von David Miller vertreten wird) – keinerlei demokratietheoretische Rechtfertigungsmöglichkeit eines restriktiven Grenzregimes. Vielmehr müssten in einer Demokratie alle diejenigen, die von staatlichen Zwangsmaßnahmen betroffen seien, an der Autorisierung des Staates mitwirken können. Deren Partizipation sicherzustellen, sei Aufgabe kosmopolitischer Institutionen, die es (noch) zu schaffen gelte. Abizadeh verweist damit auf drei wichtige Probleme, sc. die Ohnmacht und weitgehende Rechtlosigkeit von Migranten, die Begründungsbedürftigkeit eines (restriktiven) staatlichen Grenzregimes und das weitgehende Fehlen globaler Schutzmechanismen und -institutionen.
In die entgegengesetzte Richtung argumentiert hingegen der US-Amerikanische Philosoph Christopher Heath Wellman. Er begründet ein explizites Recht jedes souveränen Staates auf Grenzöffnung bzw. -schließung aus der Assoziationsfreiheit und bemüht dazu wiederum die Clubanalogie. Die zweifellos bestehende moralische Verantwortung wohlhabender Staaten gegenüber Außenstehenden (z.B. extrem Armen oder Kriegsflüchtlingen) könne sich in jedweder Form der Hilfe äußern und berühre deshalb das Recht auf Grenzschließung nicht grundsätzlich. Staaten dürften jedoch aus Rücksicht gegenüber der eigenen Bevölkerung bei der Auswahl von Zuwanderern nicht diskriminierend (z.B. nach ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten) vorgehen, weil dies für die eigenen Bürger, die zu diesen diskriminierten Gruppen gehören, problematisch wäre. Wellmans Argumentation läuft natürlich jeder menschenrechtlichen Perspektive zuwider, durch die jedoch die staatliche Souveränität in der internationalen Ordnung deutlich eingeschränkt wird.
Die britische Philosophin Sarah Fine hinterfragt deshalb zu Recht in ihrem Beitrag „Assoziationsfreiheit ist nicht die Lösung“ die Thesen Wellmanns kritisch. Vereinigungen von Menschen dürften nämlich nicht ohne Weiteres die Interessen unbeteiligter Dritter verletzen, was aber bei der Schließung von Staatsgrenzen geschehe. Dies läuft damit wieder auf eine Abwägung der Interessen aller Beteiligten hinaus. Im Unterschied zu einer Ehe oder einer Glaubensgemeinschaft könne sich jedoch ein Staat nicht darauf berufen, dass nur eine Abschottung nach außen die Intimität der Beziehung bzw. die Integrität der Glaubenspraxis schützen könne. Außerdem sei zwischen Zuwanderung und Bürgerschaft zu differenzieren, denn allenfalls letzteres könne durch die Assoziationsfreiheit begründet werden. Auch ein Club könne zwar die Mitgliedschaft verweigern, aber nicht ohne Weiteres den Aufenthalt auf einem bestimmten Territorium verbieten.
Lässt sich also ein restriktives Grenzregime überhaupt begründen? Der durch einschlägige Publikationen zur Migrationsethik ausgewiesene kanadische Politikwissenschaftler Joseph Carens verneint diese Frage klar. Der signifikante Zusammenhang zwischen dem Geburtsort bzw. der Staatsbürgerschaft und den daraus resultierenden Lebensperspektiven begründe globale Ungerechtigkeiten, die durch die Abschottungspolitik der ohnehin privilegierten Staaten noch weiter verschärft werde. Aus einer liberalen Perspektive plädiert er dafür, dieselben Gründe, mit denen man binnenstaatliche Freizügigkeit anerkenne, auch für zwischenstaatliche Freizügigkeit geltend zu machen. Man möchte die Frage hinzufügen, mit welchem Recht man Menschen etwas verweigert, was für Waren beinahe selbstverständlich zu sein scheint.
Gleichwohl hätte globale Freizügigkeit durchaus ambivalente Folgen, da mit der Auswanderung gut ausgebildeter Menschen in den Herkunftsländern immer auch ein Verlust von „Humankapital“ einhergeht. Mit dem Thema „brain drain“ setzen sich die Neuseeländische Philosophin Gillian Brock sowie der in Seattle/USA lehrende Philosoph und Politikwissenschaftler Michael Blake auseinander. Brock sieht in der Auswanderung von Fachkräften nach einer guten Ausbildung ein Problem der Fairness gegenüber ihren eigenen Landsleuten, die ihnen diese Qualifikation ermöglicht haben und nunmehr davon profitieren möchten. Legitime Möglichkeiten einer Kompensation sieht sie beispielsweise in einer Ausreisegebühr oder einer befristeten Ausreisesperre. Blake anerkennt zwar das Problem des gerade für Entwicklungsländer oft katastrophalen „brain drain“, sieht aber in staatlichen Ausreiseverboten ein unzulässiges Mittel einer Einschränkung des ius emigrationis. Dieses entspreche grundlegenden Freiheitsinteressen des Menschen, der eben von keinem Staat vereinnahmt werden dürfe.
Fazit
Den Leser erwartet eine spannende Lektüre gut komponierter, in ihrer Argumentation aber sehr heterogener Texte. Genau dies war auch das selbsterklärte Ziel des Herausgebers, „einen ausgewogenen Überblick über die zentralen philosophischen Positionen [zu] vermitteln, die zur Einwanderung vertreten werden“ (19 f.). Gewiss, die Argumente sind keineswegs neu, aber sie fordern in ihrer Differenziertheit zu vertiefter Auseinandersetzung auf, wie sie beispielsweise im philosophischen Seminar möglich ist. Gewonnen hätte die Publikation sicherlich, wenn man auch Texte theologischer Ethik berücksichtigt hätte. Eine rationale Beschäftigung mit diesem wichtigen Thema im Bildungskontext ist längst überfällig – auch um des politischen Diskurses willen.
Rezension von
Prof. Dr. Markus Babo
Katholische Stiftungshochschule München
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Zitiervorschlag
Markus Babo. Rezension vom 17.10.2018 zu:
Frank Dietrich (Hrsg.): Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2017.
ISBN 978-3-518-29815-2.
Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 2215.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/23245.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.
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