Sabine Hark, Paula-Irene Villa: Unterscheiden und herrschen
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 24.10.2017

Sabine Hark, Paula-Irene Villa: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. transcript (Bielefeld) 2017. 173 Seiten. ISBN 978-3-8376-3653-6. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 25,30 sFr.
Thema
„Unterscheiden und herrschen“ ist ein Essay, mit dem sich die Geschlechterforscherinnen Sabine Hark und Paula-Irene Villa mit der Debatte befassen, wie sie nach den Ereignissen in der Silvester-Nacht 2016 in Köln aufgekommen ist. Noch bevor es konkrete Erkenntnisse gab, wurden Übergriffe und sexuelle Übergriffe migrantischen Personen und insbesondere solchen mit Fluchterfahrung zugeschrieben. Hark & Villa diskutieren in ihrem Band sexualisierte Gewalt und Sexismus, ebenso wie Rassismus. Sie wenden sich gegen gruppenspezifische Zuschreibungen, für die sie den Begriff „Versämtlichung“ prägen, in einem Sinne, dass Menschen zusammengefasst und gruppiert werden und von ihren jeweiligen individuellen Eigenschaften abgesehen wird.
Herausgeber_innen und Entstehungshintergrund
Sabine Hark (TU Berlin) und Paula-Irene Villa (LMU München) gehören zu den renommiertesten Wissenschaftler_innen, die derzeit an deutschen Universitäten tätig sind. Sie arbeiten im Kontext der sozialwissenschaftlichen Gender Studies.
Das vorliegende Buch entstand auf Anregung des Bielefelder Transcript-Verlags.
Aufbau und Inhalt
Der Essay ist in einzelne Kapitel untergliedert, in denen aus verschiedenen Richtungen das Themenfeld sexualisierte Gewalt in der Verschränkung mit Rassismus thematisiert wird. Das Inhaltsverzeichnis:
- Geleitworte (von Judith Butler und Christina Thürmer-Rohr)
- Diese ganze verrottete Gegenwart: Plädoyer für die Freundschaft zur Welt
- Die ‚Nacht, die alles verändert‘: Unterscheiden und herrschen
- Im Namen der Freiheit. Zieh dich aus! Veränderung als Körperpolitik
- Sind Alice Schwarzer und Birgit Kelle sich einig? Feminismus im Strudel von Kulturessentialismus und Rassismus
- Outsiders Within? Differenzen im Dialog
- Epliog: differences inside me lie down together – in Differenz denken
- Anmerkungen
- Literatur
Inhalt und Einordnung in den wissenschaftlichen Sachstand
Der vorliegende Band ist schon daher von Belang, weil er von Hark & Villa ist und die von ihnen vorgenommene Einordnung der Debatten um die Kölner Silvesternacht 2016 von Belang sind. Da „die Kölner Silvesternacht“ mittlerweile zum geflügelten Wort geworden ist und – anders als etwa „das Oktoberfest“ – gemeinhin begrifflich mit sexuellen Übergriffen assoziiert ist, soll auf genauere begriffliche Darstellungen an dieser Stelle verzichtet werden. Die Erläuterung des „Ereignisses ‚Köln‘“ nehmen Hark & Villa im ersten Kapitel des Buches vor. Sie beschreiben die mediale Darstellung der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht 2016 und erläutern die sich daraus entwickelnde gesellschaftliche Debatte.
Im zweiten Kapitel – Die ‚Nacht, die alles verändert‘: Unterscheiden und herrschen –, das auch namensgebend für das Buch ist, wenden sie sich der wissenschaftlichen Einordnung zu. Sie erläutern, wie die Thematisierungen eines vermeintlich zivilisierten „Wir“, das für die Deutschen der Mehrheitsgesellschaft steht, von den als muslimisch oder migrantisch zugeschriebenen „Anderen“ funktioniert und auf koloniale Traditionen zurückgeht. Sie zeigen dabei auf, wie im Kontext der Debatte um „die Kölner Silvesternacht“ rassistische Stereotype aufgerufen wurden und der weiße Mann – der Deutsche der Dominanzkultur – von Sexismus und potenziell verübter sexueller Gewalt entlastet wurde.
Das dritte Kapitel, in dem bereits im Titel die Aussage „Zieh dich aus“ augenfällig ist, vertieft die Auseinandersetzung mit den westlichen Zuschreibungen an „die Anderen“. So thematisieren Hark & Villa gerade Körperpolitiken und Diskurse, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden haben – und etwa in der Entkleidung der Frauen emanzipatorisches Potenzial gesehen wurde und wird. Die Debatten um das muslimische Kopftuch führen Hark & Villa an, zu ergänzen wäre etwa, dass der CDU-Politiker Jens Spahn forderte, dass migrantische Männer im Fitnessstudio nackt duschen sollten, alles andere eine Rückkehr zu Spießigkeit bedeute [1]. Nicht, dass dem schwulen Politiker Jens Spahn für eine solche Forderung Sexismus attestiert werden würde, kann er sich mit ihr sogar noch in einer vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit präsentieren. Nacktheit bzw. umfassende Sichtbarkeit von Körperoberfläche wird – gerade von Traditionalisten – als Kernstück deutscher Kultur und Emanzipation entwickelt und gegen „die Anderen“ gewendet.
Im vierten Kapitel wenden sich Hark & Villa mit dem Begriff „Toxischer Feminismus“ der Strategie Alice Schwarzers zu. Sich selbst als feministisch labelnd – einen Bezug zum Feminismus wollen Hark & Villa ihr nicht per se absprechen -, habe sie sich intensiv an den rassistischen Debatten beteiligt. Allerdings helfe es nicht weiter, Schwarzer einfach als rassistisch zu bezeichnen, vielmehr bedürfe es auch hier einer klaren Analyse. Für diese greifen Hark & Villa auf den Begriff und das Konzept des „Femonationalismus“ zurück, mit dem die Indienstnahme von eigentlich feministischen Forderungen für nationalistische und rassistische Projekte bezeichnet wird. In diesem Kapitel diskutieren die beiden Autorinnen auch, welche Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Alice Schwarzer und anderen Personen – wie Gabriele Kuby und Beatrix von Storch – bestehen.
In den beiden abschließenden Kapiteln eröffnen Hark & Villa ihre persönliche Involviertheit und wie überrascht sie von der Dynamik der Debatten im Jahr 2016 waren. Schließlich schlagen sie positive Perspektiven vor – also solche, die die Gesellschaft und die gesellschaftliche Reflexion voranbringen können. Dabei verweisen sie auch in größerem Maße auf die Arbeiten von Schwarzen Frauen und aus der Schwarzen Frauenbewegung, die hier hilfreiche Impulse liefern könnten: „Audre Lorde hat uns gezeigt, auf wie viele – auch intime – Weisen Rassismus und Sexismus, Homophobie und Klassenverhältnisse das Leben von Menschen beschädigen und Solidarität verhindern. Ihre Poesie, ihre Prosa und ihre Essays erzählen aber auch von dem unbändigen Begehren danach, sexistische und rassistische Gewalt zu überleben, und Zärtlichkeit und Erotik davon nicht zerstören zu lassen.“ (S. 122)
Diskussion und Fazit
Einem Essay angemessen, machen Sabine Hark und Paula-Irene Villa im vorliegenden Band ihre spezifischen Zugänge zum Thema transparent. Sie machen deutlich, welch problematischen Züge die seit 2016 geführte Debatte angenommen hat und diskutieren die damaligen und heutigen Interventionen, die sich zum Beispiel aus feministischer Perspektive gleichermaßen gegen Sexismus und Rassismus wenden. Sie verweisen darauf, dass es gerade darauf ankommen wird, Kolonialismus und Rassismus in Deutschland zu reflektieren und dass hierzu auch und gerade die Arbeiten aus einer Schwarzen Frauenbewegung mehr Aufmerksamkeit bekommen sollten.
Der Band bietet wichtige Anregungen sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch die gesellschaftliche Debatte.
Weitere Quellen
[1] Die Welt (30.06.2016): „Ein Verbot ist überfällig. Ich bin burkaphob“. CDU-Politiker Jens Spahn fordert eine kompromisslosere Haltung zu Flüchtlingen. Ansonsten drohe kultureller Wandel. Online: www.welt.de/politik/deutschland/ (Zugriff: 14.10.2017).
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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